Posttranszendenz

Lobpreis




24.11.

Für nichts scheinen die Zeiten weniger geeignet als dafür, die Welt, wie sie ist, zu preisen oder über sie zu jubilieren. Und dennoch fehlt kaum etwas so sehr wie genau das: der Lobpreis.

Wenn er überhaupt heute irgendwo praktiziert wird, dann in den Religionen. Aber von dort klingt er verschroben, nostalgisch, falsch – warum sollte ich eine Schöpfung preisen, wenn ich die Welt als ein physikalisches Zufallsphänomen aus Masse und Energie verstehe? Warum einem Erlöser danken, wenn überall Qualen sind und niemand erlöst? Wir wissen zu viel über die Religionen, um ihren Lobpreis noch als unseren zu verstehen.

Ich sitze im Zug und fahre durch ein sonniges Hügelland. Links sind die Bäume herbstlich gefärbt, über den Bergrücken rechts hängen satt-dunkle Wolken, an deren Rand das Licht sich bricht. Wären nicht Krieg, Lüge, Elend und das drohend heraufziehende klimatische Verhängnis ständig präsent im Kopf, man könnte hinschauen und sagen: Welche Freude, welch Geschenk, was für eine Welt. Und jetzt, im Augenblick, sage ich es.

Aber die ganze Welt zu preisen, weil sie ist wie sie ist, nicht nur diesen Augenblick, scheint dennoch unangemessen. Pietätlos und vielleicht sogar dumm und schädlich. Denn diese Welt braucht, wenn wir die Tatsache erstnehmen, dass alle Menschen Geschwister sind, massive Veränderung. Allein, um weiter zu bestehen. Wieso sollte man sie dann, wie sie ist, preisen? Im Gegenteil, man muss auf ihre Fehler schauen, diese Fehler ans Licht bringen. Ist es nicht so? Man muss die Umstände kritisieren, um sagen zu können, wie es eigentlich sein sollte.

Aber andererseits: Die Welt zu preisen bedeutet nicht, sie nicht verbessern zu wollen. Eher umgekehrt. Man preist, was man liebt. Und die Liebe zu dem, was ist, ist Voraussetzung für die Liebe zu dem, was sein könnte, zu dem, was möglich zu machen wäre. Ein Mensch, der diese Welt kostbar findet, der sie um ihrer Einzigartigkeit und Unglaublichkeit wegen bewundert und besingt, der in den anderen Wesen die gleiche Einzigartigkeit und Unglaublichkeit erkennt, wird sich schwer tun, etwas in ihr zu zerstören. Die Liebe zu dem, was ist, verschiebt die Massstäbe: Die kleinlichen, missgünstigen Dinge – Rache, Hass, Selbstsucht – verblassen neben ihr, werden schwach und unsinnig.

Aber natürlich kann man nicht alles an der Welt lieben. Nicht das Böse, das Schaden-Wollen, die Gleichgültigkeit gegenüber Unheil und Leid, die Rücksichtslosigkeit, das Messen von Allem nur am eigenen zufälligen Leisten. Es zu preisen, nur weil es Teil der Welt ist, wäre pervers. Es im Namen der Liebe zu bekämpfen wäre das aber auch, denn ein solcher Kampf entfesselt selbst unausweichlich Kaskaden der Zerstörung.

Nennt mich naiv, aber es gibt, scheint mir, nur einen langfristigen Ausweg. Und der lautet, dass auch die Bösen die Welt lieben lernen müssen. Aber ihnen erklären, warum sie das tun sollten, sie mit Argumenten und Gründen überzeugen, kann man nicht. Sie werden immer ein Aber haben. Sie werden immer Gegengründe finden, warum es dennoch etwas zu zerstören gilt, um irgendetwas zu erlangen, warum man dennoch selbst der Wichtigste ist, nur man selbst im Recht ist. Und warum die Rede von der Liebe zur Welt nichts ist als dummes Gewäsch.

