postprogressiv


03.07.

Zum letzten Post (Theorie-showdown im Café): Der hätte auch – wie manches andere mehr – unter dem Stichwort „postprogressiv“ stehen können. Vor zwei-drei Jahrzehnten war der evolutionäre Ansatz soziologisch und anthropologisch progressiv, heute ist der genau gleiche Ansatz reaktionär und konservativ. Aber nicht, weil wir nun eines besseren belehrt wären (auch wenn diejenigen, die jeweils die progressive Fahne tragen, das natürlich behaupten). Denn der Konstruktivismus ist selbst eine Art Wiederaufguss des klassischen Idealismus, nun mit sozialwissenschaftlich-prozedural-funktionalistischem flavour: „die Welt“, sagt auch er, ist nicht einfach da, sondern wir „machen“ sie (durch unsere Vorstellung, durch unsere Produktion von Macht- und Erkenntnisstrukturen, durch unser soziales Agieren).

Wo ist da der Fortschritt? Man kann nicht sagen, dass es keinen gibt. Denn sozialer Konstruktivismus und kritische Theorie sind, auch wenn ihre gedankliche Grundfigur derjenigen des Idealismus verwandt ist, nicht einfach neuer Wein in alten Schläuchen (da gibt es eben einen feinen, aber relevanten Unterschied zum „Wiederaufguss“). Aber der Fortschritt ist auch nicht, als was er sich ausgibt, nämlich kein Ersetzen eines alten, obsoleten Paradigmas durch ein neues, nun allein gültiges und zudem endlich wahres. Den natürlich ist der Fortschritt nicht linear, sondern wenn überhaupt, dann ist er spiralig. Was aber heisst, dass das Vorige nicht vom Tisch ist, wenn das Nächste kommt, sondern es ist aufgehoben, es kehrt – in fortschrittlicheren Varianten – ebenfalls wieder, jedenfalls tut es das mit einiger Wahrscheinlichkeit. Und das wiederum heisst, dass das Aktuelle sich nicht in Gegnerschaft zum Gewesenen positionieren kann, ohne die Spirale zu zerschneiden, in der es selbst nur eine Windung ist. Und das meine ich mit „postprogressiv“: den Glauben daran aufzugeben, dass der Vektor des Neuen automatisch der Vektor des Progressiven ist, und vor allem, dass er es über längere Zeit bleiben kann.

Ausser durch die Spiralen-Metapher kann man Postprogressivität auch durch die Metapher des Umkippens illustrieren, oder durch die der Basculanz (wie bei einer Wippe, die hin- und herwippt). Was heute fortschrittlich ist, kann morgen reaktionär sein, aber nicht, weil es „überholt“ wäre, sondern weil, von einem neuen historischen Standpunkt aus gesehen, die Beurteilung kippt. Das Progressive kann sich seiner Fortschrittlichkeit nie sicher sein, sie kann ihm auch wieder als reaktionär in den Rücken fallen, und zwar mit dem gleichen Momentum, das zuvor vorwärts trieb, nur nun mit invertierter Wirkrichtung. Wie das Attribut „evolutionär“ sich von progressiv zu reaktionär wandelte ist ein gutes Beispiel dafür, aber das nächste Attribut steht schon bereit, ebenfalls zu kippen, nämlich das von „konstruiert” und „kritisch“. Es muss nicht kippen, aber es kann, und wenn es kippt, dann weiss man nicht, wann. Und diese Kippligkeit oder eben Basculanz immer mitzudenken, ist postprogressiv.

Ausser historischen Modellfällen wie solchen, die – ich hatte das mal gepostet – etwa Kolakowski anführt und in Bezug auf die er Hegels Konzept der „List der Vernunft“ nutzbar macht (bei Kolakowski ging es um Reformation als progressiv / reaktionär, ausserdem um Nationalismus, Marxismus, Existenzialismus) und neben dem Naturalismus- oder Evolutionsbeispiel sind mir in letzter Zeit noch zwei ganz ähnliche Umkippungen oder Basculationen untergekommen: einmal das Verhältnis von psychologischer Devianz und Normalisierung, dann das von zweiter und dritter Welle des Feminismus bzw. der emanzipatorischen Bewegungen.

