Schweben Kunst Wunder Politik
15.10.
Warum ich mich mit dieser ständigen Politisierung von Kunst nicht abfinden will: Weil ich meine, dass Kunst das ist, was schwebt, und zwar im besten Fall zwischen zwei Polen: dem materialen (oder eben politischen) und einem anderen, dessen Ort derzeit unbestimmt ist und für den wir derzeit auch kein passendes Wort haben, der dem ersten aber mehr oder weniger gegenüber liegt.
Wenn man, in Übereinstimmung mit einem weitverbreiteten Bild und mit der Schwerkraft selbst, annimmt, dass das Materiale „unten“ ist, und wenn man es schafft, dieses Bild von gewissen sich aufdrängenden Wertungen freizuhalten (dass das Untere irgendwie „schlechter“ sei als das Obere), dann könnte man sagen: Unten ist, worauf die Kunst steht, oben, wohin sie gesogen wird; unten ist, worauf sie gravitiert, oben, wohin sie levitiert. Unten ist das Materiale (Politische), oben ist das – was?
Der obere Pol – nein, besser nicht „obere“. Der irgendwo auf einer der Polkappen liegende Punkt, irgendwo in einem gedachten Oben – der obene Pol ...
Der alte obene Pol ist weggefallen mit der Verflüchtigung des „Transzendenten“ und mit dem effektiven Ende jener metaphysischen Elementarpoesie, die wir „Religion“ nannten. Danach gab es nichts mehr, das die Kunst (was immer sie auch sei) ins Obere, ins Obene hätte ziehen, saugen können, und sie begann, in ihre Fundamente hineinzustürzen, und die Theorien, die die Kunst als eine Massnahme innerhalb des Politischen modellierten, als ein Sozialprodukt, gemeinsam mit jenen Künstlern, die der politischen Direktwirkung der Kunst vertrauten, vollendeten diesen Sturz: fait social accompli.
Es gab wenige, die sich der Verunschwebung der Kunst widersetzten: Messiaen, in der Musik, auch Pärt, in der Lyrik Lavant, Eva Zeller vielleicht ... ich kenne sie zu wenig. Aber das sind alles solche, die am Transzendenten hängen, wie es war. Solche, die es nicht verabschiedet haben, auch die Elementarpoesie Religion nicht, gerade sie nicht. Verweigert man aber diesen Abschied, dann entfernt man sich und seine Kunst aus der eigenen Zeit. Vollzieht man ihn, dann strebt die Kunst hin zum Politikum. So oder so ist es mit dem Schweben vorbei.
Zumindest drängt sich dieser Anschein auf. Aber man muss ihm nicht trauen. Denn das Obene, beziehungsweise der irgendwo in ihm befindlich gewesene Pol, hat ja nur seinen Namen verloren, nicht seinen Sinn. Oder etwas mehr hat er schon verloren, nämlich: seine Bedeutung. Aber eben nicht den Sinn.
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Der Sinn dessen, was einstmals „Transzendenz“ hiess, war ein Sinn auf etwas Unnennbares hin: Das Wort „Transzendenz“ sagt, dass es das Eigentliche nicht sagt. Diese Unnennbarkeit ist allem Obenen eigen, und wenn man meint, dass ein Sinn immer aussagbar sein muss, dann ist der Sinn des Obenen eigentlich ein |Un-|sinn oder ein Antisinn: Ein Sinn und zugleich kein Sinn. Und solchen Antisinn, auf den die Kunst zielen und der sie ins Schweben bringen kann, kann man weiterhin finden, wenn man ihn denn sucht, nur wird man einen anderen finden als früher und er wird etwas anderes bedeuten als früher und kann daher auch nicht mehr heissen, wie er früher hiess. Der obene Pol verschiebt sich.
Obwohl man Antisinn nicht aussagen kann, kann man doch zu ihm etwas sagen, oder man etwas darumherum oder knapp daneben sagen. Und mein Versuch eines solchen knapp-daneben-Sagens wäre: Ein heutiger oberer, obener Pol wäre nicht mehr „das Transzendente“ (oder was immer mit ihm traditionell als verbunden gedacht wurde), sondern ein solcher obener Pol wäre die womögliche Wunderhaftigkeit.
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Die womögliche Wunderhaftigkeit. Wenn es mir gelänge, in klaren, unmissverständlichen Worten zu explizieren, was das heissen soll, dann hätte es nichts mit dem Obenen zu tun. Daher will ich es nicht explizieren, sondern erweitern. Zum Beispiel kann man aus dem zweiwortigen Ausdruck einen sechswortigen machen: Letztlich alles womöglich wirklich natürlich Wunder.
Das ist eine Melodie. Sie lässt sich singen: Letztlich alles womöglich wirklich natürlich Wunder ... Man kann auch noch ein „ist“ hineinsetzen, Letztlich ist alles womöglich wirklich natürlich Wunder, aber ohne ist es schöner. Vor allem kann man die Melodie nicht nur singen, sondern auch weitersingen, jedes einzelne ihrer Motive. Wo anfangen? Egal.
Das Motiv natürlich lässt sich weitersingen als mit rechten Dingen, nicht übernatürlich, ohne faulen Zauber: Wunder nicht als Verletzung von Naturregelmässigkeiten, sondern als Teil dieser Naturregelmässigkeiten, als eine ihrer inneren Eigenschaften. Wunder, modern gedacht, umgedacht.