Aber man könnte etwas anderes tun. Man könnte allen – auch sich selbst, aber insbesondere denen, die den Willen haben, zu schaden – einen Floh ins Ohr setzen. Den Floh von der Liebens-Würdigkeit der Welt. Davon, wie kostbar sie ist, sie und die Wesen in ihr, wie unglaublich, unerfasslich, geheimnisvoll, überwältigend, schwindellerregend, einzigartig. Wie lob- und preisenswert, allem zum Trotz. Und dieser Floh, damit er nicht von Einwänden und Gründen zerdrückt wird, die sich immer gegen ihn finden lassen, dürfte selbst nichts sein, das überzeugen will. Er dürfte nicht mehr sein als ein Lied. Ein Lied, das sich festsetzt im Ohr, aufgrund seines besonderen Reizes, aufgrund seiner Kraft, das Wunderbare gegenwärtiger zu machen. Ein Lobpreis-Lied, allem Schlimmen zum Trotz, und gerade dieses Schlimmen wegen.

Ein solches Lied, ein solcher nicht argumentierender, nicht streitender, sondern bestaunender, bejubelnder Lobpreis, wäre nicht dumm. Er wäre nicht unangemessen, nicht unehrlich. Er wäre, angesichts der Wirklichkeit, in der wir auf so überaus seltsame Weise zu Gast sind und deren eigentliche Verfasstheit wir doch nie begreifen, etwas Angemessenes, Naheliegendes, fast Zwingendes. Und wenn es überhaupt etwas geben kann, das in der Lage wäre, das Schaden-Wollen, die Gleichgültigkeit, die Rücksichtslosigkeit allmählich aus der menschlichen Existenz herauszudrängen, dann wäre das vielleicht am ehesten ein solches Lied. Ein solcher völlig quer zur aktuellen Zeit gesungener Lobpreis. ︎︎︎

Illustration Bild: Illustration. Guter Artikel in The Conversation.





Schweben Kunst Wunder Politik


15.10.
Warum ich mich mit dieser ständigen Politisierung von Kunst nicht abfinden will: Weil ich meine, dass Kunst das ist, was schwebt, und zwar im besten Fall zwischen zwei Polen: dem materialen (oder eben politischen) und einem anderen, dessen Ort derzeit unbestimmt ist und für den wir derzeit auch kein passendes Wort haben, der dem ersten aber mehr oder weniger gegenüber liegt. 

Wenn man, in Übereinstimmung mit einem weitverbreiteten Bild und mit der Schwerkraft selbst, annimmt, dass das Materiale „unten“ ist, und wenn man es schafft, dieses Bild von gewissen sich aufdrängenden Wertungen freizuhalten (dass das Untere irgendwie „schlechter“ sei als das Obere), dann könnte man sagen: Unten ist, worauf die Kunst steht, oben, wohin sie gesogen wird; unten ist, worauf sie gravitiert, oben, wohin sie levitiert. Unten ist das Materiale (Politische), oben ist das – was?

Der obere Pol – nein, besser nicht „obere“. Der irgendwo auf einer der Polkappen liegende Punkt, irgendwo in einem gedachten Oben – der obene Pol ... 

Der alte obene Pol ist weggefallen mit der Verflüchtigung des „Transzendenten“ und mit dem effektiven Ende jener metaphysischen Elementarpoesie, die wir „Religion“ nannten. Danach gab es nichts mehr, das die Kunst (was immer sie auch sei) ins Obere, ins Obene hätte ziehen, saugen können, und sie begann, in ihre Fundamente hineinzustürzen, und die Theorien, die die Kunst als eine Massnahme innerhalb des Politischen modellierten, als ein Sozialprodukt, gemeinsam mit jenen Künstlern, die der politischen Direktwirkung der Kunst vertrauten, vollendeten diesen Sturz: fait social accompli.

