Oktober

Philosofiction


04.10.

Jede Philosophie ist im Kern eine Fiktion. Ihre Elaboration erzeugt Rationalität, ihre weitere Elaboration erzeugt Akademismen.


[Eine Philosophie – ein Philosophem – ist nicht ein Gedanke, der aus den Fakten herausdestilliert ist, sondern einer, der in Hinblick auf die Fakten erfunden wurde (fingere: bilden, gestalten, vorgeben; fact <-> fiction). Sie ist eine Fiktion, aber keine willkürliche (kein Phantasma), sondern eine realistische.

Diese Fiktion erscheint zuerst als Idee, als Ansatz – grob, undetailliert, vage. Der Ansatz muss, um verständlich und möglicherweise wirksam zu werden, ausgearbeitet, elaboriert werden. Geschieht diese Elaboration philosophisch (also nicht, zum Beispiel, literarisch), dann bedient sie sich rationaler Mittel – sie verwendet Argumente, Begründungen, Beispiele.

Die Rationalität ist nicht im Philosophem selbst angelegt (das ist vernunftmässig undifferenziert, neutral). Sie ist ein Resultat des rationalen Umgangs mit dem Philosophem, sie entsteht aus der Anwendung rationaler Mittel auf das Philosophem. Diese Anwendung ist kein Selbstzweck: Überelaboration führt nicht zu mehr Rationalität, sondern nur zu einer Vermehrung der rationalen Formeln. Der Diskurs wächst, seine Substanz schwindet.

Die Kunst der Elaboration besteht darin, aus dem Philosophem das passende, angemessene Mass an Rationalität zu gewinnen – nicht so wenig, dass es als reiner Gedankenblitz verglimmt, aber auch nicht so viel, dass es von Akademismen erstickt wird.]
︎︎︎


Erfrischung Philosophie


[eine Sammlung von Skizzen]

30.09.
Sparten und Schulen

Bevor wir anfangen, zu philosophieren, stellt sich uns die Frage, wie wir philosophieren wollen.

Man könnte denken, diese Frage findet auf eine ähnliche Weise ihre Antwort wie im Falle anderer Disziplinen, etwa der Biologie: durch die Entscheidung für eine Sparte des Faches, sagen wir: die Ökologie oder die Genetik oder die Paläobiologie. Übertragen auf die Philosophie hiesse das, dass ich etwa vor der Frage stehe, ob ich nun Ethik betreiben möchte oder Wissenschaftstheorie oder Sprachphilosophie oder Ästhetik oder eine der gesellschaftsthematischen Philosophien und so weiter.

Bin ich Biologe, so legt mich die Entscheidung für eine Sparte auch weitgehend fest auf eine Methodik, ausserdem bringt sie etwas mit sich, das man geteilte Gültigkeitsüberzeugungen nennen könnte. Mit Methodik meine ich: in die Natur hinausgehen und Daten über ökologische Wechselwirkungen erheben; die Umsetzung genetischer Information in organismische Strukturen untersuchen, Fossilien sichten und Hypothesen über prähistorische Entwicklungslinien aufstellen usw. Geteilte Gültigkeitsüberzeugungen soll bedeuten, dass man innerhalb einer Sparte gewisse Grundüberzeugungen darüber teil, was richtig und was falsch ist. Etwa, dass die genetische Information (sofern es sich um natürliche DNA handelt) aus den Nukleinbasen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin aufgebaut ist, dass es einen Zusammenhang zwischen den Populationsgrössen von Räuber- und Beutetieren gibt oder dass ein prähistorischer Schädelknochen einem Mammut und nicht einem riesenhaft-menschenartigen Zyklopen zuzuordnen ist (es gab da diesen twitter-thread).

Sicher, auch innerhalb der Sparten einer Wissenschaft wie der Biologie gibt jeweils verschiedene Schulen und heftige Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen, aber die betreffen Peripheres, Detailfragen, nicht Grundüberzeugungen, andernfalls befindet sich die Wissenschaft in einer Krise ihrer eigenen Grundlegungen (man könnte an Kuhn und seine Beschreibung der Wissenschaftsdynamik denken).

Ganz anders ist es, wenn ich Philosoph bin. Mit meiner Wahl der einen oder der anderen Sparte ist weder über die Methodik noch über die Gültigkeitsüberzeugungen irgendetwas entschieden. Wenn ich, sagen wir, Sprachphilosophie betreibe, dann kann ich das in der Art von Searle (Sprechakte) tun oder in der Art von Derrida (différance – ich führe diese Schlagworte hier jetzt nicht aus) und noch auf zahlreiche andere Arten und Weisen, und diese Arten und Weisen haben nicht nur nichts miteinander zu tun, sie widersprechen einander diametral. Ebenso kann ich – um ein wenig weiter auszugreifen – Ethik à la Kant als eine positive Pflichtethik betreiben oder à la Alasdair MacIntyre als Tugenethik oder à la Nietzsche als die macht- und willenstheoretische Dekonstruktion von Ethik überhaupt, ich kann – in der Ästhetik – ein Kunstwerk als Produkt sozioökonomischer Umstände betrachten oder als Hervorbringung eines autonomen, vielleicht auf Transzententales gerichteten, „geniehaften“ individuellen Geistes und so weiter und so weiter.

All das sind jeweils diametral gegensätzliche Methoden und einander ausschliessende Gültigkeitsüberzeugen, und dennoch handelt es sich jeweils um ein und dieselbe Sparte. Methoden und Gültigkeitsüberzeugen sind so gegensätzlich, dass sie geradezu verschiedenen Welten anzugehören scheinen (Kuhn würde sie inkommensurabel nennen), dass ihre jeweiligen Vertreter sich kaum inhaltlich miteinander austauschen können und einander gegenseitig für die grösstmöglichen Irrläufer, wenn nicht für intellektuelle Verbrecher halten. Es herrscht gewissermassen ein schwelender, nur gelegentlich offen erkärter intellektueller Bürgerkrieg zwischen den Schulen und den Traditionen, und jemand, der sich fragt, wie er Philosophie betreiben will, muss sich der einen oder der anderen Seite zuschlagen, bevor er überhaupt beginnen kann.

Nun könnte man sagen, das ist banal, die Natur der Philosophie ist nun einmal einfach eine dialektische, das liegt doch auf der Hand. Aber damit möchte ich mich nicht zufriedengeben. Erstens ist die Aussage, die Philosophie sei naturgemäss dialektisch, selbst eine philosophische, zweitens müsste man, selbst wenn es banal ist, immer noch die Konsequenzen daraus ziehen, was das Verständnis des Faches und der Tätigkeit des Philosophen betrifft.

PS: Vergleichen müsste man natürlich nicht nur mit einer Naturwissenschaft, sondern auch noch mit einer Geisteswissenschaft wie der Soziologie. Auch Soziologen – sagen wir: liberale und linke / kritische – sind einander spinnefeind und leben in miteinander kaum vereinbaren Begriffs- und Gedankensystemen. Am Positivismusstreit zwischen Popper und Adorno lässt sich das gut ablesen. Aber dennoch ist das etwas anderes. Die soziologischen Schulen sind verfeindete Schulen innerhalb ein und derselben Realität – sie versuchen, Modelle für den gleichen „Gegenstand“ zu finden (die Gesellschaft und ihre Dynamiken), tun das aber auf miteinander unvereinbare Arten und Weisen. Bei den Philosophen hingegen sind bereits die Gegenstände, über die sie reden, die Realitäten, die sie herbeischreiben („konstruieren“) und in denen sich dann ihr geistiges Leben abspielt, unvereinbar miteinander.

Nichtwissenschaft, Meisterschaft, Schicksal

Worauf will ich hinaus. Einmal darauf, dass die Philosophie eben überhaupt keine Wissenschaft ist. Wäre sie eine, dann würde die Spartenentscheidung eben nicht in diese Dialektik (wenn es denn eine ist) des Inkommensurablen hineinführen. Dann darauf, dass die Frage, wie jemand philosophieren will, sich erst beantwortet durch die Zuordnung zu einer Schule, einer Tradition, einer Partei, einer Meisterschaft oder wie auch immer man es nennen will. Und drittens darauf, das ist das ferner gelegene Ziel, dass diese Zuordnung zu einer Schule oder Meisterschaft gar keine Wahl, sondern ein Schicksal ist (und dass man dieses Schicksal herausfordern muss, um die Philosophie zu erfrischen, aber das ist bereits der darauffolgende Gedanke).

Die alte Disziplin

Letzte Woche hatte ich mir Gedanken über meine Unzufriedenheit mit der Philosophie gemacht, es gelang mir aber nicht, sie auf einen Nenner zu bringen (wenn man „nerdig“ nicht einen Nenner nennen will, aber das wäre unseriös). Gerade frage ich mich, ob nicht das Wort alt dieser gemeinsame Nenner sein könnte.

