Politik / Aktualität

12. 


07.03.2023

Konsistenz im Krieg


Konsistente Auffassungen zu haben, heisst, wenn A und B einander widersprechen, zu A „ja“ zu sagen, zu B aber „nein“ (oder umgekehrt). Die Auffassung vom Krieg, der mit dem Überfall vom 24.02.2022 begann, widerspricht der Auffassung vom Konflikt, der sich über 30 Jahre aufgeschaukelt hat: A oder B. Und entsprechend sind Politik und Öffentlichkeit gespalten zwischen diesen beiden Sichtweisen. Dabei ist die Realität gemischt: Konflikt und Krieg sind ineinander verschränkt. A⚭B. Es ist ein Konfliktkrieg oder Kriegskonflikt.

Ähnlich auf Ebene der internationalen Ordnung: Die Konzepte der regelbasierten Ordnung (Völkerrecht, Liberalismus) einerseits, der Macht- oder Balanceordnung (Realismus, Verhältnisse à la Wiener Kongress) andererseits stehen zueinander im unvereinbaren Widerspruch. In der Realität bildet beides aber eine seltsame Doppelstruktur: Sowohl Rechts- wie Kräftebeziehungen bestimmen die internationalen Verhältnisse, und die internationale Politik ist meist ein Lavieren zwischen beiden. Wieder gilt, auch wenn die politische Rhetorik („Ich komme aus dem Völkerrecht“ vs. „Russlands Interessensphären anerkennen“) das ausblendet: A ist verschränkt mit B. A⚭B. Wir leben in einer Regel-Macht-Ordnung. Der Trend zur Regelordnung muss dabei weiter befördert werden (die globale Natur unserer Probleme fordert das), andererseits kann man sie nicht erzwingen.

Wer konsistent ist, sagt „entweder A oder B“ – er folgt dem Satz vom Widerspruch. Wer hingegen sagt „A verschränkt mit B“ (oder gar „A und B zugleich“), der ist nicht konsistent. Aber man sollte doch wohl, gerade im Krieg, konsistent sein?

Eine ähnliche Situation hatten wir während Covid. Die einen sahen Corona als eine regelrechte Seuche (wie die Pest), die anderen als eine mehr oder weniger tolerierbare Saison-Erkrankung (wie die Grippe). A und B sind unvereinbar miteinander – allein schon, weil sie zu völlig unterschiedlichen praktischen und politischen Konsequenzen führen. In der Realität war – oder ist – Covid am ehesten etwas dazwischen: Es hat Elemente von Seuche und solche von Infekt. A⚭B. Und diese Verschränkung des Widerprüchlichen hat es uns so schwer gemacht, adäquat mit der Pandemie umzugehen. Weil die einen sie partout nur als A, die anderen sie nur als B sehen wollen.

Wir haben Schwierigkeiten, Verschränkungen und „Zwischenheiten“ zu denken. Und zwar, weil wir konsistent denken wollen. Müssen wir also, um derartigen Mischphänomenen gerecht zu werden, dann inkonsistent denken? Das wäre erst recht fatal, denn dann würden wir unschlüssige Gedankengänge nicht mehr von schlüssigen unterscheiden können.

Der Ausweg ist ein anderer. Sein technischer Name lautet „Parakonsistenz“ (der Satz vom Widerspruch wird relativiert), aber in der Praxis kann man einfach sagen: hybrides Denken. Die Realität ist hybrid. In ihr gibt es weder reine Regel- noch reine Machtverhältnisse. Es gibt keinen Krieg ohne Konflikt-Vorgeschichte, aber auch keinen Konflikt, der den kriegerischen Aggressor entschuldigt.

Kriegskonflikte, Regel-Macht-Ordnungen, Seuchen-Infekte – das sind die Compound-Materialien, die Sandwich-Baustoffe, aus denen die Wirklichkeit besteht. Die Herausforderung ist, für sie eine politische Sprache zu finden.︎︎︎





11. 


26.02.2023

Der Diskurs der Linken


(Zum Interview mit Philosoph und Aktivist Raúl Sánchez Cedillo. Hier ein weiteres.)

Ich bin definitiv kein Linker (sondern am ehesten sozial-liberal), aber die Linken sind derzeit die einzigen, die mich zum Denken bringen, und hinter deren Diskurs, den ich einerseits für falsch halte (nicht der "Kapitalismus" ist schuld an der Misere, nicht die USA sind der eigentliche Täter), gelegentlich sogar etwas wie eine Hoffnung zu erahnen ist, eine Durchsicht auf eine mögliche Zukunft.

