Tagebuch über den Krieg

1.


10.12.2022

Bald sind zehn Monate Krieg, ein Tagebuch zu beginnen scheint zu spät. Aber es soll auch kein Protokoll der Ereignisse sein, sondern eines der Gedanken. Die kreisen immer um das gleiche: Zu diesem Krieg hätte es niemals kommen dürfen.

24 Februar: in den Bergen. Morgens die Nachricht vom russischen Überfall. Erste Empfindung (mehr Empfindung als Gedanke): Katastrophe. Unkorrigierbar.

Krim, Donbass 2014 – das war schlimm, aber gerade noch im Rahmen des üblich-Schlimmen. Hingegen jetzt: Verhängnis, totaler Bruch. Das Verbrechen ist in der Welt. Die Büchse der Pandora ist geöffnet.

Natürlich hatten wir seit Monaten über die Situation geredet, und es gab manche, die mit einem Angriff rechneten. Die Mehrheit tat das allerdings nicht, und ich auch nicht. Ich nahm an, es ginge darum, mit Drohungen, Scharmützeln und verdeckten Aktionen den Druck auf Kiew zu erhöhen. Bei einem Krieg gab es für Putin ja nichts zu gewinnen. Dass ihm, oder dem Kreml, dies nicht klar sein könnte, zog ich nicht in Betracht. Rückblickend betrachtet lagen die, die sich weniger mit russischer Politik beschäftigt hatten, vielleicht sogar häufiger richtig.

Ständig die Frage im Kopf: Wieso gibt es jetzt diesen Krieg? Ihre Naivität war mir klar. Aber es war so unfassbar. Die ersten Tage stürzten die Gedanken nur ins Leere. Alle Erklärungen schienen entweder zu schwach oder absurd. Die Nachrichten waren verworren. Was wirklich vor sich ging, war kaum einzuschätzen.

Abends am 24. gepostet: „Was für ein Wahnsinn. Noch gestern hielt ich das für nahezu undenkbar. Eine Katastrophe. Jetzt schliesst sich der Kreis. Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser im September 1999 – Angriff auf die Ukraine 2022. Das gleiche Gefühl der Unfassbarkeit. Das eine war ein Anfang, leider ist nicht absehbar, wie das andere ein Ende sein könnte.“

Im Kopf und in den eigenen Notizen vor allem das Adjektiv „schwarz“. ︎︎︎ ︎︎︎




2. 


11.12.2022

Tsygankov, den man lesen muss, wenn man wissen will, wie der Kreml dächte, wäre er intelligenter, schrieb am 24. Februar lakonisch: „Ein schwerer Tag, Entscheidung zum Krieg. Die Falken haben die Oberhand behalten. Auf beiden, sogar auf allen drei Seiten. [...] Die Entscheidung zum Krieg war ein Resultat der Ambitionen und der in der Augen der beteiligten Seiten unerfüllbaren Forderungen. Hoffen wir auf eine baldige Beendigung der Kriegshandlungen und eine Rückkehr zur Diplomatie. Auf einen baldigen Frieden für alle Einwohner der Region.“ Eine seltsame Entscheidung ohne Entscheider. Ein reines Resultat? Kein Unterschied zwischen den beteiligten Seiten? Bei niemand Wahlmöglichkeiten, keine Verantwortung?

Grundsätzlich gibt es zwei Erklärungsmuster für die Entstehung des Krieges: aus dem russischen Imperialismus und aus dem internationalen System. Hier (im „Westen“) wird das zweite vollumfänglich als russische Propaganda abgetan, aber da wäre ich vorsichtig. In der Darstellung als alleinige Ursache ist es selbstverständlich Propaganda, aber als ein Faktor unter vielen verdient es sehr genaue Überlegung. Der grösste Fehler ist aber sowieso ein anderer: Zu meinen, dass diese beiden Ursächlichkeiten einander ausschliessen, also dass die Ursachen entweder im russischen Imperialismus oder in Dynamiken des internationalen Systems zu suchen sind. Es ist viel komplizierter. Es gibt zwischen beiden kein Entweder-oder, sondern ein – asymmetrisches – Sowohl-als-auch. Beide Faktoren spielen eine Rolle, allerdings der eine (russ. Imperialismus) mehr als der andere (int. System). Die Frage, die ich mir seit Monaten stelle, ohne sie wirklich zu greifen zu bekommen, ist: bedingen sie einander auch, in irgendeiner Form? Verstärken sie einander sogar?

Man kann nicht über den Krieg nachdenken, ohne über Medien nachzudenken. Medien propagieren (im Sinne von: vervielfältigen) Deutungsmuster. Insofern ist jede Medialität dem Risiko ausgesetzt, einzelnen Deutungsmustern zu unverdienter Hegemonialität zu verhelfen, und muss sich zu ihm in irgendeiner Weise verhalten.

Dabei muss man bewusste, gesteuerte, eigentliche Propaganda unterscheiden von einer medialen Konsonanz, die sich quasi von selbst ergibt, systemisch, ohne dass jemand aktiv dafür sorgen müsste. Die zweite ist nicht im eigentlichen Sinne manipulativ (und ich glaube auch nicht, dass, in Chomskys Sinne, vor allem corporate interests hinter ihr stehen). Dennoch schafft jede Medialität ein spezifisches informationales Ökosystem, und man muss sich fragen, wie unabhängig von ihm man selbst in seinem Urteilen eigentlich sein kann. (Vermutlich nicht sehr, daher ist es wichtig, für einen guten Zustand dieses Ökosystems zu sorgen.)

„Militärische Spezialoperation“ – das ist Propaganda und ein Begriffsschwindel. Mir scheint fast, das Wort steht inzwischen vor seiner Ablösung. Noch unglaublicher: „Militärische Spezialoperation zur Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine.“

Am 24. sollte I. mit der Bahn kommen und wir dann zusammen zurückfahren. Wir haben es dabei gelassen, aber die zwei Tage verbracht wie in einem Nebel. Der Holzofen in der Küche, die Seilbahn, die Menschen im Café: Unwirkliche Wirklichkeit, zu der man gar keine Verbindung herstellen konnte. Unauflösbare gedankliche und emotionale Dissonanz, Dissoziation der inneren Vorgänge von der Wahrnehmung. Innerlich, seelisch nur bei diesem Krieg. Nachrichten, Telefonate. Frage auch: Was bedeutet das für die Angehörigen? Familie sowohl in Russland wie in der Ukraine. Inzwischen sind aus beiden Ländern Verwandte geflohen aufgrund des gleichen Kriegs.  ︎︎︎︎︎︎




3. 