Es gab wenige, die sich der Verunschwebung der Kunst widersetzten: Messiaen, in der Musik, auch Pärt, in der Lyrik Lavant, Eva Zeller vielleicht ... ich kenne sie zu wenig. Aber das sind alles solche, die am Transzendenten hängen, wie es war. Solche, die es nicht verabschiedet haben, auch die Elementarpoesie Religion nicht, gerade sie nicht. Verweigert man aber diesen Abschied, dann entfernt man sich und seine Kunst aus der eigenen Zeit. Vollzieht man ihn, dann strebt die Kunst hin zum Politikum. So oder so ist es mit dem Schweben vorbei.

Zumindest drängt sich dieser Anschein auf. Aber man muss ihm nicht trauen. Denn das Obene, beziehungsweise der irgendwo in ihm befindlich gewesene Pol, hat ja nur seinen Namen verloren, nicht seinen Sinn. Oder etwas mehr hat er schon verloren, nämlich: seine Bedeutung. Aber eben nicht den Sinn.

2


Der Sinn dessen, was einstmals „Transzendenz“ hiess, war ein Sinn auf etwas Unnennbares hin: Das Wort „Transzendenz“ sagt, dass es das Eigentliche nicht sagt. Diese Unnennbarkeit ist allem Obenen eigen, und wenn man meint, dass ein Sinn immer aussagbar sein muss, dann ist der Sinn des Obenen eigentlich ein |Un-|sinn oder ein Antisinn: Ein Sinn und zugleich kein Sinn. Und solchen Antisinn, auf den die Kunst zielen und der sie ins Schweben bringen kann, kann man weiterhin finden, wenn man ihn denn sucht, nur wird man einen anderen finden als früher und er wird etwas anderes bedeuten als früher und kann daher auch nicht mehr heissen, wie er früher hiess. Der obene Pol verschiebt sich.

Obwohl man Antisinn nicht aussagen kann, kann man doch zu ihm etwas sagen, oder man etwas darumherum oder knapp daneben sagen. Und mein Versuch eines solchen knapp-daneben-Sagens wäre: Ein heutiger oberer, obener Pol wäre nicht mehr „das Transzendente“ (oder was immer mit ihm traditionell als verbunden gedacht wurde), sondern ein solcher obener Pol wäre die womögliche Wunderhaftigkeit

3


Die womögliche Wunderhaftigkeit. Wenn es mir gelänge, in klaren, unmissverständlichen Worten zu explizieren, was das heissen soll, dann hätte es nichts mit dem Obenen zu tun. Daher will ich es nicht explizieren, sondern erweitern. Zum Beispiel kann man aus dem zweiwortigen Ausdruck einen sechswortigen machen: Letztlich alles womöglich wirklich natürlich Wunder.

Das ist eine Melodie. Sie lässt sich singen: Letztlich alles womöglich wirklich natürlich Wunder ... Man kann auch noch ein „ist“ hineinsetzen, Letztlich ist alles womöglich wirklich natürlich Wunder, aber ohne ist es schöner. Vor allem kann man die Melodie nicht nur singen, sondern auch weitersingen, jedes einzelne ihrer Motive. Wo anfangen? Egal. 

Das Motiv natürlich lässt sich weitersingen als mit rechten Dingen, nicht übernatürlich, ohne faulen Zauber: Wunder nicht als Verletzung von Naturregelmässigkeiten, sondern als Teil dieser Naturregelmässigkeiten, als eine ihrer inneren Eigenschaften. Wunder, modern gedacht, umgedacht.

Das Motiv wirklich kann man weitersingen als nicht ausgedacht, nicht herbeigewünscht, sondern real: als so – ist– es. Tatsächlich womöglich alles letztlich natürlich Wunder. Alles ist weitersingbar als: dies, und dies, und dies, und dies – ins Unendliche. Letztlich als: wenn man alles durchdacht hat, soweit es eben geht, wenn man sein Erkunden bis ans Ende gebracht hat, an dem man aufgeben muss. Dann, erst dann. 

