Mehr Formeln


12.09.
Noch einmal zur Diagnose der verschränkten Voraussetzungen: Mir fällt zur Beherrschung der Situation, dazu, sie zu managen, nicht viel anderes ein als zwei Strategien zugleich zu verfolgen: eine, die in die Breite geht, die sich also darum bemüht, möglichst viele Themen zugleich wenigstens schon einmal vorläufig anklingen zu lassen (wie in der Musik, wenn Motive schon einmal andeutend eingeführt werden, die dann erst viel später wirklich zum Zuge kommen, Mozart macht das immer wieder in seinen Opern-Ouvertüren). Und eine andere, eine lineare, eine Längs-Strategie, die darauf abzielt, konkrete Stränge oder Themen wie das der Entendenz oder das Wollens-Sollens-Thema vorwärts zu bringen, soweit das eben geht, ohne sich bereits bei F, R, X oder Y zu bedienen. Und diese beiden Strategien müssen halt irgendwie miteinander auskommen, kompromisslerisch.

Anfang letzter Woche hatte ich Formeln gesammelt und gleich dazugeschrieben: so noch nicht vollständig, später ergänzen. Also, Ergänzungen, weitere Formeln:

Religion war Poesie

Gott ist ein Untoter, gefangen auf der Schwelle zwischen Sein und Nicht-Mehr-Sein

Alles ist womöglich letztlich natürlich Wunder


Das sind Formeln zum Thema Post-Religion. Wieder stellt sich das Problem der verschränkten Voraussetzungen: Wenn man sagt Religion war Poesie, muss man zunächst sagen, was man unter Poesie versteht. Erstes Festklopfen: Es geht mir nicht ums Lyrische (etwa darum, dass sich in religiösen Schriften besondere poetische Textsorten finden lassen), auch nicht um Narrative (etwa darum, dass die religiösen Erzählungen an sich „poetisch“ wären), sondern es geht mir darum, dass die Religion (ich denke an die westlichen Spielarten) eine Elementarpoesie war, deren Poetik unmittelbar in der poetischen Konstellation Gott-Mensch-Welt selbst realisiert war. Diese spezifische Poetik ist inzwischen historisch geworden (noch nicht vollständig, aber grossenteils), allerdings ist dadurch die Notwendigkeit elementarer Poetizität nicht aufgehoben (und die ist nicht nur eine existenzielle, sondern auch eine epistemische Notwendigkeit – interessant dazu übrigens in diesem Artikel über Verschwörungstheorien kürzlich in der ZEIT: „Ich wollte einfach glauben. Glaube: nicht etwas Politisches. Etwas Poetisches.“ und weiter dort dann Gedanken zum Verhältnis von „Spiritualität“ – sehr problematischer Begriff übrigens – und Politischem). 

Gott ein Untoter: Der Gedanke, dass Nietzsche mit seinem Gott ist tot, wie er selber wusste, zu früh kam: Gott ist noch nicht tot, aber auch nicht mehr lebendig. Wie jeder untote Zwischenzustand bringt das viele Probleme und viel Leid mit sich. Aufgabe der sich entfaltenden Moderne: Gott endgültig zu erlösen. (Nicht Gott erlöst den Menschen, wir erlösen ihn!)

Alles ... Wunder: Zu dieser Formel liegt ja ein ziemlich umfangreicher Textentwurf auf Lager. Wunder nehme ich aus dem bereits fast obsolet gewordenen Religiösen heraus und umverstehe das Wort in Richtung ungewusst, vielleicht nichtwissbar, Erschütterung, Demut, eine Haltung der Feinheit und Zärte hervorrufend. Das alles unter der Ägide des womöglich – als eine Modalität. Es könnte so sein.

Weiter, unsystematisch:

Das Poetische ist der Reim des Sinns

Das ist Teil der Bestimmung des Poetischen. Aber nur Teil – siehe Meschonnic bzw. meine Lektüre seiner Sachen letztes Jahr, die einiges an meinem Poetik-Begriff verändert hat. Die Formel muss ausgearbeitet und zugleich kritisch überprüft werden. Hinzu kommt die Frage des Verhältnisses von Sinn und Bedeutung. Anknüpfungen auch hier an die Klang-Thematik: Der „Reim“ ist natürlich selbst wiederum eine Resonanz, also etwas Klangliches.

Moral ist nicht etwas, das man tun muss, weil es Regeln gibt. Moral ist etwas, das man tun will, weil man Hoffnung hat.

Hier kommen mehrere Dinge zusammen. Zum einen gibt es Verbindungen it der Formel Sollen ist simuliertes fremdes Wollen (darin, dass es das Regelhafte von „Normativität“ herunterdimmt und den Akzent auf die Freiwilligkeit setzt – überhaupt die Freiwilligkeit! Heute früh nach dem Aufwachen gerade überlegt, weshalb eigentlich im heutigen Verständnis von Liberalismus so ein Schiefstand gegenüber der Freiwilligkeit herrscht, als gäbe es nur die Freiheit als Freiheit von Zwängen und nicht als, zum Beispiel, freiwillige Übernahme von Verantwortung). Aber dann schliesst es, duch den Hoffnungs-Aspekt, auch an das Thema der Post-Religiosität an. Neulich in der Notiz zum sich fragen, was gut ist war dieses Hoffnungs-Motiv schon einmal kurz erscheinen; versuchen, auch das besser greifbar zu machen Schritt für Schritt.

Organismen sind Kolonien

Riesen Sprung – nämlich zur Biologie. Zur Evolutionstheorie, zu den Vivanzen, wie ich das heute nennen würde. Die Formel ist einerseits ein bisschen schwach. Sie lässt eher an einen Ameisenhaufen denken als an die diffizilen symbiogenetischen Prozesse, die tatsächlich in der Evolution stattgefunden haben. Aber darin, dass sie die Frage nach dem Einen und dem Vielen aufmacht, ist sie dann doch wieder ein guter Einstiegspunkt.

Wenn ich eines bedaure, dann, dass mein grosser Artikel zur Evolution, an dem mir so viel lag, als ich ihn vor inzwischen übrigens genau drei Jahren geschrieben habe, irgendwie untergegangen ist und zu nichts weiterem geführt hat. Aber im Gegensatz zu Klima oder Migration lässt sich aus einem Thema wie Evolution eben kaum etwas für die Medien auskoppeln. Symbiogenese bei ZEIT online? Ich hatte das sogar mit der Redaktion bespochen, aber sie brauchen dort eben andere Formate, und vor allem ist das Thema auf den grossen Zusammenhang angewiesen. Man kann es nicht wie einen Regenwurm in selbstbewegliche Einzelteile zerschneiden. Und den ja eben auch nicht.

Musik ist Sinn ohne Bedeutung

Das ist ja überhaupt die älteste aller meiner Formeln, und die mit der kuriosesten Geschichte (der armenische Kompositions-Professor in Hannover, irgendwann so 1988 – muss ich auch irgendwann mal aufschreiben). Kurios auch, weil ich sie neulich in ganz ähnlicher Form in einem Aufsatz bei Martin Vogel gefunden haben (siehe Medien der Vernunft), der ja auch viel Musikästhetik macht. Hier ist wieder beieinander: die Frage von Sinn / Bedeutung und natürlich der Klang. Klang hier in seiner akustischen Variante, als Schall, aber die muss man eben auch untersuchen, wenn man zu Vorstellungen über den nicht-schallmässigen-quasi-Klang gelangen will, den Klang, der das Mentale ist (das Kognitive, der „Geist“).

Und das war jetzt bestimmt immer noch nicht vollständig. ︎︎︎