"Wir müssen die drei Krisen verstehen, die in der Ukraine ineinandergreifen. Es gibt einerseits eine Krise im Weltsystem um die Hegemonie zwischen China, den USA und einer gewissen Multipolarität. Dann gibt es einen innerimperialistischen Konflikt zwischen Russland und den westlichen Mächten, der eine Geschichte, aber auch eine Gegenwart aus oligarchischen Kämpfen um globale Märkte hat. Und natürlich einen Nationalstaat, der sich gegen eine Invasion wehrt."

Wie gesagt, vieles, was er sagt, ist in meinen Augen falsch. Aber diese drei Konstellationen (nicht unbedingt mit Akzent auf den Märkten), von denen in den herkömmlichen Argumentationen immer nur nach Wahl eine einzige herausgepickt und absolut gesetzt wird, müssen in der Tat zusammengedacht werden. Es gibt hinter diesem Krieg eine globale Konfliktkonstellation, eine des post cold war, und eine der Dekolonisierung bzw. des gewaltsamen russischen Versuchs ihrer Verhinderung – so würde ich sie jeweils nennen. Und man kommt zu nichts, wenn man sie isoliert angeht. Sie hängen untrennbar miteinander zusammen. "Wenn man sich nur auf die völkerrechtswidrige Invasion in der Ukraine beruft, landet man bei reiner Moral."

"Es gibt keine klar abgrenzbaren nationalen Kriege und Befreiungskonflikte mehr. Immer sind darin Imperien, militärische Systeme und Bündnisse involviert, die diese Konflikte benutzen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Man kann das nicht mehr voneinander trennen." – Auch dagegen gibt es wenig einzuwenden, ausser vielleicht den spezifischen Gebrauch von "Imperien", der unterschwellig auf die USA gemünzt ist. Man hört Antonio Negri durch.

"Die Idee, man könne die reaktionäre Elite in Russland durch einen chirurgischen Krieg loswerden, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Das alles bedient nur das historische Opfer-Narrativ in Russland, das auf die Tatsache mehrerer Invasionen zurückgreifen kann. Dagegen gab es immer eine große Opferbereitschaft in Russland. Wir müssen die Hegemonie des Nationalismus in Russland als Tatsache zur Kenntnis nehmen." – Auch das stimmt, bedauernswerter Weise. Wobei Sánchez Cedillo offenbar wenig Einblick in die innere Verfasstheit Russlands und des Apparats Putin hat. Denn natürlich wird dieser Nationalismus zur Zeit gerade propagandistisch hochgezüchtet, um die diktatorische Macht zu legitimieren: Er ist nicht nur historisch, sondern auch strategisch begründet.

Ja, die Linken sind borniert in ihrer anitkapitalistischen Ideologie. Aber man kann sie nicht einfach mit dem Vorwurf des "Antiamerikanismus" abservieren (wie ich selbst das noch vor ein paar Jahren gemacht hätte). Was soll das überhaupt sein – Antiamerikanismus? Ein rein polemischer Begriff, genauso wie "Russophobie". Man muss das schon genauer sezieren. Und dann sieht man, dass ausgerechnet die Linken, durch ihre – zweifelhafte – Matrix aus Klassen, Macht und Kapital, Denkmittel besitzen, die quer durch die national- und regionalpolitischen Strukturen hindurchschneiden, in denen wir normalerweise diesen Krieg denken.

In diesem Queren, Transversalen (und nicht im Antikapitalismus oder Anti-US-Imperialismus) liegt das, was das linke Denken zum Versprechen werden lässt. Die Matrix müsste, meiner Vorstellung nach, auf anderen Kategorien beruhen, ohne dass ich konkret sagen könnte, auf welchen. Aber die Transversalität ist das einzige, was langfristig analytische Potenz und praktischen Leverage verspricht, um die globalen Dynamiken der Gewalt zu durchbrechen.

Da kommt natürlich eine Dimension der Utopie ins Spiel, oder der ins Zukünftige weisenden longue durée. Und was diesen konkreten Krieg betrifft, ist man dann doch wieder auf die Hausmittel angewiesen: kämpfen, bewaffnen, verhandeln. Und eben auch wieder auf die Utopie: auf die Hoffnung, dass das zu etwas führt, zu – schrecklich teuer erkauften – Friedensgelegenheiten. ︎︎︎





10. 