Das sind vier Motive. ... wirklich ... alles ... letztlich ... natürlich ... plus: womöglich. Das Womöglich ist entscheidend, es setzt den Ton, es setzt das Register, deshalb beginnt die Melodie mit ihm.

Wie lässt sich Womöglich weitersingen? Als: Es könnte durchaus sein. Man weiss es nicht, kann es nicht wissen. Aber es ist nicht ausgeschlossen! Es kann keine Wundergewissheit geben (Wunder immer im Sinne von: natürlich Wunder, modern Wunder). Aber allein die Tatsache, dass ein Wunderverdacht möglich ist, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass alles letztlich wirklich natürlich Wunder ist, umsingt einen möglichen Pol im Oben, im Obenen. Nicht den, den es früher gab, sondern einen anderen, gegenüber dem alten versetzt.

4


Womögliche Wunderhaftigkeit. Das wäre mein Versuch, zu einem heute möglichen oberen, obenen Pol, an welchem die Kunst hängen, unter dem sie schweben könnte, etwas zu sagen. 

Und jetzt hätte ich fast das sechste Motiv vergessen. Das Wunder selbst.

Wie kann man Wunder weitersingen? Natürlich, modern und ohne faulen Zauber, mit rechten Dingen, im Rahmen der Naturgesetzlichkeiten ...

Naturgesetzlichkeiten. An denen hängt es. Was wissen wir von ihnen? Wie vollständig sind unsere Kenntnisse? Wissen wir mehr, als wir nicht wissen – oder umgekehrt? Leben wir auf einem Kontinent des Wissens, umgeben von einem Rinnsal des Unbekannten oder auf einer winzigen Insel im Ozean des Nichtwissens? Heisst, dass wir die Naturgesetzlichkeit gebrauchen können, auch, dass wir sie verstehen? Können wir uns das Funktionieren der Welt im Ganzen vorstellen? Gibt es keine Geheimnisse mehr? Es geht nicht um Rätsel – Rätsel lassen sich lösen. Es geht um Geheimnisse. Woraus ist die Welt gemacht? Aus Bekanntem?  Oder aus Geheimnisvollem? Wunder ist, was alles Vorstellbare übersteigt. Wunder ist, was, kennte man es, verstünde man es, alles ändern würde. Was mich zwingen würde, stiesse ich zum ihm vor, alles, was ich bisher geglaubt und getan habe, alles, was ich bis dahin war, gänzlich anders zu verstehen, gänzlich umzuverstehen. Und in diesem Umverstehen, bin ich überzeugt, auch wenn ich dafür nicht den geringsten Beweis erbringen kann, erwiese sich alles nicht nur als unvorstellbar, sondern als unvorstellbar kostbar.

Dazwischen ist die Kunst. Da sollte sie sein, denke ich: zwischen dem materialen, politischen Sozialprodukt und der womöglichen Wunderhaftigkeit. Bald näher am einen, bald näher am anderen, bald beruhigt, bald erregt, bald gesammelt, bald zerrissen, immer bebend, zitternd, gespannt in einem Feld, in einem magnetischen, einem elektrischen Feld, schwebend.

5


Wenn man aber einfach behauptet, nur weil die „Transzendenz“ sich verflüchtigt hat, es gebe überhaupt kein Obenes oder im Obenen sei grundsätzlich kein Sinn, auch kein Antisinn,  |Un-|sinn, Sinn-nicht-Sinn, dann bleibt der Kunst gar nichts anderes übrig, als sich als direktpolitisch zu verstehen, und das ist es, was heute Konsens zu sein scheint. Sicher, auch dort, in der Polkappe des Politischen, Materialen kann man etwas gestalten, kann man Wertvolles schaffen. Nur halt Unschwebendes. Aber schnell wird das dann tatsächlich zu Politik – zur Politik mit symbolischen Mitteln.