14.12.2022

Bereits Mitte März, nach nur drei Wochen Krieg, gab es russische Angriffe auf Krankenhäuser. Sehe, dass ich gepostet habe: „Die Russen begehen also einen Anschlag, um den Ukrainern zuschreiben zu können, diese haben einen Anschlag auf sich selbst getätigt, um ihn wiederum den Russen in die Schuhe zu schieben. Eine false false flag-Operation.“

Die uralte Frage, wie mit dem Bösen umzugehen ist. Kann man das Böse besiegen? Wann führt das besiegen-Wollen im Gegenteil zu einem Vermehrung des Bösen? Wie sonst lässt sich das Böse überwinden? In welchen Fällen ist es besser, darauf zu setzen (darauf zu warten?), dass das Böse sich selbst überlebt? – Man kann sagen, dafür ist es jetzt sowieso zu spät. Aber was dann stattdessen?

Verhindern oder bestrafen?


Bombardierte Krankenhäuser, Butscha, Massengräber, zerstörte Kraftwerke, Aushungern: Die russischen Kriegsgräuel und Kriegsverbrechen sind eine Konstante seit Beginn dieses Kriegs, nein, sogar seit den Tschetschenienkriegen (und man kann sie sicher noch weiter zurückverfolgen). Aber ich frage mich, was die richtige Reaktion ist auf sie – sie zu bestrafen? Juristisch gesehen: ja. Aber eine juristische Bestrafung kann, wenn überhaupt, erst nach dem Krieg geschehen, denn dafür ist ein Regierungswechsel in Moskau notwendig oder eine (totale) Niederlage Russlands oder Russlands Zerfall. Wird der stattfinden? Und ist er wünschenswert? Ilya Matveev hat gerade dazu getweeted: „You may consider [Russia's disintegration] justice. That's one thing, but don't pretend this has anything to do with making the lives of the peoples that inhabit Russia better. It's no use cloaking hate with "good intentions".“ 

Die Frage, die sich jetzt stellt, während der Krieg fortdauert, ist nicht die juristische, sondern: Sind die Kriegsgräuel ein Anlass für militärische Bestrafung? Sind sie ein Argument dafür, die militärische Unterstützung der Ukraine zu intensivieren? Die humanitäre Intuition sagt uneingeschränkt: ja. Aber man muss zwei Dinge auseinanderhalten: Das Verhindern neuer Verbrechen und das Bestrafen der bereits begangenen. Wenn zusätzliche Waffenhilfe neue Verbrechen verhindern kann, dann ist das ein Grund, sie zu leisten. Die Bestrafung bereits begangener solcher Verbrechen kann aber kein Grund sein, denn erstens müsste die Strafe die konkreten Täter treffen, also die Ausführenden und die Befehlshaber, und nicht unterschiedlos ein kollektives „Russland“ oder solche Teile der russischen Armee, die zwar das Verbrechen des Angriffskriegs ausführen, nicht aber die konkreten Kriegsgräuel und Kriegsverbrechen, und zweites müsste diese Strafe, wenn wir auf die Etablierung einer internationalen Rechtsordnung hinzielen, eben auch eine juristische sein, eine juristische begründete und durch internationale Organisationen legitimierte. 

Obwohl es also derzeit um das Verhindern gehen müsste, scheint in Politik und Medien die Logik des Bestrafens zu überwiegen. Im Zusammenhang mit russischen Kriegsverbrechen findet sich fast immer eine Rhetorik des Jetzt-erst-recht. Selbst wenn die Massnahme, um die es geht, etwa die Lieferung konkreter Waffensysteme, dann tatsächlich zu einer Verhinderung weiterer Verbrechen führt – die Motivation ist die falsche. Oder an dieser Motivation ist etwas Falsches, nämlich die seltsame Begeisterung, die sich in ihr findet, die Begeisterung, nun gegen das Böse, das sich in den Verbrechen kundgetan hat, angehen zu können. Manchmal scheint es eine regelrechte Strafbegeisterung zu sein.

Dabei müsste doch die Haltung eigentlich eine ganz andere sein. Keine der Begeisterung, sondern im Gegenteil eine des Entsetzens, eine, sozusagen, der ethischen Zerknirschung: „Wir müssen“ – so ungefähr hätte es dann zu klingen – „fürchterlicherweise zur Verhinderung weiterer derartiger Gräuel und Verbrechen selbst zunächst etwas Schreckliches tun, nämlich Maschinen zur Zerstörung von Technik und vor allem auch von Menschenleben liefern und diese müssen auch angewendet werden. Ja, es ist ein Abstieg in die archaischen Rohheiten des Menschseins, es ist eine Tragödie, dass wir dies tun müssen, wir tun es unter allergrösstem Widerstreben und sind uns dessen bewusst, dass wir selbst uns damit einer Praxis unterwerfen, die wir eigentlich aufs Schärfste verurteilen, nämlich der Praxis der zerstörerischen Gewalt, und dass wir sogar unsere eigene Menschlichkeit damit in eine Gefahr bringen könnten. Aber es muss sein, in diesem absoluten Ausnahmefall und unter schärfster Begrenzung der einzusetzenden Mittel, denn nur so kann hoffentlich die Wiederholung derartiger Gräuel verhindert werden.“ Eine solche Rhetorik wäre angemessen, nicht eine der Begeisterung.

Und selbst wenn die Massnahme – die Waffenlieferung – nachher die gleiche wäre: Dass getötete russische Soldaten ein „Erfolg“ sind und nur getötete ukrainische ein „Verlust“, will mir dennoch nicht in den Sinn. Beide sind zunächst einmal Opfer des Krieges, so unterschiedlich ihre Beweggründe sein mögen, an ihm teilzunehmen. ︎︎︎︎︎︎





4. 


17.12.2022


Gestern hier zu Hause herumgealbert. Erinnerung: Wie die erste Zeit gar keine Freude oder Heiterkeit möglich war, und als sie dann doch irgendwann sich wieder Durchbruch verschaffte, war sie immer mit einem mächtigen Gefühl von Schuld verbunden. Inzwischen taucht dieses Gefühl nicht mehr auf. Auch hier: Gewöhnung, Anpassung. Die Unterträglichkeit des Krieges hat sich eingeschrieben in die Tausend anderen Unerträglichkeiten unserer Welt. Man arrangiert sich – fürchterlich.

Selektives Expertentum


Es gibt Parallelen zwischen dem Kriegs-Expertentum und dem Covid-Expertentum.

Bei Covid standen Vertreter einer der relevanten Wissenschaften, nämlich der Virologie, noch dazu solche mit einem der möglichen metawissenschaftlichen Programme in ihr, plötzlich als die alleinigen Experten da (exemplarisch: Drosten), obwohl zur Bewältigung der Krise eine Integration der verschiedensten Wissenschaften und Erkenntnisse nötig gewesen wäre. Ausser der Virologie wäre vor allem die Public Heath Science wichtig gewesen, aber auch die Epidemiologie, die Hygienewissenschaft, andere. Aber die sind nicht mehr zu Wort gekommen, und die Mechanismen dahinter sind vielfältig und in manchem rätselhaft.

