Splitter

antipublik


03.09.
Wenn ich das hier alles eh schon auf einem online-notepad schreibe, dann könnte ich es natürlich im Prinzip auch für Leser von aussen freischalten. Einerseits. Denn immerhin geht es hier ja auch um Dinge, die ich sowieso gelegentlich im Netz diskutiere oder die auf die eine oder andere Weise in Diskussionen mit einfliessen (z. B. die Entendenz).

Aber andererseits ist es eben auch etwas ganz anderes. Ich schreibe hier, um mir selbst Rechenschaft zu geben, was in meinem Kopf vor sich geht, um den Gedanken Struktur zu geben, um sie zu entwickeln, um mich selbst in ihnen besser zurechtzufinden. Ich schreibe für mich, nicht für andere.

Und dann sind diese Sachen hier nichts, was man beim Surfen durchs Netzen einfach mal so lesen könnte wie einen facebook- oder auch einem Blog-Post. Hier sollen ja Stränge entstehen, grossflächige Kontinuitäten, ein Gedanke wie der der Entendenzen wird mich lange beschäftigen, und es hätte keinen Sinn, Sachen zu posten, die dann nicht als in sich abgeschlossener Beitrag gelesen werden können.

Und schliesslich ist es mir auch, glaube ich, schlicht zu privat. Was mache ich denn hier? Das hier ist mein Versuch, mich denkend in der Welt zu orientieren, und zwar in Rückgriff auf Philosophie, verschiedene Wissenschaften, auch verschiedene Dinge aus der Kunst, der Literatur – ich habe immer dieses Bedürfnis gehabt, zu denken, oder durch denken zu verstehen. Immer geschrieben, immer gelesen, das zweite um Grössenordnungen mehr als das erste, und ich will nun einfach endlich eine Ordnung in all das bringen, und das auf den Prüfstand stellen, was meinen Kopf besiedelt. Auch, wenn diese Ordnung sich womöglich gar nicht aufrechterhalten lässt, wenn sie wieder zusammenbrechen sollte.

Vielleicht kann einmal etwas anderes daraus sich abspalten, abknospen sozusagen, ein Artikel vielleicht, zum einen oder anderen Thema, das muss man sehen, aber erstmal ist es nur ein Erkundungs-Raum, ein Raum für das Vorläufige, das Vorläufige für mich.

Und ausserdem: Dass es mir hier um Themen geht, die ich sonst auch öffentlich diskutiere, ist ja auch nicht unbedingt richtig. Ich schreibe hier ja auch, was ich eben nicht öffentlich sagen würde – nicht, weil ich dazu stehen würde, sondern weil es einfach nicht derart ist, dass die totale Öffentlichkeit über es (und seitdem es das Internet gibt, ist jede Öffentlichkeit eine totale Öffentlichkeit) – – – dass es der totalen Öffentlichkeit standhalten würde. Denn man kann alles fehllesen.

Der öffentliche Raum ist laut, schnell, ungedämpft. Die sozialen Medien, die Medien überhaupt – sie sind ein Getriebe, ein Getöse, ein ständiger Rabatz. Das hier ist etwas anderes. Ein Kämmerlein. Ein einsamer Schreibtisch. Eine stille Lichtung, kein Mensch rundherum, nur den Notizblock auf den Knien. Das Gegenteil von öffentlich. Und so nenne ich es jetzt auch. Anti-Publik.︎︎︎




Verschränkte Voraussetzungen


11.09.
Dass ich da gestern mit meinen Überlegungen zum Zusammenhang von Meinen und Verstehen in ein Problem hineingerannt bin, sollte mich nicht überraschen, denn dieses Problem ist ja nicht neu. Ich kenne es, seitdem ich versuche, meinen Themen, auf welche Weise auch immer, eine schriftliche Form zu geben. Es ist das
Problem der verschränkten Voraussetzungen. 

Ein Text muss linear sein, das Denken ist es nicht. Denken ist verzweigt, Denken ist simultan. Jedenfalls eine gewisse Art von Denken ist das – dasjenige Denken, das auf die Zusammenhänge ausgeht, das das Ziel einer Zusammenschau verfolgt, oder, was mir besser gefällt, das Ziel, die Dinge Zusammenzuhorchen: sie gleichzeitig zu hören, sich den ungeheuren, unerträglichen Dissonanzen auszusetzen, aber auch den unerwartet immer wieder auftauchenden Harmonien zu lauschen.