Und es wäre ja ein Fehler zu meinen, wenn die Kunst sich auf womögliche Wunderhaftigkeit bezöge, dann würde sie die Menschen und ihre Belange vergessen, dann würde sie zur l’art pour l’art und zum hohlen Ästhetizismus. Es geht ja nicht darum, zu entfliehen nach oben. Nicht darum, das Politische, Materiale zu ignorieren. Es geht ums Dazwischensein. Eher schon, als dass sie abhebt, wird Kunst dadurch, dass sie es wieder aufnimmt mit dem Spannungsfeld zwischen den Polen, von neuem existenzial, eher siedelt sie sich an in den Menschen, eher wird sie dann dort wirken können, auch politisch. Nicht direkt politisch. Indirekt. Hintenrum. Obenrum.︎︎︎

PS: Die Kunst. So ein riesiges Wort. Was soll das sein, Kunst? Na, irgendetwas versteht man ja, wenn man das Wort hört, und mehr als dieses Irgendetwas braucht es glaube ich hier nicht.


Drei postreligiöse Miniaturen



Der Kopf der Raupe


16.11.

Metamorphose. Die Raupe löst ihre eigenen Organe auf und entsteigt der Puppe als etwas Neues. Vom Alten ist manches wiedererkennbar (zwei Augen), anderes nicht (Flügel).

Lange schien es so, als hätte das Religiöse sich nicht verpuppt, sondern wäre verendet: Staub zu Staub, zersetzt vom kritischen Verstand.

Doch auch der stellt fest, dass er sich selbst nicht gehorcht. Er schafft nicht nur Segen, sondern auch Grauen – Dialektik der Aufklärung. Und er entdeckt sein Jenseits: So wie es Dunkelziffern gibt, die wir nicht kennen können, gibt es Dunkelfakten. Geheimnisse. Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts? Keine Antwort.

Die Vernunft ist nicht nur eine Säure, die die Religion zersetzt, sondern auch ein Katalysator, der verwandelt. Um die also Raupe freilich ist es geschehen. Heiligkeit, Sünde, Offenbarung, Erlösung – all das ist nun verflüssigt, formloser Körpersaft. Aber was geschieht mit ihnen?

Gott war der Kopf der Raupe. Die Verwandlung zerspaltet ihn, er wird nie wieder auferstehen.

Niemand konnte Gott wissen. Es gab nur den Glauben. Zu glauben, das hiess, Gott zu ahnen: im Duft des Waldbodens, im Gegenüber und seiner Verletzlichkeit, im strahlenden Himmel. Ahnen statt Wissen: Die Religion war ein Geschöpf der Ungewissheit, und wenn man versuchte, sie festzuschreiben, dann nur als Paradox.

Und ein Geschöpf, das sich nährte von Unergründlichkeit. Woher der Baum, das Rind, die ziehenden Wolken? Woher das Gute und das Böse? Wie sie scheiden? – Geheimnisse. Vielleicht steht hinter ihnen gänzlich anderes, als wir vermuten. Uns Unvorstellbares. Vielleicht steht hinter ihnen Wunder: totale Andersheit.

Die Religion, die war, ist fort. Die Möglichkeit, dass alles letztlich völlig anders ist, als wir uns denken, bleibt. Womöglich atemberaubend anders. Ist alles letztlich Wunder, irgendwie? Nur ein Verdacht. Doch den schafft auch der kritischte Verstand nicht aus der Welt.

Erlösung, Heiligkeit, Sünde und Offenbarung – wer weiss, ob sie verendet sind oder sich umbilden. Ob anderes entsteht aus ihnen – neue Organe. Der Wunderverdacht wird kaum je vergehen. Entsteht einmal ein Falter, könnte er dessen Fühler sein: zart weitertasten.


*

„Transzendenz“


16.11.