Alt kann viele Bedeutungen aufnehmen, man müsste es hier erst einmal mit der passenden ausstatten. Alt kann bedeuten gestrig, unzeitgemäss; oder – was damit in Zusammenhang stünde – verschlissen, verbraucht; aber auch erfahren, verdient, bewandert. Und vermutlich ist die Philosophie alles von dem, wobei mein alt wohl am ehesten auf das verbraucht anspielen würde, jedoch nicht in einem bösen Sinne.

Ich meine mit alt nicht, dass die Philosophie nicht auf der Höhe der Zeit wäre, wie etwa die christliche Religion nicht auf der Höhe der Zeit ist und aus verschiedensten Gründen nicht sein kann. Es gibt in der Philosophie genug Aktuelles, aktuelle Themen, aktuelle Reflexionen – die Philosophie, die wir haben, ist durchaus in unserer Zeit. Aber das heisst nicht, dass sie in irgendeiner Art jung oder neu wäre. Sie ist alt von ihren Wurzeln her.

Dieses Altsein der Wurzeln hatte ich, wie mir jetzt einfällt, schon einmal versucht, in Worte zu fassen, und zwar in Hinblick auf die „tiefen Formatierungen“ des derzeitigen philosophischen Denkens. Aber ich habe noch nie versucht, alt in dem reichen, ambivalenten Sinn zu verstehen, der mir jetzt vorschwebt.

Für den Augenblick lasse ich es dabei zu sagen, dass alt nicht gleichbedeutend mit schlecht ist, dennoch aber aus dem Altsein die Forderung nach etwas Neuem und Jungem herfliesst, nach einem frischen Denken.

Wie der und der

Anstatt die Frage, wie man denn nun philosophieren will, mit der Frage zu vergleichen, in welche Sparte oder Unterdisziplin man eine Wissenschaft betreiben will (Ökologie, Genetik, Paläobiologie usw.), kommt man der Sache näher, wenn man sie vergleicht mit der Frage, wie man eine Kunst betreiben möchte. Nehmen wir jemand, der eine Form von bildender Kunst ausüben will: Malerei, Bildhauerei, Skulptur, Installation, Video-Art etc. Diese Person wird vielleicht mehrere derartige Sparten gleichzeitig wählen oder sich für eine entscheiden – das ist aber nicht ausschlaggebend. Ausschlaggebend ist, bei wem sie in die Lehre geht.

Diese Lehre kann, muss aber aber nicht darin bestehen, dass man direkt bei jemand studiert, wie Wittgenstein bei Russell studiert hat oder Rafael bei Da Vinci (hat er das überhaupt?). Man kann auch bei jemand in die Lehre gehen bzw. sich einer Schule (einer Meisterschaft) anschliessen, indem man sie für sich selbst studiert, autodidaktisch (der „Meister“ muss davon gar nichts wissen). Und bei jemand in die Lehre zu gehen heisst auch nicht, dieser Lehre treu bleiben zu müssen – im Gegenteil, Aristoteles hat gegen Plato aufbegehrt, Heidegger gegen Husserl, Wittengenstein I gegen Wittgenstein II (Wittgenstein ist ja einer der wenigen und seltenen Fälle, die in gehörigem Masse bei sich selbst in die Lehre gegangen sind – das hätte er allerdings nicht tun können, wenn er nicht zuvor bei Russell gewesen wäre).

Aristoteles, Heidegger und Wittengenstein wären nicht geworden, was sie waren, wenn sie nicht vorher ihre jeweiligen Lehren durchlaufen hätten. Sie hätten nicht das denken können, was sie dann später dachten und wofür sie berühmt geworden sind. Sie mussten erst denken, wie ihre Lehrer dachten (oder wie man in deren Schulen dachte), um danach denken zu können, wie sie selbst dachten.

Es scheint, dass die Antwort auf die Frage, wie man philosophieren will, immer in irgendeiner Form lauten muss: Wie der und der.

Meisterschaft

Ich habe jetzt ein paar Mal das Wort Meisterschaft verwendet und ich finde es nicht unpassend. Es mag ein wenig altmodisch klingen, aber ein guter Philosoph (einer, bei dem man etwas lernen kann) ist immer ein Denkmeister oder meinetwegen auch ein Meisterdenker oder selbstverständlich eine Meisterdenkerin.

Um den Grad der Meisterschaft zu messen, gibt es keine objektiven Massstäbe, und nicht jeder mag die Meisterschaft all jener anerkennen, die irgendjemand anders für Meister hält, zudem mag es verkannte Meister einerseits, überschätzte Meister andererseits geben, wie sich an den immer wieder neu geführten Verhandlungen über den philosophischen Kanon zeigt.

Ich denke aber, dass es einige Voraussetzungen gibt, ohne die Meisterschaft jedenfalls nicht möglich ist, wie Bildung (man muss sich schon mit Philosophie auseinandergesetzt haben, aber man muss auch über das Fach hinaus Bildung besitzen), Hingabe an die Sache (was einen massiven Zeiteinsatz bedeutet für Lektüre, Reflexion, Schreiben) und natürlich eine entsprechende Veranlagung oder ein Talent.

Die Schule sticht

Auch in den Wissenschaften gibt es Schulen, die Schulenbildung ist aber gegenüber den Sparten sekundär, während in der Philosophie die Schule die Sparte sticht. Die Schule ist es, die bestimmt, wie wir philosophieren.

Um einmal die grösste Wasserscheide der derzeitigen Philosophie aufzugreifen: Jemand, der zur „analytischen“ Schule der Philosophie gehört, denkt jede philosophische Sparte, ob Wissenschaftstheorie, Ethik oder was auch immer, analytisch, während jemand, der zu „kontinentalen“ Schule gehört, jede Sparte „kontinental“ denkt. (Längst hat sich natürlich im analytic-continental-divide so einiges vermischt und seltsamerweise auch umgekehrt, die besten Experten für deutschen Idealismus findet man vermutlich inzwischen in angelsächsischen Ländern, die verschiedensten Anastomosen zwischen den Sphären sind entstanden, aber das soll uns hier jetzt nicht bekümmern).

Es ist auch hier ein wenig so wie in der Kunst: Ein abstrakter Künstler (um auch hier eine nicht mehr ganz aktuelle Unterscheidung zu bemühen, die dafür aber besonders illustrativ (!) ist) wird im Regelfall immer abstrakt arbeiten, egal, in welchem Medium, ein figurativer Künstler immer figurativ. Und sie werden in den meisten Fällen einander verachten, hassen, ignorieren oder alles zusammen, jedenfalls unvereinbar miteinander sein. Ausnahmen gibt es, klar.

Schicksal

Und dieses Zugehörig-Werden zu einer Schule soll Schicksal sein. Warum? –  Weil man nicht selber wählt. Niemand macht sich, bevor er beginnt, Philosophie zu studieren – und das ist, wenn man es zumindest zu einer gewissen Meisterschaft bringen will, ein Studium von wenigstens einem Jahrzehnt – Gedanken darüber, zu welcher Schule er gehören will. Das heisst, Gedanken macht er sich vielleicht schon, soweit das im Vorhinein möglich ist, aber sie werden nicht den Ausschlag geben für das, was nachher wirklich geschieht.

Und was wirklich geschieht, kann, denke ich, keiner im Einzelnen sagen. Man hat Bücher gelesen  und sucht sich die nächsten, um den ersten Büchern nachzulesen. Man geht in ein Institut und gerät in Kurse, die einem Aufgaben aufgeben, mit denen man sich auseinandersetzen muss, manchmal begeistert, manchmal mit Widerwillen. Etwas geschieht im politischen Leben. Etwas geschieht im persönlichen Leben. Man erlebt die Welt plötzlich anders. Man hat eine Idee und plötzlich das Gefühl, ihr unbedingt folgen zu müssen. Man hat einen Professor und ist beeindruckt, wie er eine Frage klärt, die man sich schon lange stellte, wie er sich politisch für etwas engagiert, wofür man selbst sich auch engagieren möchte. Oder man muss sein Brot verdienen und nimmt eine Stelle an und arbeitet sich in das ein, was sie mit sich bringt. Und immer gehört man zu einer Schule, eh man’s sich versieht und ohne recht überblicken zu können, wie es im Einzelnen dazu kam.

Das meine ich mit Schicksal. Nicht, dass etwas vorherbestimmt wäre. Sondern dass Dinge geschehen, auf die man nur sehr begrenzt Einfluss hat und die nachher das ganze Leben bestimmen.