Das Motiv wirklich kann man weitersingen als nicht ausgedacht, nicht herbeigewünscht, sondern real: als so – ist– es. Tatsächlich womöglich alles letztlich natürlich Wunder. Alles ist weitersingbar als: dies, und dies, und dies, und dies – ins Unendliche. Letztlich als: wenn man alles durchdacht hat, soweit es eben geht, wenn man sein Erkunden bis ans Ende gebracht hat, an dem man aufgeben muss. Dann, erst dann.
Das sind vier Motive. ... wirklich ... alles ... letztlich ... natürlich ... plus: womöglich. Das Womöglich ist entscheidend, es setzt den Ton, es setzt das Register, deshalb beginnt die Melodie mit ihm.
Wie lässt sich Womöglich weitersingen? Als: Es könnte durchaus sein. Man weiss es nicht, kann es nicht wissen. Aber es ist nicht ausgeschlossen! Es kann keine Wundergewissheit geben (Wunder immer im Sinne von: natürlich Wunder, modern Wunder). Aber allein die Tatsache, dass ein Wunderverdacht möglich ist, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass alles letztlich wirklich natürlich Wunder ist, umsingt einen möglichen Pol im Oben, im Obenen. Nicht den, den es früher gab, sondern einen anderen, gegenüber dem alten versetzt.
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Womögliche Wunderhaftigkeit. Das wäre mein Versuch, zu einem heute möglichen oberen, obenen Pol, an welchem die Kunst hängen, unter dem sie schweben könnte, etwas zu sagen.
Und jetzt hätte ich fast das sechste Motiv vergessen. Das Wunder selbst.
Wie kann man Wunder weitersingen? Natürlich, modern und ohne faulen Zauber, mit rechten Dingen, im Rahmen der Naturgesetzlichkeiten ...
Naturgesetzlichkeiten. An denen hängt es. Was wissen wir von ihnen? Wie vollständig sind unsere Kenntnisse? Wissen wir mehr, als wir nicht wissen – oder umgekehrt? Leben wir auf einem Kontinent des Wissens, an dessen Rand ein feines Rinnsal des Unbekannten sich schlängelt oder auf einer winzigen Insel im unermesslichen Ozean des Nichtwissens? Heisst, dass wir die Naturgesetzlichkeit gebrauchen können, auch, dass wir sie verstehen? Können wir uns das Funktionieren der Welt im Ganzen vorstellen? Gibt es keine Geheimnisse mehr? Es geht nicht um Rätsel – Rätsel lassen sich lösen. Es geht um Geheimnisse. Woraus ist die Welt gemacht? Aus Bekanntem? Oder aus Geheimnisvollem? Wunder ist, was alles Vorstellbare übersteigt. Wunder ist, was, kennte man es, verstünde man es, alles ändern würde. Was mich zwingen würde, stiesse ich zum ihm vor, alles, was ich bisher geglaubt und getan habe, alles, was ich bis dahin war, gänzlich anders zu verstehen, gänzlich umzuverstehen. Und in diesem Umverstehen, bin ich überzeugt, auch wenn ich dafür nicht den geringsten Beweis erbringen kann, erwiese sich alles nicht nur als unvorstellbar, sondern als unvorstellbar kostbar.
Dazwischen ist die Kunst. Da sollte sie sein, denke ich: zwischen dem materialen, politischen Sozialprodukt und der womöglichen Wunderhaftigkeit. Bald näher am einen, bald näher am anderen, bald beruhigt, bald erregt, bald gesammelt, bald zerrissen, immer bebend, zitternd, gespannt in einem Feld, in einem magnetischen, einem elektrischen Feld, schwebend.
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Wenn man aber einfach behauptet, nur weil die „Transzendenz“ sich verflüchtigt hat, es gebe überhaupt kein Obenes oder im Obenen sei grundsätzlich kein Sinn, auch kein Antisinn, |Un-|sinn, Sinn-nicht-Sinn, dann bleibt der Kunst gar nichts anderes übrig, als sich als direktpolitisch zu verstehen, und das ist es, was heute Konsens zu sein scheint. Sicher, auch dort, in der Polkappe des Politischen, Materialen kann man etwas gestalten, kann man Wertvolles schaffen. Nur halt Unschwebendes. Aber schnell wird das dann tatsächlich zu Politik – zur Politik mit symbolischen Mitteln.
Und es wäre ja ein Fehler zu meinen, wenn die Kunst sich auf womögliche Wunderhaftigkeit bezöge, dann würde sie die Menschen und ihre Belange vergessen, dann würde sie zur l’art pour l’art und zum hohlen Ästhetizismus. Es geht ja nicht darum, zu entfliehen nach oben. Nicht darum, das Politische, Materiale zu ignorieren. Es geht ums Dazwischensein. Eher als dass sie abhebt, wird Kunst dadurch, dass sie es wieder aufnimmt mit dem Spannungsfeld zwischen den Polen, von neuem existenzial, eher siedelt sie sich an in den Menschen, eher wird sie dann dort wirken können, auch politisch. Nicht direkt politisch. Indirekt. Hintenrum. Obenrum.︎︎︎
PS: Die Kunst. So ein riesiges Wort. Was soll das sein, Kunst? Na, irgendetwas versteht man ja, wenn man das Wort hört, und mehr als dieses Irgendetwas braucht es glaube ich hier nicht.