01.02.2023

Prognose


Man wird nach dem Krieg das gleiche Ergebnis haben, das man auch gehabt hätte, wenn man den Krieg vermieden hätte, nur 1000x schlechter. ︎︎︎





9. 


28.01.2023

Dritte Wege


Dieser Krieg kann nur durch das Militär und den DAAD gemeinsam zu einem tragfähigen Ende gebracht werden.

Einfach losverhandeln kann man nicht – wer sollte überhaupt mit wem verhandeln? Putin hat geglaubt, die Ukraine mit einer Razzia übernehmen zu können, wie er 2003 Yukos übernommen hat: hineinstürmen, die Schlüsselperson knebeln und abführen. Der Plan ist misslungen. Zu verhandeln haben Putin und Selensky nichts. Aber wer dann? Die Nato? Worüber? Über das Ausmass der Waffenlieferungen? Es lässt sich nicht einmal der Gegenstand, nicht einmal das Thema einer Verhandlung ausfindig machen.

Aber auch, ausschliesslich militärisch gegenzuhalten und zu schauen, was dann passiert, ist eine denkbar schlechte Idee. Entweder man ruft in Russland eine Revolution hervor (den Sturz Putins), mit unabsehbaren Folgen. Oder Putin bleibt, und der Krieg eskaliert. Oder Putin bleibt, und der Krieg geht jahrelang weiter. All das sind Katastrophen auf – unterschiedlich gestaffelte – Raten.

Wie soll das alles weitergehen? Es ist klar, dass die zivilisierten Kräfte, egal ob im Westen, in Russland oder sonstwo, verhindern müssen, dass diese Razzia doch noch Erfolg hat. Deshalb sind bewaffneter Widerstand und Waffenhilfe in diesem absoluten Ausnahmezustand richtig. Sie müssen aber durch Verhandlungen flankiert werden, damit der Krieg zu einem erträglichen Ende kommen kann. Der Preis dafür, auf den „Reifepunkt“ für Verhandlungen zu warten, ist zu hoch – es könnte keinen solchen geben.

Aber wieder: Wer soll verhandeln, und worüber? Es gibt keine Antworten auf diese Fragen. Sie laufen in eine bodenlose Leere, in ein Vakuum. Antworten, ja überhaupt Antwortmöglichkeiten müssen erst geschaffen werden. Es braucht einen regelrechten Prozess der Entwicklung, des R&D, ja der Erfindung, um überhaupt erst einmal Antwortmöglichkeiten auf diese Fragen in die Welt zu bringen.Die Regierungen können diesen Prozess nicht leisten. Sie sind entweder selbst Konfliktparteien oder sie sind dem Konflikt gegenüber indifferent. Die UNO ist blockiert. Die politischen Thinktanks sind politisch – sie beraten ihre jeweilige Seite. Gesucht ist eine unabhängige Instanz, die in der Lage ist, Verhandlungsgegenstände nicht zu identifizieren, sondern zu generieren: Eine Instanz, die dritte Wege erdenken kann, Wege, die die Quadratur des Kreises ermöglichen, die die Staatlichkeit und Souveränität der Ukraine sichern, ohne Russland in eine katastrophenträchtige Krise zu treiben.

Eine solche unabhängige Instanz gibt es bisher nicht. Aber es gibt ein Substrat, aus dem sie hervorgehen könnte.

Die kognitive Klasse aller beteiligten und nicht beteiligten Staaten – die Wissenschaft und die Kunst – verabscheut dieser Krieg. Auch diejenige in Russland, selbst wenn es Ausnahmen gibt und anderslautende Lippenbekenntnisse. Wenn die unabhängige, zu Entwicklung und Erfindung befähigte Instanz aus irgendetwas hervorgehen kann, dann aus dieser Klasse.

Es ist seltsam, dass unser Spezialistentum nicht auf neu entstehende Realitäten reagieren kann. Wir haben Spezialisten für Militärpolitik, Internationale Beziehungen, Diplomatie und vieles mehr, aber wir haben keine Spezialisten für diesen Krieg. Dabei ist der längst eine eigenständige Realität sui generis, der man kognitiv nur durch eine Integration aller bestehenden Spezialisierungen gerecht werden kann. Wir können diesen Krieg derzeit noch nicht einmal vollständig genug denken, um ihn zu einem erträglichen Ende zu bringen.