Tun-Geschehen

Am Rand notiert: machen und geschehen lassen sich kaum voneinander trennen, die grammatische Aufteilung in aktiv und passiv ist eine Illusion. Machen und geschehen sind verschlungen ineinander.

Nicht „halb zog es mich, halb sank ich hin“ – es geht nicht um die faulen Kompromisse, sondern um ein kleinteiliges Ineinandergreifen. Darum, dass etwas geschieht, irgendetwas, ich dann anhand der durch Geschehen entstandenen Situation eine Handlung aktiv vollziehe, die hat vielleicht eine zeitlang gar keine Wirkung, dann aber plötzlich eine unvorhergesehene (vielleicht, weil ich ihre Folgen falsch eingeschätzt habe, vielleicht aber auch, weil ein zufälliges Ereignis die Kausalkette verbiegt), so dass wieder eine Situation entsteht, auf die ich wieder handelnd regiere, dann geschieht aber etwas, das ganz neue Rahmenparameter setzt, woraufhin ich ... und so weiter. Letztlich komme ich machen-geschehenlassend auf einem Schlingenwege irgendwo hin, wohin zu kommen ich mir nie hätte ausdenken können. Zum Beispiel zu einer philosophischen Schule.

Man sollte sich also nicht zu viel darauf einbilden, auf irgendeine bestimmte Art zu denken. Und vor allem nicht glauben, die anderen, die das nicht tun, seien begriffsstutzig. Sie haben nur ein anderes Schicksal.

Ein Schicksal provozieren

Die Frage, wie wir philosophieren wollen, findet also, scheint es, ihre Antwort durch Schicksal. Andererseits sagte ich, wir müssen uns diese Frage stellen, bevor wir überhaupt anfangen, zu philosophieren. Aber es hat doch keinen Sinn, sich eine Frage zu stellen, die sowieso nicht von einem selbst entschieden wird?

Der Widerspruch verschwindet, wenn wir den Indikativ durch einen Konjuktiv ersetzen, das müssen durch ein müssten. Ja, wir müssten uns, bevor wir beginnen, zu philosophieren, die Frage stellen, wie wir philosophieren wollen. Wir können es nicht, jedenfalls nicht in der Hoffnung auf eine Antwort, weil wir zu diesem Zeitpunkt unser Schicksal noch nicht kennen.

Auf die Feststellung hin, dass wir uns diese Frage stellen müssten, es aber nicht sinnvoll tun können, entringt sich uns ein Seufzer der Vergeblichkeit. Sie hat aber ihre eigene Aussagekraft. Sie sagt nämlich, dass wir, wenn wir anders philosophieren wollen als bisher (als es in den bisherigen, derzeitigen Schulen getan wird), zunächst ein anderes Schicksal provozieren müssen.

Erfrischung Philosophie

Die Philosophie ist alt. Man kann das so sagen. Es ist dann eben eine Behauptung.

Die Philosophie ist alt, sie hat sich in Abseits manövriert (vielleicht, wie M. L. neulich auf twitter sagte, in die Belanglosigkeit – für die Öffentlichkeit – professionalisiert), sie atmet in nichts einen Geist des Aufbruchs, sie ruft in nichts eine Begeisterung hervor, sie kann nur noch entweder besserwisserisch mäkeln oder in haarsträubender Pedanterie Wissenschaftlichkeit simulieren.

Die Philosophie braucht eine Erneuerung, einen neuen Aufbruch, einen neuen Zugriff, der sie wieder jung macht, der ein frisches Denken ermöglicht. Was sie braucht, ist eine Erfrischung.

Selbst wenn man meint, dass eine neues / anderes Philosophieren nötig ist, weiss man nicht, ob es möglich ist. Sicher ist es nicht dadurch möglich, auf alle Schulen zu verzichten („von Null zu beginnen“), genausowenig wie dadurch, schlicht zu einer bestehenden Schule zugehörig zu werden. Es muss also entweder einen dritten Weg geben oder gar keinen.

Komplexe, informierte Intuition

Ein dritter Weg sähe ungefähr so aus. Das Schicksal bringt einen dazu, sich keiner Schule anzuschliessen. Der Komplex aus Interesse, Zeitinvestition, Hingabe an die Sache bringt einen dazu, sich mit den bestehenden Schulen trotzdem intensiv zu beschäftigen. Wenn das geschieht vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass die alte Philosophie einer Erfrischung bedarf, was kommt dann dabei heraus, möglicherweise?

Möglicherweise kommt oder bildet sich dabei etwas heraus wie eine komplexe, informierte Intuition. Komplex ist sie, weil sie zusammengesetzt ist aus vielfältigen, auch einander widersprechenden Einflüssen verschiedenster Schulen, die ineinander verwoben (plectere) sind. Informiert ist sie, weil sie nicht naiv ist in dem Sinne, zu glauben, dass man auf Kenntnis und Studium der etablierten Schulen verzichten und „von Null beginnen“ könne. Eine Intuition ist sie, weil sie nicht unmittelbar artikulierbar ist, sondern sich als gefühlsmässiger mentaler Inhalt oder Zustand oder Prozess manifestiert (eine cognitive emotion), die nur dadurch – und nur möglicherweise – zu irgendeiner Art von Realisierung oder Konkretisierung gelangen kann, dass das Subjekt ihr folgt bzw. sich von ihr leiten lässt.

Auf einen solchen dritten Weg, womöglichen dritten Weg, potenziellen dritten Weg bin ich irgendwie geraten.

Standardphilosophien

Vielleicht sollte man nicht reden von der „etablierten Philosophie“ oder den etablierten Philosophien, sondern von den „heutigen Standardphilosophien“ oder „Standardschulen“.

*

01.10.
Primitiva erschliessen

Man kann, um anders zu philosophieren, nicht von Null beginnen. Wenn man einer der Standardschulen zugehörig wird, kann man die Philosophie aber auch nicht „erfrischen“.

Die komplexe, informierte Intuition, die einen auf einen dritten Weg bringen kann, entsteht aus ineinander verwobenen Einflüssen verschiedenster Schulen, sie erhebt sich wie ein Nebel über ihnen, der aus einer feuchten Landschaft herausdunstet.

Aber diese verschiedensten Schulen können nicht alle Schulen sein. Es ist schlicht nicht möglich, sich mit allem auseinanderzusetzen, erst recht nicht in derjenigen Genauigkeit und Tiefe, die für das Studium eines einzelnen wichtigen Philosophen gemeinhin für notwendig gehalten wird.

Solche Detail- und Tiefenkenntnis ist auch nicht nötig. Hinter jedem philosophischen Denken stehen einige wenige Grundfiguren oder Primitiva. Diese Primitiva sind nicht unbedingt explizierbar – dann hätten die entsprechenden Denker sie einfach geradeheraus formuliert oder man sollte hoffen, dass sie das getan hätten. Aber sie lassen sich durch ein angemessenes – nicht oberflächliches, aber auch nicht philologisch-detailversessenes – Studium der Texte (und ergänzend des ideengeschichtlichen Umfelds, der Rezeptionsgeschichte, der Biographie, alternativer aktueller Rezeptionen) fast immer erschliessen. Auf ein solches Erschliessen von Grundfiguren sollte die Philosophieausbildung ein viel grösseres Augenmerk richten, eines ihrer Ziele sollte sein, dass die Studenten eine solche Erschliessungskompetenz entwickeln.

Das Erschliessen denkerischer Grundfiguren oder Primitiva führt heraus aus dem Dilemma, dass man einen Autor nie genug studieren kann, aber alle Autoren studieren müsste, um Intuitionen zu entwickeln, die zum Erfrischen der Philosophie führen können.

Die Sache hat, universitär betrachtet, natürlich einen Haken: Wenn die Grundfiguren (Primitiva) nicht explizierbar sind (also ihr Verständnis selbst ein intuitives Verständnis bleiben muss), dann kann auch nicht überprüft werden, ob ein Student sie erfasst hat oder „richtig“ erfasst hat. Das Verständnis von Primitiva besteht darin, mit ihnen vertraut zu werden, mit ihnen auf gutem (auf kurzem, wie man auf Russisch sagt) Fuss zu stehen. Diese Vertrautheit mit ihnen muss der Studierende aber selbst herstellen und er muss auch selbst verantworten, wann er sein Verhältnis mit den Primitiva eines Autors als „vertraut genug“ betrachtet. Es geht hier um „implizites Wissen“ in der Art, wie es M. Polanyi skiziiert hat. Nichts, das sich in Tests abfragen liesse (aber etwas, das sich z. B. in Semesterarbeiten niederschlägt).

(Nachtrag: Ein Wort, über das man in diesem Zusammenhang auch noch nachdenken könnte, wäre Klischee.)

