Zweimal Charles Taylor
14.09.
U. a. Taylor für unterwegs mitgenommen (den stw-Band „Negative Freiheit“). Jetzt zwei Stücke gelesen, das titelgebende „Der Irrtum der negativen Freiheit“ und „Bedeutungstheorien“. Reaktion: Ja, aber nicht so. Wobei das Ja ein gebrochenes ist, und das aber nicht so in gewisser Weise auch. Und das bezieht sich im Grunde auf den ganzen Taylor.
Ja
Taylor ist dazwischen, ohne zwangsläufig mittig oder gemässigt zu sein (wobei er das im Resultat dann doch am ehesten ist), und aufgrund dieses Dazwischen bin ich zu ihm hingezogen, ursprünglich durch seine religionsphilosophischen Sachen (Säkulares Zeitalter und Formen des Religiösen). Er ist dazwischen, was Religion angeht, als Antimetaphysiker, aber Katholik; er ist politisch dazwischen, als Kommunitarist, der weder Individual-Liberaler noch linker Kollektivist ist (obwohl er eine bestimmte „bessere“ Form des Liberalismus verteidigt und sich selbst sicherlich als „links“ sieht), und er ist auf allerlei Weise persönlich und intellektuell dazwischen, als zweisprachiger Kanadier, als Philosoph, der einerseits mehr oder weniger analytische Philosophie betreibt, aber mit einer kontinentalen, hermeneutischen, existenzialen Stossrichtung. Und dieses Dazwischensein äussert sich natürlich auch in diesen beiden Stücken.
Was er in dem Freiheits-Text macht, finde ich grundsätzlich sehr richtig, und man kann es auch sehr aktuell lesen (als eine Ermahnung an den Liberalismus, nicht in den Libertarianismus abzugleiten – wobei die andere Tendenz eines anderen derzeitigen Liberalismus, die Paternalisierende, nicht besser ist). Er knüpft an an Isaiah Berlins Unterscheidung zwischen Freiheit von und Freiheit für und argumentiert (sehr detailliert, zu detailliert), dass Freiheit von nicht genug ist und sich auch als theoretische Position nicht durchhalten lässt. Das tut er nicht praktisch-politologisch (etwa so, dass eine Absolutsetzung der Freiheit von zu Anarchie, Chaos und sozialem Krieg führt, was sicherlich der Fall ist), sondern ausgehend von seinem Zentralprojekt, seiner philosophischen Anthropologie, die um seinen spezifischen „Taylorschen“ Subjekt-Begriff kreist.
Charakteristisch für dieses Subjekt ist zweierlei: dass es eine Meta-Subjektivität beinhaltet und dass es sozial vermittelt ist. Die Meta-Subjektivität macht Taylor an Harry Frankfurt fest: Der Mensch hat nicht nur Wünsche, sondern auch Wünsche über Wünsche – er kann kann zum Beispiel wollen, Dinge nicht zu wollen, die er will. Etwa kann er wünschen (oder wollen), nicht rauchen zu wollen, obwohl er starker Raucher ist.
Dieses Meta-Wünschen ist sicherlich etwas spezifisch Menschliches (-> Anthropologie), aber es ist noch zu wenig für echte Subjektivität, es muss das Werten hinzukommen, und zwar das Werten von Bewertungen, also auch hier das Meta-Werten. Wir bewerten unsere Wünsche nach Relevanz, und manche – grob gesagt: die ethischen – halten wir für relevanter als andere (grob gesagt: die egoistischen).
Diese Fähigkeit, Werte zu bewerten (Taylor schreibt in einem anderen Text von hypervalues), ist entscheidend dafür, im Vollsinne ein menschliches Subjekt zu sein, und sie ist gebunden an die Sozialität des Menschen, sein Teil-Sein von einer Gemeinschaft, einer Kultur. Ein isoliertes Subjekt, ein reiner Ich-Punkt, hätte keine Fähigkeit zur Meta-Wertung, ihm würden alle Anhaltspunkte dafür fehlen, alle Valorisierungs-Dispositive, die sich nur sozial konstituieren können. Das ist der Kern von Taylors Subjekt-Theorie (Quellen des Selbst), und ich halte sie grundsätzlich für überzeugend, auch wenn sie bei Taylor Konsequenzen hat, bei denen ich nicht mitgehen würde (z. B. sein Antinaturalismus).