Es gab einen Expertenkrieg, Drosten hat die, die nicht seiner Meinung waren, als Pseudoexperten diskreditiert, mit sozialmedialer Macht wurden die Heterodoxien diszipliniert, Streeck, als Drostens Gegenspieler, wurde regelrecht moralisch niedergemacht. Auch wenn jetzt in der Retrospektive die damalige Verzerrung klar wird und sogar der Ethikrat kritisch auf seine eigene Arbeit zurückblickt – man hätte auch früher diese Einsichten haben können. Bei der damaligen Verengung hat sicher mehreres eine Rolle gespielt: Dass Politik Entscheidungen erfordert und Entscheidungen ein Ausschliessen von Optionen und ein Kollabieren des Dissens, dass in der Krise die Angst regiert und die Angst Gewissheiten fordert, dass die Medien mit sich selbst rückgekoppelt sind und so Meinungsspiralen erzeugen. Und manches davon spielt auch jetzt beim Krieg wieder eine Rolle.

Auch derzeit liegt der politisch-epistemische Lead ja wieder bei einer spezifischen Gruppe von Experten. Diese Gruppe ist aber weniger klar erkennbar als das „Team Drosten“ es war. Sie konstituiert sich eher durch eine Schnittmenge von Fachrichtungen und Werten. Es sind die Historiker, Politologen, IB-ler, Thinktankler mit einer liberalen Wertekonstellation. Was bei den Thinktanklern bedeutet, dass fast durchgehend alle ihrer Vertreter dazugehören, denn Thinktanks sind in politische Systeme eingebunden. Bei den Vertretern der eigentlichen Wissenschaften sind die Leader aber tatsächlich eine Teilmenge ihrer jeweiligen Fächer. Man könnte könnte hier leicht Namen aufzählen für die Orthodoxen und die Heterodoxen, aber den Platz spare ich mir.

Bemerkenswert ist, dass diese Leader-Gruppe durch einen Erkenntnis- und durch einen Wertefaktor zusammenkommt, sie ist sozusagen value-epistemically oder valorepistemisch konstituiert. Oder, wenn man es neutraler ausdrücken will, geht es einerseits um Dogmen, andererseits um Fakten. Wobei aber die Auseinandersetzung selbst vollständig epistemisiert wird, man streitet sich – scheinbar – ausschliesslich um Wahrheiten, darum, „wer Recht hat“, und der dogmatische Co-Charakter dieses Streits wird weder für die Kontrahenten noch für das Publikum durchsichtig gemacht. Denn auch wenn eine Gruppe den Lead hat – einen Streit gibt es ja dennoch, einen antihegemonialen.

Man kann aber auch nicht sagen, dass es nur um Hegemonie geht, so wie es von der Heterodoxie greframed wird. Dann würde man wiederum den epistemischen Charakter der Auseinandersetzung ausblenden.

All das ist hochgradig kompliziert und voller Stolperfallen. Die erste Komplikation besteht darin, mit der Wertigkeit von Werten umzugehen. Können die Liberalen für sich in Anspruch nehmen, die „besseren Werte“ zu haben? Und selbst wenn – was hiesse das für den Umgang mit denen, die die „schlechteren Werte“ haben? Muss man sie missionieren? Oder im Gegenteil tolerieren (und auf ihre Selbstverbesserung hoffen)?

Ähnlich gelagert ist die metasprachliche Komplikation. Wenn man den Wertediskurs vermeiden will (um die erste Komplikation zu vermeiden), muss man mit Begriffen wie Dogma oder Ideologie umgehen. Hier hat man das Gegenproblem: Diese Begriffe erscheinen nun zu wertfrei, zu beliebig. Während Werte zwangsläufig besser oder schlechter sind, sind Dogmen und Ideologie zwangsläufig „irgendwie gleichwertig“. Und meist versteht man: „irgendwie gleichschlecht“. Keiner will eine Ideologie haben, aber jeder die richtigen Werte.

Die dritte Komplikation ist aber noch viel komplizierter als die ersten beiden, denn sie hat mit Kontrafaktischem zu tun. Nehmen wir an, dass die meinungsführenden Spezialisten tatsächlich in einem übergeordneten Sinne „mehr Recht haben“ als ihre heterodoxen Gegner. Bedeutet das, dass sie dann „einfach Recht haben“, dass sie „tatsächlich, wirklich Recht haben“ und Punkt? – Natürlich nicht. Es könnte immer noch sein, dass sie sehr falsch liegen, und dass andere (auch andere Spezialisten) sehr viel rechter haben, nur dass es diese aus irgendeinem Grund nicht gibt oder dass sie nicht in Erscheinung treten. Man könnte das das Problem der Schattenepistemologie nennen (oder der Schatten-Dogmepistemologie). Und es ist nicht einfach ein spekulatives Problem, sondern ein ganz handfestes. Denn die Expertogenese, um es einmal so zu nennen, ist abhängig von den politisch-wissenschaftlichen Institutionen, sie ist ein situierter Prozess. Und das heisst, dass andere Institutionen andere Experten hervorbringen und dass nicht wissbar ist, welche alternativen Expertisen es ausserdem gäbe und ob die den bestehenden Expertisen überlegen sind.

Zunächst bedeutet das, dass auch die beste aktuelle Expertise niemals einen Anspruch auf Apodiktizität erheben darf. Es bedeutet aber auch, dass die aktuellen Leader womöglich nicht die besten Politiken (Handlungsrezepte) propagieren und dass die von ihnen propagierten Politiken sogar schlecht sein können, obwohl sie die besten verfügbaren sind.

Und ich glaube, dass genau das aktuell der Fall ist. Ich vermute – und mehr als eine Vermutung kann das erstmal nicht sein –, dass aufgrund der Präselektion selbst diejenigen Expertisen, die allen anwendbaren Kriterien nach (Testbarkeit, Kompetenz, Plausibilität etc.) derzeit mit Recht als die besten gelten dürfen, weit davon entfernt sind, die tauglichsten Politiken vorschlagen zu können oder diejenigen Diskurse zu induzieren, die zu den nachhaltigsten, belastbarsten Einschätzung den Lage führen könnten. Was sie am meisten daran hindert, ist, denke ich – und hier würde sich wieder eine Ähnlichkeit zur Covid-Problematik zeigen – der Mangel an Integration der verschiedenen Wissensgebiete, Denk- und Politikansätze. Ein besonders grosses Manko scheint mit die Vernachlässigung der grossen Zeitspannen (in der Rekonstruktion der Vorgeschichte und in der Prognose der Konsequenzen) und die Vernachlässigung der Aufgabe, dritte Perspektiven zu suchen, die weder mit der des Angegriffenen noch mit der des Angreifenden zusammenfallen. ︎︎︎︎︎︎





5. 