Selektion und Synthese

Eine „totale Synthese“ kann es nicht geben, auch nicht von Primitiva (Grundfiguren), immer bleibt die Grundlage der komplexe, informierte Intuition eine selektive, und diese Selektion hängt nicht zuletzt vom Charakter des Philosophierenden selbst ab, und damit wieder vom Schicksal.

Und eine Synthese allein wäre auch keine brauchbare Voraussetzung für eine Erfrischung der Philosophie. Wichtig ist auch, Dinge wegzulassen, sie nicht zu tun, weil sie bereits getan worden sind (oder weil man sie nicht tun will). Um weglassen zu können, muss man aber wissen, was man weglassen will, also wissen, was bereits getan worden ist, unter welchen Umständen, wie es sich ausgewirkt hat und so weiter.

Stil und Methode

Wie wollen wir philosophieren? Dieses wie scheint ein wie der Methode zu sein, aber da die Philosophie vor allem eine Kunst ist oder ich sie als eine solche bestimmen will, lassen sich Methode und Stil nicht voneinander trennen. Der Unterschied zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie besteht weniger in den unterschiedlichen Methoden als im unterschiedlichen Stil, der sich in diesen Methoden niederschlägt, der aber fast immer auch mit einem unterschiedlichen Stil im Umgang mit Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Sprache usw. einhergeht.

Wenn wir uns fragen, wie wir philosophieren wollen, müsste wir uns also vor allem fragen, in welchem Stil wir philosophieren wollen (sofern wir selbst auf unseren eigenen Stil Einfluss haben). Und wenn wir keinen Stil finden, der verspricht, uns einer Erfrischung der Philosophie näherzubringen, dann müssen wir uns auf die Suche nach einem neuen begeben (mehr als auf die Suche nach einer neuen Methode).

Fragen umverschwinden lassen

Warum überhaupt die Philosophie erfrischen? Warum überhaupt anders denken? Das Andere, das Neue ist ja kein Selbstzweck. Wozu soll ein neuer Zugriff, ein neuer Ansatz, ein neuer Stil usw. dienen, weshalb sollte er notwendig sein? Wieso bin ich so überzeugt davon, dass die Philosophie der Erfrischung bedarf?

Ich verbinde mit einer Erfrischung der Philosophie zwei verschiedene Arten von Hoffnungen. Die ersten wären die funktionalen Hoffnungen, die Hoffnungen, von denen ich letzte Woche geschrieben habe (dass sich dann vieles besser denken liesse, dass Denken und Begeisterung wieder zusammengehen würden usw.).

Neben diesen funktionalen Hoffnungen haben ich aber auch eine substanzielle Hoffnung, und die ist vielleicht sogar entscheidend dafür, dass ich von meinen Erfrischungs-Programmen partout nicht lassen kann. Diese substanzielle Hoffnung ist eine Hoffnung auf das Verschwinden philosophischer Fragen – und auf das Auftauchen neuer. Um diesen Gedanken zu fassen zu bekommen, muss man aber einen Umweg machen.

Wittgenstein sagte (ich scheine mich auch einer Schule angeschlossen zu haben, obwohl ich das Gegenteil behaupte, nämlich der Wittgensteinschen), dass eine philosophische Frage dann gelöst ist, wenn sie verschwindet, wenn es  überflüssig wird, sie zu stellen.

Ein Beispiel (nicht von Wittgenstein) wäre, dass wir heute nicht mehr darüber diskutieren, ob ein Wort für eine Sache „suponiert“ oder in welchem Verhältnis „Form“ und „Wesen“ einer Sache zueinander stehen. Das sind Fragen anderer Epochen, die obsolet geworden sind dadurch, dass sich unser Fragen-Stellen selbst verschoben hat. Es mag zwar sein, dass es jeweils verwandte Fragen gibt, die heute gestellt werden, oder dass alte Fragen in neuem Gewand wieder auftauchen – das ändert aber nichts daran, dass die ursprüngliche Frage nicht mehr gestellt wird.

Welche Fragen wir stellen, hängt von den tiefen Voraussetzungen ab, auf denen unser Philosophieren basiert, von seinen Wurzeln (das können Begrifflichkeiten sein, aber ebenso auch, wiederum, Methoden und „Stile“).

Nehmen wir die Fragen nach der „Existenz von etwas“. Solche Fragen scheinen sich unausweichlich zu stellen, sowie man überhaupt beginnt, in einer Art und Weise nachzudenken, die sich philosophisch nennen liesse, und ich hatte sogar gestern diesen Text ursprünglich mit ihnen begonnen. Ich hatte eine Situation skizziert, ein fiktives Beispiel. Ich hatte geschrieben:

Sagen wir, ich habe wegen einer neurologischen Besonderheit oder Erkrankung für längere Zeit die Erfahrung besonders lebhafter Halluzinationen oder traumartiger Wahrnehmungen gemacht, die sich für mich aber genauso real wie die übrige Wirklichkeit anfühlten. Diese Phase der ungewöhnlichen oder krankhaften Neurologie ist nun aber vorbei und ich frage mich jetzt, wie ich überhaupt der Täuschung aufsitzen konnte, meine halluzinierte Wirklichkeit habe die gleiche Realität wie die wirkliche Wirklichkeit. Ich frage mich wie sich Einbildung von realer Erfahrung unterscheiden lässt, und was es denn überhaupt heisst, dass etwas wirklich oder real ist. Ich stelle mir also die Fragen, die in der philosophischen Fachsprache ontologische Fragen heissen, Fragen der Seins-Kunde, und möchte über sie nun philosophieren.

Die Frage danach, was es gibt, ist eine der Grundfragen der westlichen Philosophie, vielleicht sogar jeder bisherigen Philosophie. Sie gehört sicherlich auch zu denjenigen Fragen, die sich der „normale“ Mensch, der Nicht-Philosoph, grundsätzlich dann und wann stellt, aber nicht systematisch weiterverfolgt, und die aus diesem unspezifischen Menschenverstand in die Philosophie einwandert und von ihr dann auf die verschiedensten Arten und Weisen weiter verfolgt und „beantwortet“ wird.

Das „beantwortet“ setze ich in Anführungsstriche, denn natürlich gibt es so viele Antworten auf diese Frage, wie es Philosophen oder besser: Philosophien gibt. Und da sich diese Antworten in so vielem widersprechen und sie in so vielem unvereinbar sind miteinander, kann man sich fragen, ob es überhaupt Antworten sind, ja, ob es überhaupt Antworten auf die ontologischen Fragen geben kann.

Wenn nicht, vielleicht ist dann die Frage falsch gestellt? (das wäre wieder eine Wittgensteinsche Denkfigur). Das ist gut möglich. Aber wenn man einsieht, dass eine Frage falsch gestellt ist (wie, sagen wir, die Frage nach der Farbe der Zahl zwei eine falsch gestellte Frage wäre), dann sollte diese Frage verschwinden. In dem Augenblick, in dem man einsieht: Diese Frage hat keinen Sinn, würde man sie sich nicht mehr stellen.

Die ontologischen Fragen aber verschwinden nicht. Sie stellen sich hartnäckig immer wieder neu, man kann ihnen nicht entgehen. Was gibt es, was gibt es nicht? Wie kann ich das eine vom anderen unterscheiden? Was heisst es überhaupt, dass etwas real ist? – diese Fragen entspringen aus den Voraussetzungen, aus den tiefen Prämissen, aus den Wurzeln unseres Denkens selbst.

Und dennoch kann ich mir – zumindest vage – vorstellen, wie die ontologischen Fragen verschwinden könnten. Und aus einer gewissen Perspektive heraus sind sie vielleicht sogar bereits verschwunden.

Zum Verschwinden der ontologischen Fragen könnten verschiedene Faktoren beitragen. Zum einen eine Veränderung unserer Vorstellungen von der Materie (denn das Urmodell des Daseins-von-Etwas ist zweifellos das Dasein eines materiellen Gegenstandes).

Aus der Sicht der Physik, der Quantenphysik, aber auch der Kosmologie (wenn man an die Stringtheorie denkt oder andere spekulativ-kosmologische Theorien), hat die Frage danach, was es gibt, so wie sie im Alltag gestellt wird (gibt es eierlegende Säugetiere, gibt es dreieckige Quader, gibt es eine zehnte Symphonie Beethovens) nicht viel Sinn. Es ist zwar nicht so, dass sich die Physik die Frage danach, ob es etwas gibt oder nicht gibt, nicht stellen würde, aber die Frage ist in diesen Disziplinen ganz anders formatiert als im Alltag oder auch in der Philosophie, sie hat ein empirisch-numerisches Format, während sie in der Philosophie eben ein ontologisches Format hat. Wenn man sie ontologisch stellt, also so, wie wir es in der Philosophie oder im Alltagsleben tun, dann ist diese Frage, von der Physik her betrachtet, tatsächlich falsch gestellt. Und deshalb stellt die Physik sie so auch nicht, sondern sie fragt: Was lässt sich beobachten? Was lässt sich messen? Was lässt sich berechnen? Und das, was sich messen, beobachten, berechnen lässt, ist dann der Gegenstand der Physik, es „existiert“ für die Physik.