Es ist kaum möglich, eine solche verzweigte Struktur, die von sich aus nicht dem Schema A -> B -> C folgt, sondern in der A auf F bezogen ist, F auf D und W, D wieder auf A, W hingegen auf R etc. in einen linearen Text hineinzupressen. 

Das Internet schien dafür eine Lösung zu sein, denn das Prinzip der Hyperlinks, die an jeder beliebigen Stelle in einem Text ansetzen können, bringt eine Ähnlichkeit zur Verknüpftheit der Themen oder der Teilaktivitäten des Denkens mit sich. Die Vorstellung, das Internet sei eine Art collective mind, der hyperverknüpft, zugleich hyperdifferenziert, quasi-automatisch, von niemandem gesteuert und von niemandem überblickbar vor sich hin denkt, hat ja durchaus etwas für sich. Ein Teilnetzwerk wie die wikipedia, die die Verknüpfung zum sich selbst organisierenden architektonischen Prinzip macht, wäre dann ein Abbild des Gesamtnetzes im Kleinen. Aber wer würde die wikipedia lesen wollen, als einen Text, ein „Werk“, wer wäre dazu auch nur in der Lage?

Das Problem besteht immer darin, die netzwerkartige Struktur dessen, was im Kopf ist, in die Linearität hineinzuprojizieren, die das Papier fordert. Oder der Bildschirm.

Und das Problem wird verschärft dadurch, dass, wenn es um Denkaktivität geht, die im Text selbst erst vollzogen werden, die Verknüpfungen nicht einfach Erweiterungen sind, der „Link“ (sei er gedacht oder ausgeschrieben) also nicht einfach eine read more-Option anbietet, sondern die verknüpften Materialien oder Denkbewegungen bilden füreinander Voraussetzungen. Es ist nicht einfach A auf F bezogen, F auf D und W, D auf A usw., sondern A setzt F voraus, auf eine absolut fundamentale Weise, A kann ohne F nicht nur nicht verstanden, nicht nur nicht formuliert, sondern A kann ohne F noch nicht einmal gedacht werden, und, was die Sache noch vertrackter macht, F in vielen Fällen eben auch nicht ohne A. 

Es gibt innerhalb des Ganzen (das zwar ein entstehendes Ganzes ist, aber ja auch ein vorbereitetes Ganzes) tiefe, gegenseitige Voraussetzungsverhältnisse, die nicht in eine Nacheinander auflösbar sind: A kann nicht gedacht oder gesagt werden ohne F; F kann nicht gedacht oder gesagt werden ohne A. Wenn man es ganz genau nimmt, dann kann man im Grunde gar nichts sagen oder denken, denn es beklemmt sich alles. Daher darf man es eben nicht ganz genau nehmen.

(Das Wort „vorbereitet“ im vorigen Absatz: Darüber einmal weiter nachdenken. Denn das Interessante ist ja, dass ein Gedanke, um überhaupt aufs Papier kommen zu können, zuvor auf eine vage Art und Weise „vorgedacht“ werden muss, auf eine Weise, die überhaupt nichts mit dem klar und deutlich von Descartes zu tun hat, und gerade in diesem Vor-Denken, das auch vor-begrifflich ist oder in dem sich die Begriffe zumindest noch nicht stabilisieren, können Gedanken erstens neu entstehen, zweitens sich fast widerstandslos über weiter Distanzen zueinander in Beziehung setzen. Das vorbereitende Vordenken kennt sozusagen die Gesetze des Raumes nicht, und es kennt auch keine Zeit, denn es kann weitgehend alles gleichzeitig stattfinden.)︎︎︎



Interfluenz und situierter Mensch


11.3

(Skizze über Zusammenhänge)

Dass alles auf der Welt zusammenhängt und sich gegenseitig beeinflusst, zumindest hier auf diesem Planeten, ist inzwischen zu einer Art Gemeinplatz geworden. Geschichte und Wirtschaft, Bakterien und Klima, Armut und Bevölkerungswachstum, aber auch biologische Nische und biologische Art, Experiment und Beobachtung und sogar Raum und Zeit – nichts ist unverbunden miteinander.