19.12.2022


Alles Denken ist motiviertes Denken. Man könnte auch sagen: Alles Denken ist wishful thinking.  Es ist nicht möglich, in der Diagnose, wie etwas ist, abzusehen davon, wie man will, dass es sein sollte. Das Wollen mischt sich unausweichlich immer ein. Und zwar umso mehr, auf je wackeligeren empirischen Beinen etwas steht. Wenn das gilt, dann gilt es auch für mich.

wishful thinking


Und in der Tat beobachte ich mich dabei, wie ich Dinge ausblende. Genauer: nicht beim Akt des Ausblendens selbst, denn der geschieht, und darin liegt ja das Gefährliche, unbemerkt. Was ich aber bemerke, das ist, wenn ich mit etwas konfrontiert werden, von dem ich zwar weiss, dass ich es eigentlich weiss, das aber in meinen Überlegungen keine oder nur eine geringe Rolle spielt, obwohl es in denen anderer Menschen, und zwar solcher, die mindestens ebenso kompetent sind wie ich, eine grosse spielt.

Das Beispiel, an dem mir das kürzlich wieder aufgefallen ist, ist das Budapester Memorandum. Natürlich bin ich mit ihm vertraut – nicht mit dem Wortlaut, aber mit seinem Inhalt und Sinn. Natürlich weiss ich auch, dass das Budapester Memorandum – mit Ausnahme einer wenig ernstzunehmenden Episode wegen US-Sanktionen gegen Belarus – von Russland gebrochen wurde und von niemand sonst, und zwar sicher 2014, erst recht 2022, und auch in den Jahren dazwischen.

Ich habe jetzt „gebrochen“ geschrieben, aber man hätte auch „verletzt“ schreiben können, und dass nicht klar ist, welches Verb das richtige ist, ist bezeichnend und für die Beurteilung der Situation äusserst wichtig: Bei diesem Schriftstück bleibt in der Schwebe, ob es sich um eine politische Wissenserklärung handelt, die die damaligen Intentionen widerspiegelt, oder um ein völkerrechtlich bindendes Abkommen. Die Mehrheitsmeinung scheint zwar in Richtung des ersten zu tendieren, aber eindeutig ist es nicht. Ein Dokument mit einem vagen, ambivalenten Status.

Dass ich die Tendenz habe, ausgerechnet das Budapester Memorandum (1994) auszublenden, ist von daher besonders vielsagend, dass es mit dem Versprechen der Nicht-Ausdehnung der Nato von 1989 in einer Art Symmetrieverhältnis steht. Beides sind Abkommen, von denen nicht klar festzustellen ist, wie bindend sie sind, beide sind jeweils mit ziemlicher Eindeutigkeit von einer der grossen Konfliktparteien (USA / Russland) gebrochen oder verletzt worden, und vor allem: Beide nehmen antagonistische Schlüsselpositionen in den Argumentation zur Verantwortlichkeit für den Krieg ein, und zwar einander ausschliessende Schlüsselpositionen.

Wer von der Nato-Osterweiterung aus argumentiert, leitet eine besondere Verantwortung der USA für den Weg in den Krieg daraus ab, dass die USA (bzw. die Nato) „ihr Wort gebrochen“ haben. Ebenso leiten stellen die, die die Verantwortung Russland in der Entwicklung hin zum Krieg betonen wollen, dies vom Bruch des Budapester Memorandums ab. Die Tatsache, dass ein Akteur Regeln oder ein Abkommen gebrochen hat, stattet ihn mit grösserer Verantwortung aus. Natürlich ist alles komplizierter, denn bei der Nato-Osterweiterung geht es nicht nur um ein Abkommen, sondern auch um Strategie und Klugheit; beim Budapester Memorandum geht es nicht um die Genese des Kriegs, sondern um den Krieg selbst. Dazu steht das Budapester Memorandum kontrafaktisch im Zusammenhang mit der Wehrhaftigkeit der Ukraine – und damit sogar indirekt wieder mit der Frage der Nato-Mitgliedschaft. Aber dem motivierten Denken sind derartige Feinheiten egal. Es operiert nur mit den belastenden Momenten, die aus dem jeweiligen Abkommens-Bruch resultieren, und mit ihrer Kontamination der Verantwortlichkeiten.

Nun kann es so ausschauen, als wollte ich Russland „entschuldigen“ dadurch, dass ich das Budapester Memorandum eher tendiere auszublenden, aber das wäre auch eine schiefe Darstellung. Eher ist es so, dass mich die Frage der frühen Genese des Kriegs umtreibt, seiner Vorgeschichte, und für die spielt der Bruch des Memorandums bereits keine Rolle mehr (das Memorandum selbst allerdings schon). Das ist einer der Faktoren, weshalb mein Denken das Memorandum ausblendet. Aber ein zweiter ist auch, und das ist der, der mich hier interessiert, dass ich die Tiefenverantwortung für diesen Krieg tatsächlich mehr beim Westen sehe (sie muss unterschieden werden von den unmittelbaren Verantwortung und der direkten Schuld, die beide bei Russland liegen), und dass daher Faktoren, die in einer anderen Betrachtung zentral sind und die den Westen zu ent-verantworten scheinen, von meinem Kognitionsapparat depriorisiert werden.

Das ist erst einmal eine Einsicht, die ein wenig schmerzhaft, vielleicht auch ein wenig beschämend ist, und mit der ich mich auseinandersetzen muss. Ich stelle mir aber auch eine andere Frage, und dieser Frage wegen schreibe ich dies alles überhaupt auf. Sie lautet: Sind sich auch diejenigen, die umgekehrt die Nato-Osterweiterung (bzw. das Versprechen der Nicht-Erweiterung und die strategischen und Klugheits-Überlegungen) als irrevelant verwerfen, sich dessen bewusst, dass eben auch sie, nur eben symmetrisch-andersherum, etwas ausblenden? Ich sehe dafür wenig Anzeichen. Wie könnte man dieses Bewusstsein hervorrufen oder erwecken? Denn es ist ja offensichtlich, dass man ohne die Berücksichtigung der Nato-Osterweiterungs-Frage genausowenig diesem Krieg gerecht werden kann wie ohne Berücksichtigung des Budapester Memorandums.

Wenn man im eigenen Auge wenigstens den Splitter sehen würde. ︎︎︎︎︎︎






6. 


23.12.2022

Sich arrangieren


Als 1999 / 2000 Putin an die Macht kam, war Russland für mich gelaufen. Ich hasste ihn, wie ein Oppositioneller by association ihn nur hassen konnte (und wir westlichen Wahl-Oppositionellen übertreffen unsere Vorbilder oft um Längen: Überidentifikation). Wenn damals jemand sagte, dass so ein starker Präsident für das Land doch vielleicht nur gut sei, bewies ich ihm, dass Putin Russland in einen Verbrecherstaat umbaute. Und dieser Beweis fiel mir nicht schwer, denn so war es ja in der Tat. Die Niedertracht war ebensosehr zum Merkmal des Putinschen Russland geworden wie es der Alkoholismus im Jelzinschen war.