Dass die Frage danach, was es gibt, in der Philosophie ontologisch behandelt wird, also nach dem Vorbild der Alltagsfrage „Was gibt es?“ (und nicht z. B. nach den Kriterien der Physik), zeigt sich in verschiedenen Philosophien auf verschiedene Art und Weise. In der analytischen Philosophie kreist sie zum Beispiel um den Existenzquantor [als Symbol: ein umgedrehtes „E“]: Voraussetzung, „Wurzel“ der analytischen Philosophie ist es, anzunehmen, dass quantifiziert werden kann, ob etwas existiert oder nicht, und dass diese Quantifizierung grundsätzlich eine binäre ist,  zu einem ja oder einem nein führt. An dieser grundsätzlichen Binarität ändert sich auch dann nichts, wenn bei Fragen wie der Existenz fiktiver Entitäten, kontrafaktischer Situationen usw. auch zunehmend qualitative Überlegungen ins Spiel kommen.

Es gibt jedoch einige Philosophien, in denen diese aus dem alltäglichen Erleben herstammende, binäre on-off-Ontologie (technisch spricht man oft von Substanz-Ontologie) modifiziert oder teilweise aufgebrochen wird. Ein Beispiel wäre die Philosophie Heigeggers, in der das Sein als Sein von Seiendem verstanden wird, als etwas, das sich eher „ereignet“, als dass man sagen würde, dass es auf eine statische, substanzhafte Weise „ist“. Insbesondere die Prozessontologien nach Whitehead oder in neuerer Zeit John Dupré machen diese Abkehr von einem statischen Seinsbegriff explizit: Sie verstehen das Es-Geben ausdrücklich als einen Vorgang, nicht als einen Zustand (und dieser Verstehensweise schliesse ich mich an), womit sich auch ein viel grösserer Vorrat an Schattierungen von ins-Sein-Kommen, aus-dem-Sein-Gehen usw. erschliesst, als das in den klassischen Substanzontologien der Fall ist. Überflüssig werden die Fragen danach, was es gibt, davon aber noch lange nicht.

Neue Wurzeln

Wie könnte also ein Auflösen der ontologischen Fragen stattfinden? Einmal, wie gesagt, von der Seite der Physik her, die innerhalb ihrer Betrachtungssysteme mit deren eigenen, numerisch-empirischen Formatierungen die ontologischen Fragen verschwinden lässt – aber eben auch nur dort. Im alltäglichen Leben fragen wir, Physik hin oder her, weiterhin Was gibt es?, und auch die Philosophie müht sich immer noch an ihren systematisierten, professionalisierten Versionen dieser alltäglichen Frage ab, sei es in der rigiden Form einer Substanzontologie, wie sie sich im Gebrauch des Existenzquantors niederschlägt, sei es in den flexibleren Versionen, die eine Heideggerianische Ontologie (und auch andere „Existenzialphilosophien“) oder die Prozessontologien zur Verfügung stellen.

Man kann aber zumindest eines sagen: Wenn es gelingt, einen philosophischen Ansatz zu finden, dessen Elaboration zu einer philosophischen Auflösung der ontologischen Fragen führt (und sei diese Auflösung auch nur ein Nebeneffekt der Ausarbeitung eines solchen Ansatzes, der vielleicht ursprünglich ganz andere Ziele verfolgt) und wenn dieser Ansatz sich als so plausibel erweisen sollte, dass zum neuen alltäglichen Denken wird und das alte alltägliche Denken darüber, „was es gibt“, verdrängt, dann würden die ontologischen Fragen wohl tatsächlich verschwinden: nicht nur aus der Physik, sondern auch aus der Philosophie und aus dem Denken überhaupt. 

Dass das geschieht, ist natürlich ausserordentlich unwahrscheinlich. Und in jedem Falle wäre es illusorisch, anzunehmen, dass ein solches Verschwinden keinen Preis besässe. Aus allem, was man bisher über die Umformatierung grosser Fragen erfahren hat, seien sie wissenschaftlicher oder philosophischer Art, kann man mit einiger Sicherheit folgern, dass das Verschwinden einer Frage das Auftauchen einer neuen mit sich bringt, und kaum jemals sind diese neuen Fragen weniger dornig, als die alten es gewesen sind. Aber auch der Übergang zu einer neuen Dornigkeit, die man erst wieder einmal neu erkunden kann, wobei tausenderlei nützliche Gedanken und Einsichten zu erwarten sind, ist ein Fortschritt, und dieser Fortschritt ist es, den ich mit Umverschwinden meine und von dem ich denke, dass wir unsere Energie heute darauf verwenden sollten, ihn herbeizuführen.

Pantoffeln ans Bett

Wenn ich meinen Text hier richtig lese, dann will ich sozusagen die Philosophie auf neue Füsse stellen. Oder vielleicht nicht die ganze Philosophie, aber doch einen gehörigen Teil von ihr. Oder vielleicht nicht auf neue Füsse stellen, aber immerhin Schuhe hinstellen, in die die Philosophie, wenn sie mag, dann ihre Füsse stecken kann (oder ein Teil der Philosophie dies tun kann). So oder so ist das ganz schön grosspurig. Oder ganz schön vermessen.

Ja, ist es das? Ich weiss nicht. Manchmal denke ich in der Tat, ich bin irgendeinem Wirkmächtigkeits-Wahn zum Opfer gefallen. Dann wieder scheint mir: nein. Ein Wirkmächtigkeits-Wahn wäre es, wenn ich glaubte, eigenhändig, sozusagen mit Links, das Philosophieren in den Fakultäten, im Internet, in den Köpfen der Menschen verändern zu können. 

Aber das glaube ich nicht. Ja, ich will der Philosophie neue Pantoffeln nähen, einem Teil von ihr. Aber ob sie sie anzieht? Ob sie sie überhaupt zur Kenntnis nimmt? Ob es tatsächlich etwas ändert wenn sie sie überstreift, wenigstens einmal zur Probe, in einem Kabinchen, wo es keiner sieht? Ich weiss es nicht, und ich habe darauf keinen Einfluss.

Ich möchte keine Wahrheiten verkünden, ich möchte einen Vorschlag machen. Das ist überhaupt die Formel, auf die ich immer wieder zurückkomme, wenn es um den Geltungsanspruch von Philosophie geht: Philosophie kann immer nur einen Vorschlag machen, nie „sagen, wie es ist“. Wie auch ein Werk der bildenden Kunst, der Literatur oder der Musik immer nur ein Vorschlag ist, sich mit ihm zu beschäftigen oder etwas von ihm für sich zu übernehmen. Alles andere wäre Nötigung.

Es ist meine Sache, ob ich mich an eine Arbeit mache, die jeder sonst für aussichtslos halten würde. Kann sein, ich nähe und nähe, und irgendwann stellt sich heraus: Odysseus schaut noch nicht einmal vorbei, und die Pantoffeln stehen unerprobt an seinem Bett, bis sie von den Motten zerfressen werden und zerfallen. Dann wäre es halt verlorene Liebesmüh gewesen – mein Pech.

Wieso ich

Bleibt das Ich. In der Philosophie gehört es sich nicht, das Wort allzu offensichtlich in den Mund zu nehmen. Die Gedanken sollen für sich selbst stehen, wer sie hat, ist unerheblich.

Das ist natürlich ein Selbstbetrug. Es philosophiert immer jemand.

Die Frage ist eher, wie das Nennen des Ich zu verstehen ist. Aufplusternd und selbstgerecht? Seht her, dies denke ich, ich denke es, dieses einzigartige, fast hätte ich gesagt: Schnabeltier (eine Verbeugung an Robert Gernhardt), und daher verdient dieses Denken eure Aufmerksamkeit? Das wäre in der Tat unschön und vermessen. Oder heisst dieses ich, umgekehrt, bescheiden: Ja, dies denke ich, aber ihr denkt vielleicht etwas anderes und habt nicht weniger recht, und sowieso bin ich ja nur einer unter Milliarden, die denken, und selbst wenn ich mich noch so sehr mühe, werde ich immer nur mit Wasser kochen, wie übrigens alle anderen auch. In diesem Fall ist das Nennen des Ich dann eher ein Abdimmen des Gesagten, ein Mildern seines Anspruches auf Geltung, seine Subjektivierung.