Was er dann aber mit diesem Subjekt-Begriff in Hinblick auf die Freiheit macht, finde ich seltsam, überkompliziert und letztlich durchschlagsschwach.
Er argumentiert zunächst, dass ein Verständnis von Freiheit, das sich ausschliesslich als Freiheit von (von materiellen Hindernissen, überflüssigen staatlichen Regelungen usw.) versteht, in die isolierte Indivdualität hineinführt, die Meta-Werten und eigentliches Subjekt-Sein unmöglich macht.
Dabei gibt es eine interessante Seitenlinie, die nicht äussere, sondern innere Freiheitshindernisse betrachtet: Wenn ein Mensch mit Wünschen oder vielleicht eher Impulsen ausgestattet ist, die er nicht haben will, etwa mit Neid oder Groll, dann hilft ihm eine libertär verstandene äussere Hindernis-Freiheit (Taylor nutzt das Wort „libertär“ nicht) wenig dabei, diese Wünsche loszuwerden, sie macht ihn also nicht frei.
Den Hauptschlag gegen eine Verabsolutierung der negativen Freiheit (der Freiheit von) setzt Taylor aber über die Beobachtung, dass es falsche Wünsche und falsche Werte gibt, dass man sich also selbst in seinem Meta-Werten irren kann: Terroristen wie Charles Manson oder Andreas Baader hätten ihre eigene Relevanzordnung des Wertens aufgestellt, und zwar aus negativer Freiheit (nichts und niemand hat sie daran gehindert, zu einer solchen Wertordnung zu gelangen), aber diese „Wertordnung“ sei ein Irrtum, im Grunde (meine Worte) eine Perversion. Solchen Perversionen des Wertens stehe aber die negative Freiheit hilflos gegenüber, und deshalb sei sie keine Freiheit.
Es ist dieses letzte, was mich irritiert und wo ich denke, man muss anders abzweigen. Taylor macht im ganzen Text immer wieder Anläufe, eine positive Freiheit, eine Freiheit zu gegenüber der negativen Freiheit stark zu machen, aber sie bleibt eigentümlich blass und unvollendet. Sicher, das kann damit zusammenhängen, dass der Text älteren Datum ist (1983), also vor den Quellen des Selbst und dem Unbehagen in der Moderne entstanden ist, und Taylor daher hier erst andeutend auf Konzeptionen hinarbeitet, die später dann konkreter werden.
Ich lese seine Vorstösse in diesem Stück hier jedenfalls so, dass er eine positive Freiheit, die er immer wieder etwas irreführend Freiheit der „Selbstverwirklichung“ nennt (wohinter natürlich seine Idee von – sozial vermittelter oder bedingter – Identität steht, die das Subjekt braucht, um sich zu konstituieren), letztlich als einen ethischen oder ethisch mündigen Umgang mit der positiven Freiheit verstehen will. Also in der Art, dass die wahre Freiheit darin besteht, innerhalb der von der negativen Freiheit eröffneten Möglichkeiten ethisch, verantwortungsvoll, sozialverträglich, vielleicht auch auf Transzendenz hin orientiert zu handeln. (Interessant übrigens, dass Taylor Transzendenz bejaht, Metaphysik verneint – ja, in diese Zwickmühle kann man die Moderne spannen!)
Das ist ein sehr starker, sehr reicher, und ich finde, ein übersättigter Freiheitsbegriff, den Taylor da konstruiert. Sicher, man kann ihn nachvollziehen. „Mündige Freiheit“ fände ich immer noch die beste Umschreibung (ich glaube, Taylor nutzt sie nicht und auch nichts vergleichbares). Aber ist das „mündig“ darin wirklich ein Teil von Freiheit, sein positiver Teil, ist es das „zu“ in Freiheit zu? Ich glaube nicht. Ich glaube, es ist eher eine freiwillige Einschränkung von (negativer) Freiheit. Natürlich kann man im „freiwillig“ dann wieder einen Aspekt der Freiheit erkennen. Dennoch empfinde ich es als eine Überfrachtung des Freiheitsbegriffes, die letztlich nichts bringt.