Heute ist mir Putin nicht lieber, als der es damals war, aber mein Hass ist einer stillen Ablehnung gewichen, auch einer gewissen Gleichgültigkeit. Vor allem aber sage ich heute: Nichts wäre fataler, als Putins Russland zerstören zu wollen. Noch vor acht Jahren stand ich auf dem Bolotnaja-Platz und rief mit meinen Freunden zusammen: Russland ohne Putin! – Geht das zusammen?

Russland ohne Putin hiess damals: Putin solle die Präsidentschaft, die er durch gefälschte Wahlen gestohlen hatte, zurückgeben. Es hiess, Putin sollte durch demokratische Mittel entfernt werden, nicht durch militärische. Das ist der erste Unterschied zu heute. Ein Unterschied der Situation und der Bedingungen.

Es hat sich aber noch anderes geändert seitdem: Meine Weise des Urteilens hat es, und vor allem die Welt hat es.

Für mich war Putin damals ein Bruch, und ich sah nicht, dass er zugleich auch eine Kontinuität war. Er wurde Präsident, weil er Jelzins Korruption zu decken bereit war. Er nahm die Tschetschenien-Kriege wieder auf, die Jelzin begonnen hatte. Er war in vielem nicht Jelzins Gegenstück, sondern seine Fortführung, seine Verlängerung. Diese Doppelnatur – zugleich Bruch und Kontinuität – sah ich damals nicht, weil meine embeddedness in der russischen Opposition mir gar nicht erlaubte, sie zu sehen.

Dass die Welt sich verändert hat, ist aber ein viel folgenschwerer Gedanke. In seiner banalsten Form lautet er: Putin ist nunmal da, und es hat keinen Zweck, sich zu wünschen, dass er es nicht sei. Die Hoffnung, es möge ein anderes Russland geben, kann nun nur noch eine darauf sein, dass sich das Putinsche in ihm überlebt. Russland ohne Putin ist, so wie wir es damals verstanden, schon lange nicht mehr möglich, ja nicht einmal mehr denkbar. Das einzige, was es noch geben kann, ist Russland nach Putin.

Diese Feststellung macht mir Angst. Denn es scheint, es gibt gar keine andere Möglichkeit als sich mit der sich jeweils herausbildenden Realität, auch wenn man sie noch so ablehnt, zu arrangieren. Das scheint opportunistisch und willenlos. Man biegt sich unter die Realität, selbst wenn man „gegen sie ist“ – denn so zu tun, als gäbe es sie nicht, wäre Dummheit, Verleugnung der Wirklichkei, utopischer Trotz.

Die faktische Gewalt des Faktischen. Oder die faktische Gewalt des Kontingenten. Denn es hätte ja immer, an jeder Stelle der Geschichte dieser letzten 20, 25 Jahren, ganz anders kommen können.

Und das ist eigentlich das Beängstigende daran. Dass bereits das Auftauchen Putins kontingent war (von der Vorgeschichte gar nicht zu reden). Und selbst kontingent ist hier nicht das richtige Wort, und ich verwende es nur, weil ich kein besseres finden kann.

Kontingent hiesse ja, dass etwas abhängig ist von unverfügbaren, unbeeinflussbaren Bedingungen, aber so funktioniert Geschichte nicht, sie ist nicht ein Experiment unter Bedingungen, die wir nicht kennen. Sondern Geschichte entsteht, indem ständig Möglichkeiten, die extrem weit und meist konträr aufgefächert sind, in Aktualitäten kollabieren, und augenblicklich an diesen Aktualitäten neue Fächer von Möglichkeiten entstehen, die ihrerseits in eine Aktualität kollabieren und so weiter. Was wir letztlich haben, das, was unsere Realität wird, ist ein Entstandenes (ein Generat) durch rekursive Selektion der Selektion in einer x hoch n-ten Iteration, wobei die Selektion keinerlei verallgemeinerbaren Kriterien folgt (sie geht ganz sicher nicht nach „fitness“).

Das heisst, das, woran wir uns „gewöhnen“ (weil die Rebellion dagegen eine Wirklichkeitsverleugnung wäre), womit wir uns arrangieren, ist dieses Selektions-Generat, das zu unserer Welt geworden ist, obwohl es astronomisch (brontal) viele andere mögliche Verzweigungen gegeben hätte, die auf jedem Schritt ihre eigenen Realitäten generiert hätten. Man kann noch nicht einmal sagen, dass das Aktuelle eine „Auswahl aus den Möglichkeiten“ ist, weil selbst die Möglichkeiten noch wenige Schritte zuvor gar nicht existierten, nicht einmal als Potenzialitäten.

Putin hat es tatsächlich „geschafft“, eine unabweisbare Faktizität oder Faktualität zu generieren, oder „es ist mit ihm dazu gekommen“, dass sich ein solches ausserordentlich massives historisches Generat herausgebildet hat. Und da liegt eben der grosse Unterschied: Damals, als wir noch hoffen konnte, Putin demokratisch loszuwerden, waren wir in der Situation prä-faktum eines Faktes, das wir nicht kennen konnten, das aber  heute schlicht die Welt ist, das allem zugrundliegt, was wir an Handlungen in diesen Krieg tun an an Gedanken in diesem Krieg denken können.

Und das Erschreckende daran ist, dass diese Unabweisbarkeit des historischen Generats nicht nur im Falle Russlands über die vergangenen Jahrzehnte gegeben ist, sondern auch, zum Beispiel, im Falle der Nato über die vergangenen Monate. Ich kann noch so sehr dagegen sein, dass Europa sich der Nato unterordnet, ich kann so sehr für eine europäische Selbstständigkeit sein (was ich ganz entschieden bin!) – die „Selbstaffirmation des Westens“, die derzeit so bejubelt wird, generiert gerade ihre neue, eigene Realität, gegen die wiederum keine wirkungsvolle Auflehnung möglich sein wird.

Das ist überhaupt das Hauptproblem: Gegen Putin zu sein, ohne davon Transatlantiker zu werden. ︎︎︎︎︎︎<





7. 


22.01.2023

Circular feedback


Es ist zu spät. Diese Dynamik wird nicht aufzuhalten sein. Es gibt nur einen winzigen Hoffnungsschimmer: Das wäre, dass nach Putin die gemässigten Pragmatiker die Macht im Kreml übernehmen. Zum heutigen Zeitpunkt unwahrscheinlich.

Die Westwendung der Ukraine ist für Putin eine existenzielle Bedrohung Russlands. Damit mag er falsch liegen, aber das ist egal, denn niemand wird ihn vom Gegenteil überzeugen.

Für die Westwendung der Ukraine (ihr Aufgeben einer ost-westlichen Zwischen-Rolle) gibt es drei Gründe: Ein Zunehmen der pro-westlichen Präferenzen innerhalb der Ukraine selbst (siehe Maidan); eine reaktive Westorientierung infolge der russischen Interventionen 2014-2015 (Krim-Annexion, schüren des Donbass-Konflikts) und eine aktiv betriebene westliche Assoziationsbereitschaft.