Aber natürlich kann man die Verstehensweise des Wortes ich nicht vorgeben, wenn man es verwendet, und vielleicht weiss man selbst gar nicht, welche man eigentlich meint. Und so changiert das philosophische Ich zwischen grossspurig und bescheiden, und das wird vielleicht auch immer so bleiben. ︎︎︎


Radikale Subjektivität


07.10.

Es fällt mir ungeheuer schwer, zu denken wie ich.

Es gäbe natürlich die Möglichkeit, zu denken wie allerlei andere, aber dann dächte ich nicht wie ich.

Und ich denke ja wie ich, und will das. Und will das besser tun.

Ausserdem zweifle ich auch bei den anderen daran, dass sie denken wie sie. Das heisst, ich zweifle daran, dass sie für sich so denken, wie sie das öffentlich tun. Nicht, dass ich glauben würde, sie liessen ihr persönliches Denken nur in einer zensierten oder geschönten Fassung an die Öffentlichkeit, darum geht es nicht. Eher vermute ich, dass das Denken für andere ein anderes Format besitzt als das Denken für sich selbst. Man muss sich gewissermassen ankleiden, um öffentlich zu denken, und die Kleidung besteht aus den Begriffen, die die anderen verstehen. Oder anders gesagt, man muss sein eigenes Denken erst in verständliche Begriffe übersetzen, bevor man es artikulieren und damit öffentlich machen kann.

Wenn das so ist, dann ist das, was mir als das Denken der anderen entgegentritt, aber niemals ihr eigentliches Denken. Es ist die Übersetzung ihres eigenen Denkens in verständliche Begriffe, eine Übersetzung, die zwangsläufig verzerrend und unvollständig ist. Es ist ihr bekleidetes Denken, nicht ihr unbekleidetes. Aber nur das, das unbekleidete, wäre wirklich ihr Denken. Wenn ich also fremdes Denken übernehme und mir zu eigen mache, dann ist das immer fremdes öffentliches Denken, nie aber fremdes privates Denken, und das heisst, ich kann überhaupt nicht so denken können, wie jemand anders denkt.

*

Man kann sich natürlich fragen, wie gross die Verzerrung und der Verlust sind überhaupt, wenn privates in öffentliches Denken übersetzt wird. Sollten sie gering sein, dann würde ich, indem ich das öffentliche Denken von jemand anders übernehme, mich seinem privaten Denken zumindest annhähern. Nach meiner eigenen, persönlichen Erfahrung ist die Entfernung von Denken für sich zum Denken für andere aber eine gehörige, wenn nicht eine gewaltige. Ich würde sogar sage, dass das Denken für sich gar nicht ins Denken für andere übersetzt wird, sondern dass das eine nur zum anderen Anlass gibt. Wenn das aber so ist, dann ist das öffentliche Denken ein völlig anderes als das private, und dann gibt es von ihm vor allem keinen Weg zurück: Dann ist das öffentliche Denken eines anderen das einzige, was ich von ihm erfahre, und was er selbst denkt, für sich, das erfahre ich nie.

Eine Sammlung fremder Kleider


Es fällt mir ungeheuer schwer, zu denken wie ich, aber ich denke ja, wie ich denke. Ich denke zum Beispiel nach über den Geist, über das Denken. Ja, das ist ein Zirkel, aber ein Zirkel, der seinen Sinn hat. Ich denke nach, buchstäblich jeden Tag, darüber, was der Geist „ist“, wie er „funktioniert“, wie er „aufgebaut ist“, wie er mit dem Körper (vor allem dem Gehirn) und anderen Geistern (den Geistern anderer Menschen) zusammenhängt. Wozu? Weil – ich weiss nicht, ob es eine Antwort braucht. Weil alles, was Menschen machen, auf die eine oder andere Art und Weise in ihrem Geist stattfindet und ich das besser verstehen will. Vielleicht ist das der Grund, vielleicht auch etwas anderes.

Würde ich das öffentlich tun, also öffentlich nachdenken darüber, was der Geist „ist“, wie der Geist „funktioniert“ und so weiter, dann wäre das, was ich mache, Philosophie des Geistes. Dann gäbe es dafür Institute, Zeitschriften, Konferenzen; dann gäbe es das, was man „Diskurs“ oder „Debatte“ nennt. Aber ich tue es nicht öffentlich – ich denke für mich.

Und ich möchte auch gar nicht anders denken als für mich. Denn das öffentliche Denken ist das Denken der Bekleideten, das übersetzte Denken, das Denken, zu dem Anlass gegeben wurde von etwas, das mir verborgen bleibt, ein Resultat, ein Epiphänomen, von dem kein Weg zurück zum Ich führt. Aber was soll ich mit einem Denken, das nicht wieder bei mir ankommt? Ich will ja selber denken, ich will hier sitzen können und versuchen können, mir den Geist vorzustellen, wie er „ist“, wie er „funktioniert“, ich will meine Vorstellungen vom Geist mitlaufen lassen, wenn ich ein Buch lese oder an einer Diskussion teilnehme – dazu müssen diese Vorstellung bei mir sein, meine sein. Wenn ich aber am öffentlichen „Diskurs“ teilnehme, erhalte ich nur eine Sammlung fremder Kleider.

Hm, hier, so


Also denke ich weiter für mich. Das ist aber schwer, weil es wortlos ist – wenn ich überhaupt „Worte“ für es finden würde, dann klängen sie so: Das hier besteht aus hm, hm und hm, und wenn dann vielleicht so, hier, sowas darauf so, dann ... – aber sogar das ist bereits viel zu artikuliert. Wittgenstein hatte vielleicht Recht damit, dass es keine Privatsprache geben könne, ein Privatdenken gibt es aber mit Sicherheit.

Das Wort ist das Problem. Wollte ich mein persönliches Denken davor bewahren, mir zu entgleiten, müsste ich es in Worte fassen. Das Wort ist aber eine zwiespältige Sache: Es hält das Gemeinte ebensosehr fest, wie es es vertreibt. Мысль изреченная есть ложь. Es stimmt so nicht, aber es ist viel Wahres dran. Was bei hm, hier und so in einem einzigen Augenblick im Geist (und über den Geist) präsent wird, ein komplexes Zusammengesetztes, das wiederum aus zahlreichen anderen sos und hms und hiers besteht, für das existiert kein Wort, und wenn man eines fände, dann bedeutete es nichts oder das falsche, und wenn man dafür sorgen wollte, dass es das richtige bedeutet, brauchte man dafür ganze Bücher, für ein einziges Wort, um dieses zu erklären, und selbst dann, selbst wenn dieses Erklären gelänge, wäre das Wort doch immer ein Gefängnis, in dem das Gemeinte ersticken, eine Zwangsjacke, die es erdrücken würde.

Das macht das Denken so schwer: Dass man es nicht formulieren kann, ohne es zu zerstören, dass es aber, wenn man es nicht formuliert, sich selbst zerstört.

Die Crux des Konstitutiven


Hm, hm und hm, und wenn dann vielleicht so, hier, sowas darauf so, dann ... – das für-mich-Denken selbst ist noch viel vager als das, und vor allem ist es flüchtig. Damit das Denken Form, Dauerhaftigkeit, Reproduzierbarkeit bekommt, damit man auf es zurückkommen kann, es ändern, auf es aufbauen, braucht es Sprache. Es muss in Sprache gefasst werden. Aber diese Sprache ist zugleich, was es zerstört. Und es wäre so viel Sprache nötig, um nur ein einziges hm, das sich soweit abseits der etablierten Sprachlichkeit befindet (da es so privat ist), in Worte zu fassen (und durch diese Worte zu beschädigen, womöglich unbrauchbar, falsch zu machen), dass man nicht nur mit dem Reden zu keinem Ende kommt, wie es bei Salomon heisst, sondern noch nicht einmal zu einem Anfang.

Charles Taylor hat, in seinem Stück Bedeutungstheorien, über diese Funktion der Sprache geschrieben – dass man einen Gedanken erst dann „hat“, wenn man Sprache für ihn hat. Wie nannte er das? Die Funktion der Vergegenwärtigung? Ich muss das morgen nachsehen, das Buch ist nicht hier. 

[Nachtrag: Er nennt das „konstitutiv“, und hat noch „deskriptiv“ und „invokativ“. Das Konstitutive in der Sprache wirkt sich dadurch aus, dass das Gemeinte, indem es benannt wird, sich verändert: „Wenn wir folglich dahin gelangen, ein Gefühl auf eine neue Weise zu artikulieren, dann ist es häufig so, dass sich das Gefühl ebenfalls wandelt.“]

Hm. Hm, das heisst ... dahinter verbirgt sich ... das hat zu tun mit ... Hm „ist“ mehrerlei.