„Transzendenz“ ist kein Wort, sondern eine Kapitulation. Ein technisierender Ausdruck für ehemals religiöse Gehalte, chancenlos gegenüber der existenzialen Wucht, die sie besassen und ihrem poetischen Reichtum.

Das Transzendente soll das Übersteigende sein (trans-scandere), das, wohin die Erkenntnis und die Vernunft nicht reichen, das „Jenseits“ der Moderne. Etwas Unerreichbares, Hermetisches. Aber damit auch etwas Irrelevantes: Wenn man eh keinen Zugriff drauf hat, dann kann man's auch vergessen.

Nicht ihre Negativität ist das Problem der Transzendenz. Auch Gott war negativ: Wer behauptet hätte, er wisse, was „Gott“ bedeutet, hätte schon das Gegenteil bewiesen. Eher noch als überhaupt ein Wort war Gott ein Sangeslaut: eine vokale Chiffre für das Unergründliche, aber Erahnbare.

„Transzendenz“ verweigert sich dem Sanglichen, und es chiffriert für nichts. Ein Ärmelschoner in einer Bilanz, die sich nicht ziehen lässt. Von „Transzendenz“ zu reden, heisst, sich hinter einem Feigenblatt zu verstecken und ist selbst – feige.


*

Janus Jesus

(21. 09. 19)

Wenn ich versuche, mir das Christentum vorzustellen, dann kommt eine Art Picasso dabei heraus, also etwas ganz und gar Antirealistisches, und das liegt an der Figur „Jesus Christus“, die einmal im Profil und einmal en face erscheint und dabei zwei völlig unterschiedliche Funktionen erfüllt.

Einmal bringt sie die grösstmögliche ethische Radikalität in das Glaubenskonstrukt hinein. Das muss man vor dem historischen Hintergrund sehen, der natürlich immens kompliziert ist – der jüdische Gerechtigkeitsgott, das ausgewählte Volk, dessen Geschichte aber aus Demütigung besteht (die Exile, die römische Besetzung) – die Suche nach einer Logik in dieser Geschichte – dann, in der konkreten historischen Situation, einerseits der Legalismus der pharisäischen Gelehrten, das Sich-Arrangieren mit den Römern, andererseits die Büsser-Bewegung, die Endzeiterwartung und der Glaube, es müsse doch irgendwo schon der neue, glorreiche, gottgesandte König auf der Erde zu finden sein (Messias) – dessen Bild dieser Prediger Joshua (Jesus) überhaupt nicht entspricht – der aber, in Fortführung der Mission von Johannes dem Täufer, Busse und Umkehr fordert, um die Menschen für das bevorstehende Himmelreich bereitzumachen – dort wird das Unrecht getilgt werden, dort wird der ausgleichende Lohn für alle erlittene Erniedrigung empfangen – und dafür dampft er, Joshua, der Prediger, die jüdischen Sozialregeln ein auf ihre absoluten Essenzen: die andere Wange hinhalten; den Nächsten (wer immer gemeint gewesen sei) „lieben“; und: wie du willst, dass man dir tue, so tue du auch – das ist das ganze Gesetz und die Propheten –

Das ist das eine Gesicht, das ethisch radikale.

Und dann geschieht diese aberwitzige Geschichte mit der Ermordung (für die Römer war er ja ein Aufständiger, man hatte Angst vor den Messianisten), die zweimal fast schiefgegangen wäre (wenn Judas ihn nicht verraten hätte, wenn an Jesus Stelle der Räuber Barrabas begnadigt worden wäre), dann die noch aberwitzigere mit den euphorisierten Behauptungen seiner Anhänger, er sei gar nicht tot, und dann die noch einmal aber-aberwitzigere, dass der anti-messianistische Geheimagent Paulus (oder was immer seine gesellschaftliche Rolle gewesen sein mag) in einem unwillkürlichen Geniestreich diesen Mord, verbrämt um die „Auferstehung“, als einen Opfertod deutete und dieses Opfer als Sühne für die Sünden, die – in der jüdischen Gerechtigkeitsvorstellung – der Grund für all das Leiden und die Demütigungen unter den Römern sein mussten und damit als Erlösung von der allesbeherrschenden Schuldvorstellung: das Himmelreich war tatsächlich schon angebrochen, diejenigen, die den Opfertod verstanden (an den Wanderprediger Joshua als an den unmöglichsten aller Heilande glaubten), waren bereits erlöst –