In seinem inzwischen schon klassischen Aufsatz zu „concept creep“ beschreibt der australische Psychologe Nick Haslam, wie noch in den 90er Jahren in den USA die Tendenz bestand, abweichendes Individualverhalten, das nach vorigen Massstäben als krankhaft gegolten hätte, zu depathologisieren: diese Menschen sind eben nur anders, dieser Andersheit muss kein Symptomcharakter zugeschrieben werden und vor allem fordert sie keine Therapie, sondern im Gegenteil: Anerkennung. Diese normalisierende Haltung galt damals als progressiv (und sie wurde von Konservativen als falsche Normalisierung angeprangert). Bei Oliver Sacks und seiner Darstellung des psychologisch und neurologisch „Besonderen” zeigt sie sich zum Beispiel dann in popularisierter Form.

Inzwischen aber ist laut Haslam die genaue Gegenbewegung eingetreten, und auch diese reklamiert für sich die Fahne des Fortschritts: anstatt einer Normalisierung des Devianten findet jetzt eine Pathologisierung des zuvor Normalen statt. Unaufmerksame und sprunghafte Kinder werden mit ADHS diagnostiziert und mit Ritalin therapiert, melancholische Seelenzustände oder biographisch nachvollziehbare, existenzielle Verzweiflungen als Krankheit, als Depression kategorisiert und so weiter – der Geltungsbereich der pathologischen Begriffe wird massiv aufgeweitet. Und nun gilt das als progressiv, während ein skeptisches Hinweisen auf diesen Prozess schleichender Pathologisierung von den Progressiven selbst nun als reaktionär und konservativ verstanden wird.

In Anbetracht der Kippbewegung, die den Vektor von Normalisieren vs. Pathologisieren zuvor schon einmal umgepolt hatte, könnte es ratsam scheinen, auch gegenüber dieser neuen Ausrichtung des Zukunftts- und Fortschrittspfeils eine gewisse Skepsis zu bewahren. Jeder Fortschritt steht auf kippeligem Grund. Die Basculanz kann schon hinter der nächsten Ecke auf ihn warten.

Ähnlich ist es, als letztes Beispiel hier und nur ganz kurz, bei den Wellen der emanzipatorischen Bewegungen. Das ist mir gerade beim Studium der Genderlinguistik mehrfach untergekommen, aber es gab auch die Tage einen schönen Artikel in der Zeit (Spaziergang durch Neukölln), der ebenfalls die Kippligkeit des Fortschrittlichen illustrierte.

Linguistisch spitzt sich das Basculieren in der Frage zu, ob es denn nun fortschrittlich ist oder im Gegenteil gerade nicht, durch Beidnennungen etc. das weibliche Geschlecht sprachlich extra hervorzuheben. Die zweite emanzipatorische Welle sagt, dass ja: Die historische Ungerechtigkeit von Patriarchat und Androzentrismus muss kompensiert werden. Die dritte Welle sagt, dass nein: Durch die Betonung der „-innen“ wird das binäre Geschlechtersystem zementiert. Kurioserweise sagen auch die Konservativen (im Sinne derer, die eh keinen Emanzipationsbedarf sehen) das gleiche. Die Betonung des sprachlichen Femininums kippt also von „falsch“ zu „richtig“ und wieder zu „falsch“, der Fortschrittsvektor polt sich gleich zweimal um.

In Anbetracht dieser abermaligen Basculanz, die als Potenzial offenbar allem, das sich als progressiv deklariert, eingeschrieben ist, sagt die Postprogressivität: Gemach. Es mag Gründe dafür geben, genau jetzt genau diesen Modus der Transformation (von soziologischen und anthropologischen Theorien, von Normalisierungen und Pathologisierungen, von programmatischem Gendering oder programmatischem De-Gendering) zu vertreten und voranzubringen. Nur hüte dich davor, dein Anliegen allzu forsch in die grosse Linie des Fortschritts einzuschreiben – und vor allem davor, es strategisch als Gegnerschaft gegen das Alte, Konservative, Falsche, Schlechte, Reaktionäre zu positionieren. Denn die nächste Basculation kann näher sein als du denkst, und sowieso strickst zu mit gemeinsam mit denen, die du bekämpfst, an ein und derselben Spirale. Postprogressiv kannst du sehr wohl Gründe formulieren, warum du so und so transformieren willst und warum auch andere dies wollen sollten, aber diese Gründe lassen sich nicht damit zusammenfassen, dass du der Progressive bist und die anderen nicht. Dafür ist der Fortschritt dann doch eine etwas zu kippelige Angelegenheit.︎︎︎