Man kann diese Operatoren, diese Verben wie „ist“, „funktioniert“ und so weiter nur in Anführungsstriche setzen. Weil man sie gebraucht, ohne eigentlich sie gebrauchen zu wollen, weil man sie eigentlich gleich wieder durchstreicht, zurücknimmt. Heidegger nannte das sous rature und hat die Wörter durchgestrichen, aber lesbar gelassen. Hm ist ... Hm besteht aus, in hm befindet sich ... mehrerlei: dreierlei: Schalten, Schwingen, eventual-Verschränkung.

Schalten, Schwingen, eventual-Verschränkung: Das sind drei Dinge, die man durchaus sagen kann, ohne dass sie unter den Worten gleich zerbrechen! Das ist ein Erfolg!

Über hm ist damit freilich noch nichts gesagt, es manifestiert, gewärtigt, gegenwärtigt sich davon noch nicht, was mit hm gemeint ist. Wobei ich es ja meine, und also weiss („weiss“, weiss), was gemeint ist. Aber ich habe das Gemeinte noch nicht.

Um es zu haben, um in den Stand des es-Habens zu kommen, um es zu bekommen, muss ich – – – ich muss verschiedene Schritte durchlaufen, vollführen. Der erste ist, zu artikulieren, wie ich diese drei Wörter, diese drei Ausdrücke –Schalten, Schwingen, eventual-Verschränkung – verstanden haben möchte. (Also: was sie für mich bedeuten sollen. Aber das ist das gleiche wie „wie ich sie verstanden haben möchte“, da die Bedeutung eines Wortes darin besteht, wie es verstanden wird.)

Schalten: an / aus, on / off, Exzitation / Inhibition, ja / nein, Affirmation / Negation.

Hier geht es um Neuronales, wie auch bei den anderen beiden. Warum, soll erst einmal offen bleiben.

[hier weitermachen. Dies führt in Richtung des Klangs, aber ich kann ihn nicht „Klang“ nennen, denn weder Schalten noch eventual-Verschränkung fällt unter Klang, also brauchte man (Un)Klang, Klang-nicht-Klang, etwas in dieser Art ...]

[Nachtrag: Die Gedanken aus dem ersten Teil müssen in Richtung auf eine informierte radikale Subjektivität weitergeführt werden. Eine Subjektivität, die nicht informiert ist, kann nichts zu sagen haben (nicht interssant sein), die Informiertheit ist der Mindestanspruch dafür, dass eine Subjektivität auf Interesse stossen kann.︎︎︎


Was man wollen soll


09.10.
Ich hatte diese Woche spontan diesen Post auf facebook geschrieben  mit dem Titel DAS WOLLEN BESTIMMT DAS VERSTEHEN. Manche würden zu dieser „Überformung durch das Wollen“ bias sagen, das ist mir aber zu technizistisch. Es macht nicht die Gewalt des Wollens deutlich, die sich hier auswirkt. Und manche würden auch von „Erkenntnis“ reden, ich bleibe aber bei Verstehen, denn man kann nicht eine falsche Erkenntnis haben, wohl aber ein falsches Verstehen, und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend.

Etwas so-hinwollen


Der Post zeichnete ein Bild, eine Art Schattenriss davon, dass man die Dinge versteht, wie man sie will. Wie entscheidend gerade dieser Ausdruck ist – dass man etwas so und so will – wurde im Post nicht klar, und es war kein Platz dafür, das zu erläutern. Ich sage ja bewusst nicht, man will, dass etwas so und so sei, obwohl das die übliche Ausdrucksweise wäre. Ich sage man will etwas so und so, und darin liegt ein sprachlich kleiner, inhaltlich aber grosser Unterschied. 

Wollen, dass etwas so und so sei, ist ein wünschendes Wollen. Der Wunsch besteht darin, dass man wünscht, etwas möge sich als so und so herausstellen. Der Wünschende (oder Wollende) ist dabei also eher passiv gedacht: Die Welt wirft ihr Los, und wenn alles gut geht, bin ich der Gewinner. Die Idee der bias bringt dann etwas mehr Aktivität des Subjekts ins Spiel, nämlich zumindest die einer aktiven (und parteiischen, verzerrten) Selektion der „Angebote der Welt“, aber diese Aktivität wird nur halbherzig dem wünschenden Wollen aufgepropft.

Anders ist das beim etwas so Wollen. Dieses Wollen ist von vornherein ein gestaltendes Wollen. Ich will etwas so – das Modell dafür findet sich nicht im passiven Hoffen auf den Ausgang eines stochastischen Prozesses, sondern in der aktiven Tätigkeit, am deutlichsten in der künstlerischen. Wenn ich mich zum Beispiel als Musiker an mein Instrument setze und etwas spiele und ich bin unzufrieden damit, was heisst das? Es heisst, dass das, was ich spiele, nicht ist, wie ich es will. Denn ich will es so und so – es kommt so aber nicht heraus. Bis ich es dann, nach mehrfachen Probieren, Experimentieren usw., mehr und mehr so hinbekomme. Der Vorgang, der auf dem Weg vom Misserfolg zum Erfolg stattfindet, besteht also gewissermassen darin, dass ich es so hinwill. Das Wollen hat, dadurch, dass ich will und gemäss diesem Wollen tue, einen unmittelbar gestaltenden Effekt.

Oder, vielleicht ist das das bessere Beispiel: Ein Maler, sagen wir, ein abstrakter Maler, bringt die Farbe auf seine Leinwand. Er hat natürlich eine Konzeption seines Bildes (oder jedenfalls seiner Methode) und auch gewisse Gründe für diese Konzeption, aber der Akt des Malens besteht im So-Hinwollen der Farbe. Man wünscht nicht, dass der Farbauftrag so und so sei und wartet dann, bis aus heiterem Himmel etwas mit der Farbe geschieht, damit man aus verschiedenen Versionen diejenige auswählen kann, die dem Wollen entspricht. Man wählt auch nicht, jedenfalls in den meisten Fällen nicht, aus einem Arsenal von künstlerischen Mitteln dasjenige aus, das man für angemessen hält, um ein Darstellungsziel zu erreichen, wie man in einem Baumarkt aus dem Regal entweder einen Hammer oder eine Bohrmaschine mitnimmt, je nach dem, was es im Haus zu werkeln gibt. Der Weg vom Wollen zum Tun ist ein direkterer. Man tut wollend, und damit stellt sich das Ergebnis ein. Das Wollen ist bereits das Tun oder es ist jedenfalls fast bereits das Tun.

Und so ist es auch beim Einfluss, den das Wollen auf das Verstehen hat. Das Verstehen wird vom Wollen unmittelbar so-hingewollt, etwas wird so-verstanden kraft des Wollens.

Kein Konstruktivismus


Das als erstes. Als zweites: Wer den Post oberflächlich liest, kann meinen, ich vertrete einfach einen Konstruktivismus, also eine Position, die, vereinfacht, sagt: die Wahrheit wird gemacht (und folgerichtig gibt es dann nicht „die“ Wahrheit, sondern ihrer mehrere).

So ist es aber nicht. Natürlich tragen Realismus („die Welt ist, wie sie ist“) und Konstruktivismus („die Welt ist für uns, wie wir sie uns machen“) seit jeher einen heftigen Konflikt miteinander aus, aber ich schlage mich in diesen Konflikt nicht auf die eine oder auf die andere Seite. Denn beide Seiten haben Recht – je nach Anwendungsgebiet. Und deshalb mache ich die Frage Realismus oder Konstruktivismus abhängig vom Material, mit dem das Verstehen (das vom Wollen beeinflusste, modulierte, dirigierte, bestimmte Verstehen) es zu tun hat.

Ich hatte da im Post geschrieben: „Die Frage ist, was das Material hergibt“, und:  „Wer Sars-CoV-2 als eine Schöpfung von Bill Gates versteht, weil er es so will, der »versteht« zwar etwas, aber dieses Verstehen ist ein Fahrrad aus Ton“ (vorher ging es darum, was sich aus Ton formen lässt und was halt nicht – das, was sich nicht formen lässt, wird dem Material nicht gerecht, es überdehnt, sprengt dessen Möglichkeiten). Dieser Verweis aufs Material ist es, was meine Position abgrenzt gegen den üblichen Konstruktivismus. Die Kunst liegt darin, die Grenzen des Materials auszuloten (auch das ist aus dem Post).