Das ist die andere Seite des sich selbst wiedersprechenden Bildnisses: Nicht die der radikalen ethischen Forderungen, sondern die der totalen, bedingungslosen Nachsicht, der wie ein Geschenk unverdient empfangenen Vergebung –

Und diese beiden Gesichter, dieser Januskopf aus unbarmherzigster, unnachgiebigster, unerfüllbarster ethischer Forderung einerseits und grundlosester, grenzenlosester, grosszügigster Güte andererseits, die beide eigentlich überhaupt nicht miteinander zusammengehen können, sind in der einen Figur vereint, sind verschmolzen miteinander im Mythos vom Jesus Christus, vom doppelgesichtigen geopferten Antikönig-Bussprediger-Heiland-Erlöser –

Irgendwo las ich neulich, der Passus der Menschenrechte bringe eine „ethische Unruhe“ in das ansonsten sehr auf Stabilität setzende Grundgesetz hinein. Die eine Seite des selbstwidersprüchlich überlagerten Jesus tut dasselbe für den zur Formalisierung neigenden monotheistischen Glauben: Sie impft diesen Glauben mit einem extremen, immer als Anreiz und Mahnung vor den Gläubigen stehenden, unmittelbar an den Einzelnen adressierten, aber kaum wirklich vollständig erfüllbaren ethischen Anspruch. Die andere Seite des Doppelbildes hingegen kompensiert dies, oder ergänzt es, durch einen bedingungslos und unendlich tröstenden Geist des Vergebens, vor dem die Schuld, die sich aus dem zwangsläufigen ethischen Nichtgenügen unausweichlich ergibt, wieder verblassen kann. Heute, in der nachchristlichen Zeit, fehlt uns dieses zweite, gütige Gesicht. 

*

... und eine vierte


12.04.2020. Es ist ja Ostern. Mich hat Religion schon immer zugleich verstört und fasziniert. Natürlich ist alles „falsch“: Kein Gott hat unsere Welt geschaffen, hält die Fäden in der Hand und wird über uns richten; und dass der Prediger Jeshua zu „Gottes eingeborenem Sohn“ geworden ist, beruht auf einer zwar bemerkenswerten, aber ganz und gar diesseitigen Verkettung historischer Umstände und Zufälle. Auf der anderen Seite hat die Religion etwas geleistet, das bis heute unerreicht geblieben ist: Sie hat die menschlichen Daseinsbedingungen in einem umfassenden Poem konzentriert, in einem Kunstwerk gedanklicher und praktischer Dichtung, dem es gelingt, Dinge anzudeuten, die der expliziten, beschreibenden, analysierenden Sprache und dem nicht-symbolischen Handeln unzugänglich sind. Wie ein Gedicht es schafft, Gehalte präsent zu machen, die kein Traktat benennen kann, schafft es auch die Religion, durch Sprache über das Sprachliche hinauszudeuten, und zwar in den Grundangelegenheiten von Leben, Tod, Schuld, Welt, Schicksal – Religion ist Elementarpoesie. Oder war. Denn sie ist ja, wie wir heute wissen, falsch.

Das ist die Crux dieser Poesie: Ihre sachlichen Voraussetzungen sind inkorrekt. Die Welt wurde nicht „geschaffen“, im Gegenteil, wir sind es, die sich den „Schöpfer“ ausgedacht haben. Die Geschichte Gottes können wir heute in groben Zügen rekonstruieren wie andere geistesgeschichtliche Entwicklungen auch.