„Halb zog sie ihn, halb sank er hin“ – hier ist es gedrittelt: Teils wollte die Ukraine nach Westen, teils rettete sie sich vor den gewalttätigen russischen Avancen, teils zog der Westen sie zu sich.

Diese drei Faktoren verstärken einander gegenseitig: intrinsische West-Hinwendung verstärkt russische Intervention verstärkt westliche „Annahmebereitschaft“ (accueillance) – und das im Kreis. An verschiedenen Stellen in der Geschichte hätte diese Mechanik unterbrochen werden können, nun ist die Dynamik irreversibel.

Für Putin ist die Bedingung für Frieden, dass die Ukraine nicht westlich sein darf. Diese Bedingung ist inzwischen unerfüllbar – wofür sein eigener Krieg massgeblich mit verantwortlich ist. Es kann also keinen Frieden mit Putin geben, sondern nur weiteren Krieg mit Putin. Der wird sich solange hinziehen, bis Putin die Macht verliert – entweder an die Hardliner oder an die Pragmatiker.

Die Hardliner werden den Krieg eskalieren, und zwar in umso rücksichtsloserer Weise, je knapper ihre Ressourcen werden. Dieses Szenario ist der Tanz auf dem Vulkan – es ist zu 100% unkalkulierbar. Derzeit scheint es das wahrscheinlichere.

Verliert Putin hingegen die Macht an die Pragmatiker, kann der Krieg enden und es stellt sich die Frage der Neuaufstellung Russlands, innen- wie aussenpolitisch. Damit das Kriegsende nicht als Niederlage weiterwirkt, die nach Revision schreit, müsste Russland eine radikale politische und kulturelle Wende vollziehen: Es müsste seine Identität neu definieren als ein Land, das die Ukraine zurecht verloren hat und das sie auch nicht braucht, um zu bestehen und zu florieren. Dass das geschieht, ist nicht unmöglich, aber es ist schwer vorstellbar. Damit ist selbst das beste Szenario langfristig noch ein schlechtes.

Um wirklich zu einem guten Ergebnis zu kommen, hätte die dreifache, zirkuläre Selbstverstärkung zwischen ukrainischer West-Tendenz, westlicher accueillance („Annahmebereitschaft“) und russischer Intervention früher unterbrochen werden müssen.

Nun kann dies nur noch durch einen selbstschädlichen Full Stop geschehen: Dadurch, dass die Ukraine selbstschädlich auf ihre Westeinbindung verzichtet und sich noch nicht einmal „finnlandisiert“ (was vor dem Krieg ggf. noch möglich gewesen wäre), sondern „belarussisiert“ (ausgeschlossen); dadurch, dass Putin-Russland selbstschädlich die Westeinbindung der Ukraine akzeptiert (ausgeschlossen) oder dadurch, dass der Westen seine accueillance zurücknimmt und die Verteidigungs-Hilfe für die Ukraine unter die (paradoxe) Bedingung stellt, dass die Ukraine zugleich ihr Projekt der West-Orientierung aufgibt und auf einen Ost-West-Zwischenstatus hinstrebt, der von Russland UND der Nato gemeinsam garantiert werden müsste – ebenfalls so gut wie ausgeschlossen.

Ich sehe wirklich keine anderen realistischen Szenarien als eine langdauernde Kaskade mehr oder weniger grosser politischer, militärischer und humanitärer Katastrophen. ︎︎︎︎︎︎





8. 


26.01.2023

Europa


Noch aus einem anderen Grund stört mich der Modus, in dem die Debatte über die Waffenlieferungen geführt wird: Ich bin kein Transatlantiker. Ich bin klar und eindeutig Europäer. Ich bin für ein eigenes, selbständiges Sicherheitsbündnis Europas. Und ich bin für ein politisch stärker integriertes Europa, im Sinne eines Staatenbunds eben mit einer gemeinsamen, modernen, selbstverantworteten Bereitstellung von Sicherheit. Der Hauptfaktor in dieser Sicherheitserzeugung muss die Diplomatie sein, mit einer minimalistischen, aber schlagfähigen militärischen Komponente.

Dieses Europäertum erscheint mir aus verschiedenen Gründen eine Selbstverständlichkeit. Wirtschaftspolitisch sowieso, aber auch geopolitisch: Europa bildet eine natürliche geopolitische Einheit. Auch historisch: Europa hat seine inneren Kriege durchgemacht und überwunden, sein Modus ist bereits die Koordination (wobei man natürlich kritisch fragen muss, inwieweit der europäische Frieden eine pax americana ist – dieser Einwand ist gewichtig). Politisch-kulturell: Europa bildet eine Vielheit in der Einheit, es hält in sich ständig Alternativszenarien für sich selbst bereit, seine Vielstimmigkeit äussert sich nicht nur in den europäischen Sprachen, sondern auch in intellektueller Diversität. Und natürlich ist Europa im Kontext globaler Politik ein naheliegendes Konzept: Sowohl die Zeit der Konfrontation zweier Systeme als auch der „unipolare Moment“ sind vorüber. Die Multipolarität ist bereits Realität, und das ist zu begrüssen, denn die entscheidenden Probleme sind längst die globalen, sei es im Bereich Klima und Energie, sei es im Bereich Migration und Gerechtigkeit, sei es im Bereich Gesundheit. Die Chancen, diese globalen Probleme friedlich und menschenwürdig zu bewältigen, steigen mit der Etablierung einer multipolaren Ordnung, in der eine Handvoll oder ein Dutzend „Hyperplayer“ vor der Aufgabe stehen, sich miteinander zu vergesellschaften. Die Weltgesellschaft wird entstehen, aber nicht, wie erträumt, als eine homogene, sondern als eine globale Meta-Gesellschaft unterschiedlicher, aber sich miteinander koordinierender politischer Einheiten, die jeweils geprägt sind vom Weg ihrer historischen Entstehung.

Ich bin aber auch deshalb Europäer, weil mir der amerikanische Exzeptionalismus und Interventionalismus suspekt sind. Gerade was den zweiten angeht, darf man ja auch nicht vergessen, dass er eher jüngeren Datums ist: Bis vor 100 Jahren stand an seiner Stelle der Isolationismus, die USA existierten nach ihrer Abnabelung von Grossbritannien wie eine überdimensionierte Insel zwischen zwei Ozeanen, die das Geschehen im Rest der Welt mehr betrachtete, als an ihm teilzunehmen. 

Hier schliessen sich natürlich grosse Fragen an: Haben die USA dann im ersten Weltkrieg Europa vor sich selbst gerettet? Welche Auswirkungen hatte das für die Zwischenkriegsphase, für den zweiten Weltkrieg? Wie steht es um die demokratisierende Wirkung des amerikanischen Interventionalismus? In den arabischen Ländern hat sie sich nicht gezeigt, in Deutschland hingegen doch. Und hier ist man wieder bei der Frage der pax americana.