Denn man muss sich ja immer fragen, oder jedenfalls frage ich mich das: Welche Wirkung kann eine Arbeit am Begriff haben? Könnte der neu gedeutete, neu geklärte, neu aufgeladene Begriff in dieser oder ähnlicher Form ins allgemeine Denken eingehen? Werden Politiker, die von Freiheit reden, demnächst Freiheit so verstehen – als die Freiheit, seine Freiheit ethisch einzusetzen, die Freiheit, auf Freiheit zu verzichten? Ich zweifle daran. Der Kern aller Freiheitskonzepte ist die Abwesenheit von Hindernissen, das nicht-Gängeln, das nicht-Bevormunden, und trotz aller Probleme, die ein solches Konzept mit sich bringt, gerade in der bisherigen Entfaltung der Moderne, wird das auch so bleiben. Denn man kann zwar einen Begriff umakzentuieren, aber nicht seinen Kern an eine andere Stelle versetzen.
Und das muss man auch nicht, vor allem dann nicht, wenn bessere Alternativen bestehen. Und hier denke ich, es gibt sie, sie liegen auf der Hand, und ich habe mich während der Lektüre zunehmend gefragt, warum Taylor sie nicht ergreift.
Die eine Alternative ist natürlich die Beschränkung der (negativen) Freiheit durch das Gesetz, aber sie ist so offensichtlich und – in Hinblick auf Taylors anthropologisches Projekt – so „unphilosophisch“, dass es verständlich ist, dass Taylor sie links liegen lässt. Das Gesetz konstituiert nicht das Subjekt. Manson und Baader handelten gegen das Gesetz und richteten sich ihr Meta-Werten antigesetzlich ein, aber sie erlebten das im Rahmen ihrer jeweils eigenen Subjektivität als „richtig“. Ihren Subjektivitäten gegenüber war das Gesetz machtlos.
Bei der anderen Alternative wundert es mich mehr, dass Taylor sie nicht in Betracht zieht, zumal er sich ja in vielem als Aristoteliker versteht. Diese andere Alternative ist die Weisheit. Denn dass die Meta-Wertungen und das Handeln von Manson oder Baader in allhöchstem Masse unweise, Weisheitslos, weislos sind, das zumindest, denke ich, liegt ja auf der Hand.
Sicher, „Weisheit“ hat heute einen seltsamen Klang, allerdings auch nicht in allen Zirkeln, noch nicht einmal in allen wissenschaftlichen oder progressiven, es gab geradezu ein Revival des wisdom-Diskurses vor einigen Jahren, allerdings scheint es wieder ein wenig eingeschlafen zu sein. Aber sowieso sollte man sich von einem „seltsamen Klang“ nicht schrecken lassen, wenn dafür der Kern des Wortes intakt ist und brauchbar zu sein verspricht.
„Weisheit“ lässt sich, als Begriff oder Begriffsinhalt, nicht, wie Taylors positive Meta-Freiheit (das ist es übrigens eigentlich, wovon er redet: von Meta-Freiheit) aus theoretischen Überlegungen ableiten, jedenfalls nicht aus theoretischen Überlegungen zur sozial konstituierten Subjektivität. Weisheit muss – als Begriff – zunächst gesetzt werden, in Sinne einer Behauptung, etwa: Freiheit (negative Freiheit) allein führt ins Desaster, wenn mit ihr nicht weise umgegangen wird.
Und dieses weise, diese Weisheit wäre dann zum einen als eine persönliche Qualität („Tugend“) zu verstehen, zum anderen als eine politische. Und sie wäre nach ihrer Setzung mit Inhalt zu füllen (Was ist Weisheit? Was ist weises Handeln?). Und sie wäre zum einen natürlich ein Ideal (also nichts, das immer von vorn herein Teil der Subjektivität ist, aber das ist Taylorsches Meta-Werten auch nicht), sie wäre andererseits aber auch, ganz wie Taylors positive Freiheit, etwas, das im Eingebettetsein des Subjekts in seine Gemeinschaft existiert – sie wäre also kompatibel mit dem Kommunitarismus, den Taylor als politisches Dazwischen (zwischen Libertarianismus und Kollektivismus) vertritt.
Nein
Jetzt bin ich natürlich schon längst beim nein, bzw. bei der Verschränkung von ja und nein, bzw. beim nein-sondern. Das sondern ist jetzt hier erst einmal so hingeworfen, aus der aktuellen Leseerfahrung heraus, natürlich ist auch die Weisheits-Alternative zunächst ein wenig „naiv“ (quasi-naiv, schein-naiv), es ist schlicht die Richtung, in die ich in diesem Zusammenhang denken würde – und der Zusammenhang ist durchaus ein dringender, wenn man die aktuelle Krise, nein, Plural: die aktuellen Krisen des Liberalismus betrachtet.