Dass wir nicht im Schnellverfahren Spezialisten für ihn ausbilden, ist in der Tat bizarr. Wenn wir es im individuellen Leben plötzlich mit einer neuen Problematik zu tun haben, setzen wir alles daran, in möglichst kurzer Zeit selbst zu Spezialisten für sie zu werden. Wir hoffen nicht darauf, sie mit den Mitteln zu bewältigen, über die wir bereits verfügen, oder wenn wir darauf hoffen, werden wir scheitern.

Was wir brauchen, ist etwas wie eine Schnelle Intellektuelle Eingreiftruppe. Nicht eine Meute von Intellektuellen, die zu allem ihre tagesaktuelle Meinung dazugeben, wie es jetzt allzuoft der Fall ist, sondern eine Truppe, die sich mit grösster Intensität und in kürzester Zeit, von den verschiedensten Voraussetzungen her kommend, für diesen konkreten Krieg und für seine ständig wechselnde Realität kompetent macht, diese Kompetenz stetig auf den neuesten Stand bringt und ausgehend von ihr Konzepte entwickelt und nach aussen hin formuliert, die Anknüpfungspunkte für die politische Praxis bieten. Und diese Truppe muss aus Vertretern aller am Konflikt beteiligter Parteien bestehen.

Dies wäre keine Mediationsgruppe. Es geht nicht darum, dass ihre Mitglieder miteinander verhandeln oder versuchen, den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu identifizieren, den es derzeit sowieso nicht gibt. Es wäre eine Gruppe, die viel weniger tut, damit aber einen grösseren Wert produziert: Sie analysiert den Konflikt „von aussen“, ähnlich wie es eigentlich die Rolle der UNO wäre, aber dieses Aussen ist kein politisches, sondern ein kognitives, intellektuelles, es ist das Aussen der Zivilisiertheit oder des unbedingten Strebens nach ihm.

Diese Truppe könnte man sich vorstellen als ein „Cognitive Response Cluster“. Denn es geht um das Kognitive: darum, Denkweisen, Konzepte zu entwickeln, die zu Verhandlungsgegenständen werden können. Es ist eine Response: eine Antwort auf die neue Realität, die fürchterlicherweise vor fast einem Jahr ihre Existenz begonnen hat. Und es ist ein Cluster, weil es erstens aus Vertretern der zivilen, kognitiven Klasse aller Konfliktparteien besteht, und weil es zweitens zusammengesetzt ist aus sehr unterschiedlichen Vertretern: aus Wissenschaftlern derjenigen Disziplinen, die für den Konflikt relevant sind, aus Wissenschaftlern gänzlich anderer Disziplinen, die unorthodoxe Denkmethoden beisteuern können, und aus Personen, die überhaupt keine Spezialisten für irgendetwas sind, sondern sich vom ersten Tag der Arbeit des Clusters selbst für diese Aufgabe neu qualifizieren, und insofern ohne vorgefasste Meinungen und Konzepte an diese Aufgabe herangehen.

Ein derartiges Cognitive Response Cluster oder „CRC“ könnte nicht von den Regierungen getragen werden – es wäre dann nichts als ein Meta-Thinktank, der an seinen inneren politischen Konflikten zerbrechen würde. Die Trägerschaft müsste von der Wissenschaft selbst ausgehen (bzw. von der kognitiven Klassen, zu der auch Vertreter von Kunst, Journalismus etc. gehören). Der DAAD wäre eine der bestehenden Institutionen, die in diese Richtung tätig werden könnten, ausserdem Wissenschafts-Akademien, auch diejenigen der Konfliktparteien. Vor allem aber müsste die UNO, die in politischer Weise so machtlos geworden ist, ihr Science Department (derzeit beim Economic and Social Council angesiedelt) rapide und massiv ausbauen. Nicht nur, damit zur Bewältigung dieses konkreten Kriegs eine übernationale kognitive Plattform geschaffen wird, sondern auch in Hinblick auf andere existierende und unweigerliche kommende neue Konflikte hin.

Wo die Internationalisierung des Politischen immer wieder scheitert, kann die Internationalisierung der Kognition dennoch gelingen. Die Klimaplattformen der UN könnten für derartige kognitive Konflikt-Response-Cluster wenn nicht ein Vorbild, so doch ein Beispiel sein, von dem aus man weiterdenken kann. ︎︎︎