Im Lichte der neuen Multipolarität ist die Nato in ihrer derzeitigen Form ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Sie ist ein Pakt aus der Zeit der Konfrontation der Systeme – aus der Zeit des kalten Kriegs. Es wird heute fast nie in Frage gestellt, dass die Nato zur Gewährleistung der Sicherheit der osteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch der UdSSR notwendig gewesen wäre. Und natürlich ist der Drang dieser Staaten selbst, von der Nato Sicherheitsleistunge zu erhalten, historisch gesehen verständlich. Aber ich neige eher der These zu, die sich allerdings, da es sich um kontrafaktische Geschichte handelt, nicht belegen lässt: Von Russland ging nach dem kalten Krieg für kein europäisches Land eine reale Bedrohung aus, mit Ausnahme der Ukraine und ggf. der orthodoxen Balkanländer je nach ihrer aktuellen politischen Ausrichtung. Noch nicht einmal Georgien oder die baltischen Ländern hatten vermutlich von Russland etwas zu befürchten. Wobei natürlich insbesondere im Falle der letzteren das Bedürfnis, Sicherheitsgaranten zu finden, überaus verständlich ist. Diese Sicherheit hätte aber auch von Europa bereitgestellt werden können.

Das Russland Jelzins und auch das Russland Putins waren keine imperialistischen Kräfte. Sie waren bellizistisch – das durchaus, wie die Tschetschenienkriege zeigen. Doch dies waren Kriege innerhalb der Russischen Föderation, die kein Modell für Aggressionen gegen europäische Länder darstellten. 

Man kann es tatsächlich so sehen (mit einem caveat), dass die Nato uns selbst und Osteuropa gegen den Schatten eines ehemaligen Feindes geschützt hat, und dieses relikthafte Schützen hat einen guten Teil dazu beigetragen, dass der Schatten wieder mehr und mehr zu einem realen Feind geworden ist. Die Nato, die hier derzeit als einzige Lösung gehandelt wird, hat dann beträchtlichen Anteil am Problem. – Das caveat besteht darin, dass man diesen Schutz auch als einen vorsorglichen betrachten kann. Als solcher wurde er gerade von den Osteuropäern sicher auch oft verstanden, und es hätte wenig Rechtfertigung gegeben, ihn ihnen dann vorzuenthalten. In diesem Fall hat man es dann aber mit einer tragischen Situation zu tun, in der die nichtintendierten Folgen das Projekt sozusagen gegen sich selbst wenden.

Das eigentliche Problem mit Russland war seit 1991 – und natürlich, wenn auch in anderer Weise, weit zuvor – ein innenpolitisches. Jelzins Innenpolitik war chaotisch bis inexistent, Putins war von Anfang an autoritär. Sie mag zunächst ein gewisses Gegenmittel gegen die unter Jelzin florierenden mafia-oligarchischen Strukturen gewesen sein, allerdings war Putins Aufräumen ein „Order without Law“, von daher nicht nachhaltig, und es installierte neue Seilschaften anstelle der alten.

Diese desolaten Innenpolitiken, gemeinsam mit den Gefahren der Rohstofffalle als Modernisierungsbremse, haben es verhindert, dass Russland auf einen Entwicklungsweg kam, der zu einem Florieren des Landes hätte führen können. Sicher äussert sich diese politische Misswirtschaft auch nach aussen hin, in der internationalen Politik. Bei der Krim-Annexion etwa ist schwer auseinanderzuhalten, ob der innenpolitische Gewinn für Putin eher ein Nebeneffekt war oder eine mehr oder weniger entscheidende motivierende Rolle spielte. Dennoch übersetzt sich die Innenpolitik nur indirekt in Aussenpolitik, und es gab nie Anlass anzunehmen, dass Russland sich für einen militärischen Angriff auf europäische Länder – immer: die Ukraine ausgenommen – bereitmachte oder dazu auch nur einen Anlass sähe.

Aus dieser Konstellation: der desolaten Innenpolitik Putins, die auch aus humanitären Gründen, aus solchen der Medienfreiheit, aus solchen der Wissenschaft und vielen anderen mehr förmlich danach schreit, dass sich etwas ändert und die Ära Putin zuende geht; der Antiquiertheit oder zumindest Fehl-Formatiertheit der Nato und der Wünschenswertheit eines selbständig organisierten Europas ergibt sich die Frage, die mich, als vielfach in die russische Lebenswelt Involvierten, seit Beginn dieses Krieges pausenlos umtreibt: Wie kann man gegen Putin sein, ohne Transatlantiker zu werden? Genau das aber ist gefordert.

Und auch daher bin ich mit den derzeitigen Entwicklungen so unzufrieden. Denn anstatt zu mehr Europa zu führen, führen sie zu mehr Nato. Sie untergraben das europäische Projekt – das zudem auch ein Projekt für die Ukraine wäre, und zwar eines, das der Ukraine eine bessere Zukunft in Aussicht stellen könnte als die Nato-Einbindung, die die Ukraine ausausweichlich auf lange Zeit zu einem Frontstaat machen wird, der nur mit höchster Militarisierung existieren kann. ︎︎︎︎︎︎





9. 


28.01.2023

Dritte Wege


Dieser Krieg kann nur durch das Militär und den DAAD gemeinsam zu einem tragfähigen Ende gebracht werden.

Einfach losverhandeln kann man nicht – wer sollte überhaupt mit wem verhandeln? Putin hat geglaubt, die Ukraine mit einer Razzia übernehmen zu können, wie er 2003 Yukos übernommen hat: hineinstürmen, die Schlüsselperson knebeln und abführen. Der Plan ist misslungen. Zu verhandeln haben Putin und Selensky nichts. Aber wer dann? Die Nato? Worüber? Über das Ausmass der Waffenlieferungen? Es lässt sich nicht einmal der Gegenstand, nicht einmal das Thema einer Verhandlung ausfindig machen.

Aber auch, ausschliesslich militärisch gegenzuhalten und zu schauen, was dann passiert, ist eine denkbar schlechte Idee. Entweder man ruft in Russland eine Revolution hervor (den Sturz Putins), mit unabsehbaren Folgen. Oder Putin bleibt, und der Krieg eskaliert. Oder Putin bleibt, und der Krieg geht jahrelang weiter. All das sind Katastrophen auf – unterschiedlich gestaffelte – Raten.

Wie soll das alles weitergehen? Es ist klar, dass die zivilisierten Kräfte, egal ob im Westen, in Russland oder sonstwo, verhindern müssen, dass diese Razzia doch noch Erfolg hat. Deshalb sind bewaffneter Widerstand und Waffenhilfe in diesem absoluten Ausnahmezustand richtig. Sie müssen aber durch Verhandlungen flankiert werden, damit der Krieg zu einem erträglichen Ende kommen kann. Der Preis dafür, auf den „Reifepunkt“ für Verhandlungen zu warten, ist zu hoch – es könnte keinen solchen geben.