Interdependenz ergänzt (ersetzt?) die Hierarchie, viele moderne Netzwerk- und Patchwork-Ontologien sprechen den Überschneidungen zwischen Prozessen und Objekten nicht weniger Sein zu als den isolierten Phänomenen selbst. Das betrifft allerdings vor allem "die Welt da draussen": Auf "die Welt in unseren Köpfen" wird das Modell der allseitigen Verknüpfung und Beeinflussung kaum jemals angewandt. Dabei läge es für das Geistige oder Zerebrale besonders nahe: Bereits die Architektur des Hirns ist die eines Netzwerks, und Psychologie wie Selbstbeobachtung zeigen, in welchem Masse Gedanken von Emotionen beeinflusst werden, Theorien von Präferenzen, Pläne von Hoffnungen usw. Ein isoliertes Denken gibt es nicht – weder von der Gemeinschaft noch von sich selbst.

Aber während wir die Interdependenz der äusseren Phänomene hinnehmen oder sogar begrüssen, scheinen wir der gegenseitigen Beeinflussung der Prozesse des Denkens eher skeptisch oder ablehnend gegenüberzustehen. Einerseits mit gutem Grund: "Wishful thinking" verzerrt die Realität; verabsolutierte Ideen trüben den Blick auf die Tatsachen – überall, wo Unterschiedenes einander zu nahe kommt, lauern Verzerrung und bias. Aber ist das Grund genug, das Ideal eines kompartimentierten Denkens zu kultivieren, in dem alles sauber voneinander getrennt gehalten wird und Physik nicht auf Musik einwirken soll, Dichtung nicht auf Theorie, Politik-Auffassungen nicht auf Wissenschafts-Deutung? Das ist doch sowieso eine Illusion.

Mag sein, es vertritt auch niemand ernsthaft einen derartigen strikten Separatismus der Sphären. Schon die neue Hinwendung zu persönlichen Identitäten lässt sich ja auch als eine Anerkenntnis von Interdependenz lesen – nämlich der Beeinflussung von Ansichten und Aussagen durch Herkunft und Individualität.
Dennoch, worauf ich hinauswill: Die zerebrale (mentale, psychische, kognitive) Interfluenz – Inter-Influenz, gegenseitige Beeinflussung – mag uns irgendwie suspekter sein als die Interdependenz in der "realen Aussenwelt", aber sie ist ein Sachverhalt, den man nicht wegwünschen kann. Und wohl auch nicht sollte, denn damit würden wir uns selbst entkernen. "Kern" schreibe ich in Ermangelung eines besseren Wortes.

Man kann sie nicht wegwünschen, man muss sie aber auch nicht einfach hinnehmen, sondern es gilt, sie zu managen.

Jeder, bin ich überzeugt, ausnahmslos jeder Mensch unterliegt einer solchen gegenseitigen Beeinflussung seiner unterschiedlichsten Geistesinhalte und -Prozesse. Auf einer bestimmten Ebene ist alles im Kopf ein Mischmasch. Und diese Ebene ist nicht "irgendeine" (vielleicht die der nächtlichen delirierenden Träume), sondern es ist diejenige, die jeden einzelnen als individuelle geistige Persönlichkeit konstituiert. (Vielleicht die Ebene jener vagen Gedanken-Gefühle, die man mit dem Wort "Ahnungen" bezeichnen könnte.) Und wenn man nun so tut, als dürfte A mit X nichts zu tun haben und W mit B, weil sie sachlich streng getrennt zu halten sind, dann negiert man die Persönlichkeit, dann höhlt man sie aus (daher wohl der "Kern"). Dann wird der Mensch tatsächlich zur entselbsteten Funktion seiner Umstände. Und er wird letztlich sprachlos.