Mein nein, bzw. mein Ja, aber nicht so entzündete sich aber noch an etwas anderem, eher methodischen, das allerdings auch einen Teil der Verantwortung für die Schwäche der Taylorschen positiven Freiheit trägt. Dieses andere klang eben schon an, es ist der Deduktionismus.
Taylor ist, trotz seiner kontinentalen Vorlieben, ein angelsächsischer Philosoph, und er ist, trotz seinem Antinaturalismus, ein szientistischer Philosoph, im Sinne einer Philosophie, die ihre Themen durchargumentiert (oder diesen Anspruch hat) und alle ihre Argumente technisch-rational begründet (oder das versucht). (Ich setze das „technisch“ vor das „rational“, weil ich meine, dass es auch andere Formen von Rationalität gibt).
Und dieser technisch-rational-angelsächsiche Deduktionismus hat seine Nebenwirkungen. Er führt einmal ganz banal zu fürchterlich langen Texten (ich möchte bei Taylor, so sehr ich ihn schätze, immer händeklatschend danebenstehen und rufen: schneller! schneller!), er führt aber vor allem zu etwas, das ich verzagtes Denken nennen würde. Taylor will sich, wie alle Deduktionisten, mit allem immer auf sicherem Boden bewegen. Er will immer sagen können: Seht her, so ist es, ich beweise es euch hier, mit Beispielen und mit Argumenten!
Dadurch geschieht etwas eigenartiges: einerseits scheint der Deduktionismus eine sehr bescheidene Methode zu sein, denn er leitet ja nur etwas her, ohne etwas zu behaupten, jedenfalls gibt er sich diesen Anschein. Andererseits begründet aber gerade dieses „nur Herleiten“ eine Apodiktizität, die sich spätestens dann als unhaltbar herausstellt, wenn auch andere etwas „nur herleiten“, allerdings etwas völlig anderes, gegenteiliges.
Ich sehe einen Haufen von Problemen im Deduktionismus, ich sehe ihn geradezu als eine Geissel des originär-originell-verantwortungsvollen Denkens. Sicher nicht die einzige Geissel, die Phantasiererei mancher anderer Traditionen (ich verzichte auf Spezifisches, ein andermal) ist nicht besser. Aber schon die Tatsache, dass die scheinbar sicherste, scheinbar bescheidenste Methode indirekt die grösste Überheblichkeit mit sich bringt, nämlich den (Schein-)Anspruch der Apodiktizität, ist meiner Ansicht nach Grund genug, gegenüber dem Deduktionismus skeptisch zu sein. Abgesehen davon dass er, Entschuldigung, zu zu langatmigen Texten führt. Auch das Denken braucht Rhythmus, die Ableitungs-Manie zerstört ihn.
Was kann man da tun? Das philosophierende Subjekt muss als solches stärker in Erscheinung treten. Ja, es muss das, und es darf das. Denken tut immer ein Denker, eine Denkerin, eine Denkender, ein denkendes Subjekt. Wie weit dessen Gedanken über dieses eigene Subjekt hinaus Gültigkeit haben können, kann das denkende Subjekt selbst nicht beurteilen, es hängt auch nicht von ihm ab, sondern von den anderen. Denken ist ein Vorschlag, den ein Denkender macht. Es gehört, im Deduktionismus, zum guten Ton, dass dieser Denkende so tut, als gebe es ihn nicht, aber das ist ein Spiel, das sich gegen sich selbst richtet.
Und nun wollte ich ja heute zweimal über Taylor schreiben, der zweite Taylor ist der des Stücks „Bedeutungstheorien“, das ja auch eigentlich gerade viel mehr in meine Themen hineinpasst. Das verschiebe ich jetzt aber noch.
PS: Hier ein schöner, kurzer Artikel von Charles Taylor (2005) zu einem ganz anderen Thema: Kapitalismus. „Ohne den Kapitalismus können wir nicht leben (denn marktförmige Beziehungen durchdringen die Gesellschaft auf vielen Ebenen), aber mit ihm können wir es kaum aushalten.“
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