Aber wieder: Wer soll verhandeln, und worüber? Es gibt keine Antworten auf diese Fragen. Sie laufen in eine bodenlose Leere, in ein Vakuum. Antworten, ja überhaupt Antwortmöglichkeiten müssen erst geschaffen werden. Es braucht einen regelrechten Prozess der Entwicklung, des R&D, ja der Erfindung, um überhaupt erst einmal Antwortmöglichkeiten auf diese Fragen in die Welt zu bringen.Die Regierungen können diesen Prozess nicht leisten. Sie sind entweder selbst Konfliktparteien oder sie sind dem Konflikt gegenüber indifferent. Die UNO ist blockiert. Die politischen Thinktanks sind politisch – sie beraten ihre jeweilige Seite. Gesucht ist eine unabhängige Instanz, die in der Lage ist, Verhandlungsgegenstände nicht zu identifizieren, sondern zu generieren: Eine Instanz, die dritte Wege erdenken kann, Wege, die die Quadratur des Kreises ermöglichen, die die Staatlichkeit und Souveränität der Ukraine sichern, ohne Russland in eine katastrophenträchtige Krise zu treiben.

Eine solche unabhängige Instanz gibt es bisher nicht. Aber es gibt ein Substrat, aus dem sie hervorgehen könnte.

Die kognitive Klasse aller beteiligten und nicht beteiligten Staaten – die Wissenschaft und die Kunst – verabscheut dieser Krieg. Auch diejenige in Russland, selbst wenn es Ausnahmen gibt und anderslautende Lippenbekenntnisse. Wenn die unabhängige, zu Entwicklung und Erfindung befähigte Instanz aus irgendetwas hervorgehen kann, dann aus dieser Klasse.

Es ist seltsam, dass unser Spezialistentum nicht auf neu entstehende Realitäten reagieren kann. Wir haben Spezialisten für Militärpolitik, Internationale Beziehungen, Diplomatie und vieles mehr, aber wir haben keine Spezialisten für diesen Krieg. Dabei ist der längst eine eigenständige Realität sui generis, der man kognitiv nur durch eine Integration aller bestehenden Spezialisierungen gerecht werden kann. Wir können diesen Krieg derzeit noch nicht einmal vollständig genug denken, um ihn zu einem erträglichen Ende zu bringen.

Dass wir nicht im Schnellverfahren Spezialisten für ihn ausbilden, ist in der Tat bizarr. Wenn wir es im individuellen Leben plötzlich mit einer neuen Problematik zu tun haben, setzen wir alles daran, in möglichst kurzer Zeit selbst zu Spezialisten für sie zu werden. Wir hoffen nicht darauf, sie mit den Mitteln zu bewältigen, über die wir bereits verfügen, oder wenn wir darauf hoffen, werden wir scheitern.

Was wir brauchen, ist etwas wie eine Schnelle Intellektuelle Eingreiftruppe. Nicht eine Meute von Intellektuellen, die zu allem ihre tagesaktuelle Meinung dazugeben, wie es jetzt allzuoft der Fall ist, sondern eine Truppe, die sich mit grösster Intensität und in kürzester Zeit, von den verschiedensten Voraussetzungen her kommend, für diesen konkreten Krieg und für seine ständig wechselnde Realität kompetent macht, diese Kompetenz stetig auf den neuesten Stand bringt und ausgehend von ihr Konzepte entwickelt und nach aussen hin formuliert, die Anknüpfungspunkte für die politische Praxis bieten. Und diese Truppe muss aus Vertretern aller am Konflikt beteiligter Parteien bestehen.

Dies wäre keine Mediationsgruppe. Es geht nicht darum, dass ihre Mitglieder miteinander verhandeln oder versuchen, den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu identifizieren, den es derzeit sowieso nicht gibt. Es wäre eine Gruppe, die viel weniger tut, damit aber einen grösseren Wert produziert: Sie analysiert den Konflikt „von aussen“, ähnlich wie es eigentlich die Rolle der UNO wäre, aber dieses Aussen ist kein politisches, sondern ein kognitives, intellektuelles, es ist das Aussen der Zivilisiertheit oder des unbedingten Strebens nach ihm.

Diese Truppe könnte man sich vorstellen als ein „Cognitive Response Cluster“. Denn es geht um das Kognitive: darum, Denkweisen, Konzepte zu entwickeln, die zu Verhandlungsgegenständen werden können. Es ist eine Response: eine Antwort auf die neue Realität, die fürchterlicherweise vor fast einem Jahr ihre Existenz begonnen hat. Und es ist ein Cluster, weil es erstens aus Vertretern der zivilen, kognitiven Klasse aller Konfliktparteien besteht, und weil es zweitens zusammengesetzt ist aus sehr unterschiedlichen Vertretern: aus Wissenschaftlern derjenigen Disziplinen, die für den Konflikt relevant sind, aus Wissenschaftlern gänzlich anderer Disziplinen, die unorthodoxe Denkmethoden beisteuern können, und aus Personen, die überhaupt keine Spezialisten für irgendetwas sind, sondern sich vom ersten Tag der Arbeit des Clusters selbst für diese Aufgabe neu qualifizieren, und insofern ohne vorgefasste Meinungen und Konzepte an diese Aufgabe herangehen.

Ein derartiges Cognitive Response Cluster oder „CRC“ könnte nicht von den Regierungen getragen werden – es wäre dann nichts als ein Meta-Thinktank, der an seinen inneren politischen Konflikten zerbrechen würde. Die Trägerschaft müsste von der Wissenschaft selbst ausgehen (bzw. von der kognitiven Klassen, zu der auch Vertreter von Kunst, Journalismus etc. gehören). Der DAAD wäre eine der bestehenden Institutionen, die in diese Richtung tätig werden könnten, ausserdem Wissenschafts-Akademien, auch diejenigen der Konfliktparteien. Vor allem aber müsste die UNO, die in politischer Weise so machtlos geworden ist, ihr Science Department (derzeit beim Economic and Social Council angesiedelt) rapide und massiv ausbauen. Nicht nur, damit zur Bewältigung dieses konkreten Kriegs eine übernationale kognitive Plattform geschaffen wird, sondern auch in Hinblick auf andere existierende und unweigerliche kommende neue Konflikte hin.

Wo die Internationalisierung des Politischen immer wieder scheitert, kann die Internationalisierung der Kognition dennoch gelingen. Die Klimaplattformen der UN könnten für derartige kognitive Konflikt-Response-Cluster wenn nicht ein Vorbild, so doch ein Beispiel sein, von dem aus man weiterdenken kann. ︎︎︎︎︎︎