Also gehört die Religion auf den Kehrichthaufen der Geschichte? Nein. Ja. Sowohl als auch. Jedenfalls nicht so, wie sich das der kämpferische Anti-Theismus vorgestellt hat.

Wie jede andere Kunstform auch ist das religiöse Poem historisch eingebettet. Zu einer Zeit ist es aktuell, zu einer anderen nicht mehr. Mit der Moderne, mit dem wissenschaftlichen Wissen, mit den Anforderungen des kritischen Verstands sind unsere religiösen Traditionen nicht kompatibel. Das religiöse Poem erschliesst nicht mehr die Lebenswirklichkeit, es wechselt hinüber in die Anthologien, ins Museum.

Aber es wäre ein grosser Fehler, es dort einzuschliessen und zu vergessen. Die Kunstwerke der Vergangenheit sind die Substanz der Kunstwerke von morgen.

Wenn es  einen Kerngehalt der Religion gab, dann war das „Heiligkeit“. „Heilig“ – das Wort ist heute kaum zu verstehen. Es scheint etwas mit Tabu zu tun zu haben, mit Status, Hierarchie, dann aber auch mit Wert, mit Kostbarkeit, mit einer gewissen Stimmung, einer Stimmung des Erschüttertseins, einer in sich widersprüchlichen, einer ernst-heiteren, vielleicht auch einer feierlichen Stimmung. Dass „alles irgendwie heilig ist“ scheint eine der Grundintuitionen aller Religionen gewesen zu sein; wer sich auf sie einlässt, empfindet etwas wie „Demut“, die keine Unterwürfigkeit ist, sondern letztlich wohl nur eine realistische Einschätzung der menschlichen Daseinssituation, poetisch vermittelt.

Die Heiligkeit als Kategorie wird in der Moderne nicht Fuss fassen können. Sie ist zu spezifisch religiös, sie ist ein Attribut, das zu Gott oder den Göttern gehört, sie wird im Museum bleiben. Aber die entheiligte Welt der Moderne, das haben wir wohl inzwischen begreifen müssen, ist auch keine vollständige Welt. Sie ist sicher eine defekte Welt (auf andere Weise defekt, als es die heilig-haltige religiöse war), in mancher Hinsicht vielleicht eine verheerte Welt.

Das Heilige mag eine Farbe sein, oder eine Klangfarbe, die wir nur noch als historische wahrnehmen können. Aber ohne sie stimmt auch etwas nicht, ganz grundlegend. Das ist ein Paradox. Es geht nicht mit dem Heiligen, es geht nicht ohne es.

Die Perspektive, diesen Widerspruch aufzulösen, länge in etwas, das dem Heiligen nachfolgen kann: Darin, auf neue, andere, moderne Weise ein Bewusstsein der, sagen wir: Kostbarkeit der Welt zu entwickeln, des massiv Überwältigenden, das nur notdürftig von unserem schmalen Wissensfundus kaschiert und von unseren ewig hinkenden Gedanken eingehegt wird. Denn letztlich, und mir scheint, je mehr man forscht und nachdenkt, desto mehr kommt man zu etwas in dieser Art, könnte auf alles, was uns umgibt und was wir selber sind gut und gern das alte Wörtchen „Wunder“ passen. Das man, wenn man es auf neue Weise zurichtet und von seiner „Übernatürlichkeit“ befreit, dann durchaus aus diesem Museum herausholen, von Staub befreien und sozusagen in neue Schläuche füllen könnte.

Und insofern ist die Religion dann eben wirklich nichts für den Kehrichthaufen der Geschichte. Eher war sie ein ebenso primitives wie geniales Provisorium einer Art menschlicher Gestaltungen, bei denen es anderes als Provisorien wohl niemals geben kann. Der Versuch, neue derartige Provisorien zu finden, könnte eine zukunftsträchtige Angelegenheit sein. ︎︎︎