Wenn ich in dieser Art und Weise an die Interfluenz der Gedanken denke, also ohne sie ausmerzen oder, im Gegenteil, passiv hinnehmen zu wollen, wenn ich also also an eine "gemanagte Interfluenz" denke, eine, mit der man bewusst umgeht und um deren Gestaltung man sich bemüht, dann möchte ich ein Plaidoyer für ein neues, kritisches Generalistentum beginnen.

Der Generalist scheint mit dem Ende der Renaissance, sicher mit dem Anbruch der Moderne ausgestorben – es gibt schlicht keinen Platz mehr für ihn, weil es keine Anhöhe des Geistes mehr gibt, von der aus man sich der Illusion hingeben könnte, "alles" überblicken zu können. Andererseits kann ich mir keinen Menschen vorstellen, der nicht Generalist wäre. Jeder Einzelne ist ja in seiner Lebenswelt konfrontiert mit den unterschiedlichsten Themen, Disziplinen, Problemen, und er muss sich zu ihnen verhalten, ob er das wünscht oder nicht, und dies immer mehr so, je weiter die Medialisierung um sich greift. Ohne Generalistentum scheint es also genausowenig zu gehen wie mit ihm.

Und da kommt das Kritische ins Spiel. Oder man könnte auch sagen, ich möchte mich – da die Interfluenz des Gedanklichen sowieso stattfindet – für ein "aufgeklärtes" Generalistentum aussprechen, für eines, das weiss, dass es die Totale nicht gibt, dass aber auch nichts für sich allein existiert oder stattfindet, auch nicht (und gerade nicht) im Kopf. Eines, das die Dinge zwar zusammenbringt, aber nicht im neutralen Nirgendwo, sondern am konkreten, individuellen Ort.
In einem solchen kritisch-generalistischen Entwurf wird der Denker gewissermassen zur Sonde, Englisch zur "probe", die in eine monströs heterogene, unbändig turbulente Welt an konkreter Stelle eingebracht ist und versucht, die Einflussnahmen des Inkommensurablen für sich zueinander in Beziehung zu setzen. Nicht unbedingt durch explizites Aussagen, aber doch so, dass sie durch seine Äusserungen hindurchscheinen, er sich ihrer bewusst ist und sie transparent macht für andere. Solch ein Probe-Denker wäre dann sozusagen "repräsentativ _als Individuum_" – repräsentativ darin, nicht repräsentativ sein zu können und dennoch lokale Vollständigkeit anzustreben.

Aber vielleicht braucht man solche verwickelten Paradoxa auch nicht. Vielleicht kann man es auch so sagen: Der generalistische Impetus kann sich in einer dehierarchisierten, epistemisch wie ontologisch explodierten Welt nicht mehr als Bestreben des Allwissens entfalten, nicht mehr faustisch, wohl aber als eine bewusste Bewältigung und Bearbeitung aller lokalen kognitiven Vektoren und Vektor-Kreuzungen. Er synthetisiert nicht das Ganze, sondern er balanciert das Inkommensurable.

Und eine solche transparente, bewusste, kritische, grossenteils implizite Balancierung aller interfluierenden kognitiven (geistigen, zerebralen, mentalen ...) Prozesse ist nichts, das irgendwie "besonders" wäre oder gar "neu". Es ist die normalste Sache der Welt – das, was sowieso jeder tut. Es setzt – ohne der Illusion der Autonomie zu verfallen – die eigene, in sich innerlich kreuz-und quer-beeinflusste Persönlichkeit in die Umstände hinein, die sie tragen und bedingen, und zugleich diesen Umständen entgegen, die damit drohen, sie sich als Funktion unterzuordnen.

Situierung, in diesem Sinne, setzt das Umgehen mit Interfluenz voraus. Und Situierung ist ihrerseits wieder die Voraussetzung von Artikulation: Der Mensch als Funktion wird sprachlos, der Mensch als Träumer der Totale bringt leere Worte hervor. Reden, hören, Eigenes vertreten, Fremdes anerkennen, in Dialog treten kann nur der situierte Mensch.

(Ich lese das und denke: Ja, in diese Richtung sollte es gehen, der Gedanke selbst ist sowieso beharrlich, aber es braucht Auffaltung.)

„subjektive Objektivität“? – nicht technisch sauber, aber ganz illustrativ.


︎︎︎