Manches Material zieht enge Grenzen – dann kann es auch nicht viele verschiedene Möglichkeiten des Verstehens geben, im Extremfall nur eine einzige. Wenn das Material, sagen wir, unser Planet ist, oder genauer: die Frage nach dessen Form, dann kann es nur ein einziges sinnvolles (richtiges, wahres, gutes, taugliches ...) Verstehen geben, nämlich das, dass diese Form eine runde ist. Wenn aber das Material heisst: „die Auswirkungen der Klimakrise“, dann ist das Spektrum der möglichen (sinnvollen, richtigen, guten, tauglichen, „wahren“ ...) Verstehensweisen gross. Dann gibt es tatsächlich mehrere „Wahrheiten“, die nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, und dann ist das Verstehen tatsächlich in ausserordentlichem Masse dem Wollen unterworfen.

Die Rolle des Wollens wird also umso geringer, je enger die Grenzen sind, die das Material vorgibt. Diese Grenzen sind aber nie definitiv zu bestimmen, deshalb müssen sie ausgelotet werden und deshalb wird auch immer über sie gestritten werden.
 

Das fremde Wollen überhaupt


Jetzt aber zu dem Thema, um das ich mich heute hier kümmern wollte. Ich hatte in meinem Post, mit einem vielleicht etwas kryptischen ethischen Pathos, am Ende geschrieben:

Was man nun aber sinnvollerweise wollen sollte, das ist die grosse Frage. Vielleicht gilt ihrer Beantwortung die eigentliche Sehnsucht.

Was man nun aber sinnvollerweise wollen sollte – allerdings, das ist eine Frage, und was für eine! Es ist eine der Varianten, in denen man die ethischen Kernfragen formulieren kann, die Fragen danach, was gut ist, wie man gut und richtig lebt oder wie auch immer man sie in Worte fassen will.

Es taucht übrigens auch hier wieder dieses Wort sinnvollerweise auch, das sich in letzter Zeit häufiger in meine Notizen einschleicht, nicht ohne Grund. Aber setzen wir es erstmal in Klammern. Man kann statt dessen auch sagen: Was man überhaupt wollen sollte, das ist die Frage.

Und meine Frage ist jetzt, wie weit man der Frage, was man überhaupt wollen sollte, mit der Formel beikommen kann: Sollen ist simuliertes fremdes Wollen.

Simuliertes fremdes Wollen


Ich hatte letzten Monat begonnen, mich mit dieser Formel auseinanderzusetzen (anderes Material dazu wartet noch darauf, in eine Form gebracht zu werden).

Wenn man einmal von der – bisher sehr kursorischen – Bestimmung ausgeht, dass moralisches Sollen (mein moralisches Sollen, die Tatsache, dass ich etwas soll) durch das Berücksichtigen, Inkorporieren, „Einpreisen“ des Wollens anderer Menschen zustandekommt (und zwar des „respektablen“ Wollen, aber diesen Punkt muss ich ebenfalls noch entwickeln), dann fragt sich: Ist das nur in konkreten Fällen so – wenn etwa das Wollen eines Verunglückten, dass ihm geholfen werde, zu meinem Sollen wird, ihm zu helfen? Oder hilft einem diese Formel auch bei der generellen Sollens-Frage weiter, bei der, was ich überhaupt soll, mehr noch, was ich überhaupt wollen soll?

Ich stelle mir das derzeit ungefähr so vor. Was ich wollen soll (überhaupt wollen soll), fliesst tatsächlich daraus her, was andere wollen (und zwar aus dem, was sie respektabel wollen, und um respektabel zu sein, muss ein individuelles Wollen wiederum andere, fremde Wollen in Betracht ziehen und inkorporieren). Es gibt keine andere Grundlegung des Sollens. Kein göttliches Gesetz sagt uns, was wir wollen sollen, auch kein Natur- und kein Verstandesgesetz. (Dass die Formel Wollen ist simuliertes fremdes Wollen dennoch einiges mit goldener Regel, kategorischem Imperativ und allgemein mit Reziprozität zu tun hat, liegt auf der Hand.) Das eigene Sollen ist immer irgendwie (!) ein Integral fremden Wollens.

Ein unmögliches Integral


Im „Integral“ – wie auch im „irgendwie“ – liegt natürlich der Haken bei der Sache. Um zu einer Einschätzung des Sollens überhaupt zu gelangen, müsste ich alle fremden Wollen in Betracht ziehen. Und zwar alle überhaupt. Und das heisst nicht nur, die aller derzeit existierenden Menschen (was bereits unmöglich genug ist), sondern auch die aller zukünftig existierenden, ausserdem die quasi-Wollen zumindest einiger mit höheren Strebensfähigkeiten ausgerüsteter nicht-menschlicher Lebewesen.

Dieses Integral zu bilden ist zwar notwendig für die Bestimmung oder auch nur Einschätzung des Sollens überhaupt (dessen, was ich überhaupt wollen soll), aber es ist auch ganz offensichtlich zu bilden unmöglich. Nicht nur kann es nicht gelingen, Daten über diese ins Unendliche strebende Anzahl von Wollen (im Plural) zu erheben. Es müssten auch noch dazu unabsehbar viele Wollen hypothetisiert oder prognostiziert werden (die der kommenden Generationen, der nicht-menschlichen Strebens-Akteure usw.), was keinerlei Aussicht auf Erfolg mit sich bringt. Beides zusammen macht das Integrieren über diesen Daten zu einer vollkommen aussichtlosen Angelegenheit.

Wertvolle Nebenwirkungen der Unmöglichkeit


Bedeutet das jetzt, dass die Formel Sollen ist simuliertes fremdes Wollen uns in Hinblick auf das Sollen überhaupt (die Frage, was man überhaupt wollen soll) in ganz und gar nichts weiterhilft? Das würde ich nicht sagen. Die Formel zeigt zwar, dass das überhaupt-Sollen sich nicht positiv bestimmen lässt. Das aber macht sie nicht wertlos. Im Gegenteil. Die Anwendung der Formel führt einen nämlich nicht nur zu der Einsicht, dass sich das überhaupt-Sollen nicht bestimmen lässt, sie zeigt darüberhinaus auch, warum es sich nicht bestimmen lässt und wie es sich denn bestimmen liesse – liesse es sich denn bestimmen. Und in beidem – in der Begründung der Unmöglichkeit des Bestimmens (der Zertrümmerung einer Bestimmbarkeits-Illusion) wie in der Skizzierung einer unerfüllbaren Bestimmbarkeits-Utopie – liegt ein substanzieller Wert.

Das, was man gewissermassen eine Nebenwirkung der Formel nennen könnte – nämlich, uns erst vorzuführen, dass und warum es nicht geht, zugleich aber auch, wie es würde gehen müssen, würde es denn gehen – stattet uns mit verschiedenen Sensibilitäten aus (oder es unterfüttert diese Sensibilitäten, sofern sie sowieso schon bestehen, was vermutlich bei jedem ethisch bewussten Menschen auf die ein oder andere Art und Weise der Fall ist). Und zwar zum einen mit der Sensibilität für das utopische Wollens-Integral selbst, zum anderen mit der Sensibilität für oder genauer gegen falsche, positivistische Sollens-Versprechungen.

Da gibt es noch mehr zu durchdenken, das ist noch mehr durchzuarbeiten. Aber die Richtung ist klar, die Richtung stimmt.

Der Versuch, die Formel anzuwenden – und die Einsicht, warum diese Anwendung zwar richtig wäre, aber auch undurchführbar ist – hat sozusagen eine Schutz- und eine Sensibilisierungsfunktion. Wer die Formel vom Sollen als simuliertem (berücksichtigem, inkorporiertem) fremdem Wollen an ihr Ende gebracht hat, der fällt auf keinen Aufruf, so oder so sei zu wollen, mehr herein; der spürt aber andererseits auch, wie das unerfüllbare Integral an ihm zieht und reisst, und wird sich ihm gegenüber daher niemals ganz verschliessen können. 

So scheint es jetzt sogar, dass sich die Unmöglichkeits-Formel vom „Sollen überhaupt“ mit der prä-ethischen Formel Gut ist, sich zu fragen, was gut ist im Verborgenen, sozusagen hinter ihrem Rücken, die Hand reicht. Oder sie einander zumindest mit den Fingerspitzen berühren.

[Wenn ich das Thema des Sollens (als simuliertes fremdes Wollen) demnächst noch einmal systematischer angehe, stellt sich auch wieder die terminologische Frage. Ich habe da weiterhin diesen Kandidaten Mandanz. Etwas, das etwas fordert. Der Begriff könnte hilfreich sein, um aus den etablierten Koordinaten des Moralischen herauszukommen – was ein Vorteil wäre bei dem Versuch, die Sache frisch zu denken. Das „Sollen überhaupt“ wäre dann so etwas wie die „Mandanz an sich“ oder die „Generalmandanz“. Schauen, ob das irgendwo hin führt.︎︎︎