Warum ich so einfach denke
05.09.
Ich denke einfach. Meine Formeln sind einfach. Sie sind simpel, sie sind naiv (wenn auch nicht so naiv, wie sie scheinen). Ich greife nicht viel auf das Denken anderer zurück – jedenfalls nicht explizit. Was ich gelesen habe, steht eher unsichtbar im Hintergrund. Es hat mich verändert. Das ist meine Art der Bezugnahme: Dass ich nach jeder Beschäftigung mit einem Buch, einer Theorie, einem Autor ein anderer geworden bin und als ein anderer denke und schreibe. Das Gelesene klingt im Kopf sowieso immer mit, steht hinter jedem Satz und jedem Wort.
Ich denke einfach. Das kann man auch betonen: Ich denke einfach. Und so ist es. Ich denke einfach – als der, der ich, nicht zuletzt durch die Lektüren, geworden bin. Aber nicht nur durch die Lektüren. Ebenso durch das Leben. Oh weh, wie muss das klingen ... aber es hört ja keiner. Irgendwo in meinen alten Aufzeichnungen steht: Denken oder Leben! – und das war für mich wie eine gezückte Pistole. Und diese Pistole hat mich auch nach Russland gebracht, und weg aus der Universität.
Auch in alten Aufzeichnungen irgendwo: neo-präsokratisch. Das war eine zeitlang mein Denkideal. Mich haben die Vorsokratiker immer mehr zum Denken gebracht als zum Beispiel Platon. Damit, dass ihre Formulierungen eher Aphorismen waren, keine Theorien; dass sie so offensichtlich falsch waren und in ihnen doch irgendetwas Wahres steckte, eine andere Art von Wahrheit als die kleinteiligen, harten, ziselierten Wahrheiten der späteren Philosophen – die Formulierungen der Vorsokratiker waren eher Sentenzen, Orakelsprüche (vielleicht hänge ich deshalb auch so an meinen Formeln), und das heisst, sie waren etwas, das man bei sich behalten konnte, das man mit sich herumtragen konnte, das in einem wirksam wurde. Etwas wie eine Melodie, die man im Kopf hat, und die in ihm dann ihr eigenes Leben entfaltet.
Ich glaube, es gibt viele Arten von Philosophie. Es gibt die wissenschaftsähnliche Philosophie, wie sie in den Universitäten betrieben wird. Ich lerne von ihr jeden Tag, aber sie entwickelt in mir nicht dieses Eigenleben, wie es die Vorsokratiker taten oder wie meine eigenen Formeln in mir „leben“. (Wobei: Ich lese auch viele neue Philosophen so, dass ich versuche, hinter die Grundfiguren ihres Denkens zu kommen, und ich glaube, dass diese Figuren dann auch in mir ihr Eigenleben entfalten.) Aber es gibt auch andere Arten von Philosophie, und sie werden heute wenig praktiziert, auch, weil die Universitäten nicht unbedingt der Ort dafür sind. (Sofort kommt mir Pierre Hadot in den Sinn, der die Traditionen der „philosophischen Übungen“ der Stoiker wiederaufleben lassen wollte, aber nur mässig Erfolg hatte damit.)
Ich nenne das, wie ich denke, manchmal plain thought. Ich habe kein deutsches Wort dafür – vielleicht schlichtes Denken? Das kann aber auch falsch verstanden werden. Es gibt ja diese Einfach-Denker, die dann auch gerne zu Fernsehphilosophen werden oder sich sonst irgendwie „popularisieren“. Man lacht über sie ein wenig, ich ja auch. Und manchmal überkommt mich der Zweifel, ob ich nicht selbst ebenfalls ... – aber nein, ich hoffe, und ich glaube, dass mein einfach Denken eine andere Art von einfach praktiziert. Ich suche ja keine simplen Lösungen. Ich möchte nur einfaches Material verwenden, oder von einfachem Material ausgehen, möglichst von frischem einfachen Material. Und da wären wir wieder beim Neo-Präsokratischen. ︎︎︎