Entendenz


02.09.
Zu Sprache und Bedeutung erst einmal.

Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht

Damit ist man bei einem klassischen Thema der Philosophie, einer klassischen Gruppe von Fragen: Was ist die Bedeutung eines Wortes? Wie kann es überhaupt sein, dass ein Wort etwas bedeutet? Wie funktioniert das Bedeuten?

Die Frage nach der Bedeutung eines Wortes ist keine, die lange für sich allein bleiben kann. Sie hat eine starke Tendenz, sich auszudehnen, zu expandieren; sie wächst sich aus zu anderen, umfassenderen Fragen. Etwa zu: Was ist die Bedeutung eines Satzes? Was heisst es, dass ein Satz etwas „bedeutet“ oder „einen Sinn hat“ (was durchaus etwas Unterschiedliches sein könnte)? Was heisst „Bedeutung“ dann in Bezug auf einen ganzen Text, eine Rede, einen Dialog? Wie verhalten sich überhaupt Sprache und Welt zueinander? Oder Sprache und Denken (Sprache und Geist, Bewusstsein, Kognition)? – Man kann die Wortbedeutungs-Frage sicherlich nicht von diesen weiteren Fragen isolieren, aber man kann doch von ihr beginnen.

Was ist die Bedeutung eines Wortes? – Wie viele philosophische Fragen, so scheint auch diese ein wenig zweifelhaft. Man hört sie, und stutzt, und ist sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt sinnvoll stellen lässt.

Was ist die Bedeutung des Wortes „Hund“? – Mit dieser Frage hingegen, meint man, ist alles im Reinen. Sie handelt von etwas Konkretem, sie hat einen Gegenstand, einen Fokus, und sie liesse sich wohl auch beantworten (obwohl auch sie voller Tücken ist).

Aber die Frage nach der Bedeutung eines Wortes? Irgendeines, eines beliebigen? Nach dem Bedeutung-Haben von Wörtern? – Vor dieser Frage schreckt man unwillkürlich zurück. Sie macht den Eindruck, zu allgemein zu sein, zu unspezifisch, zu gross. Als hätte jemand falsch gefragt (wie etwa die Frage Welche Farbe hat die Welt? auch eine falsche Frage wäre).

Das Wort als Zeichen


Und dennoch hat jeder auf diese „falsche Frage“ eine Antwort. Selbst dann, wenn er sich die Frage niemals gestellt hat. Jedenfalls vermute ich das.

Es ist natürlich kaum möglich, das zu überprüfen, aber wenn ich zu einem x-beliebigen Menschen hingehe und ihm in groben Zügen erkläre, was ich mit meiner Frage nach der „Bedeutung eines Wortes“ (dem Bedeutung-Haben von Wörtern) meine, dann wird seine Antwort wohl ungefähr lauten: Die Bedeutung eines Wortes ist das, was es bezeichnet.

Es muss nicht genau diese Antwort sein, es ist durchaus möglich, dass ihr Wortlaut ein anderer sein wird, etwa: Die Bedeutung eines Wortes ist das, worauf es sich bezieht. Aber das tut nichts zur Sache, denn es steht immer die gleiche Vorstellung dahinter, nämlich die, dass ein Wort ein Zeichen ist für einen Gegenstand. Und diese Vorstellung ist ja auch erst einmal naheliegend, wenn man bedenkt, dass der sprachliche Ausdruck „Angela Merkel“ sich zur Person Angela Merkel in einer ähnlichen Weise verhält, wie sich das Zeichen „Achtung Kurve“ zur vorausliegenden Biegung einer Strasse verhält ... – aber halt, sind die Verhältnisse hier wirklich ähnlich? Und was heisst es überhaupt, dass etwas ein Zeichen von etwas ist? Hier gehen die Probleme schon los, und sie werden natürlich niemals enden.

Was ich sagen will, ist dies: Es gibt so etwas wie eine Standard-„Theorie“ darüber, was die Bedeutung eines Wortes ist, und diese Standardtheorie ist die Zeichentheorie, und sie existiert unabhängig davon, ob man die Frage nach der Bedeutung von Wörtern als eine sinnvolle, stellbare Frage erachtet, oder im Gegenteil als eine „falsche Frage“, eine allzu zwielichtige Frage, auf die man sich nicht einlassen sollte. Und die Zeichentheorie besteht eben darin, das Wort als ein Zeichen anzusehen, die Bedeutung als das Bezeichnete, und sich das Verhältnis zwischen beiden ähnlich vorzustellen wie wenn ein Schild an einen Gegenstand gehängt wird: Du bist ein Soundso (die Person X, eine Kurve, ein Hund).

(Ich habe hier immer den Drang das Wort „Theorie“ in Anführungsstrichen zu schreiben – nicht, weil ich die gemeinten Gedankengebilde lächerlich oder minderwertig fände, sondern weil es mir angemessener scheint, sie als Ansätze zu betrachten, als ggf. sehr weit ausgearbeitete Ansätze, um sie nicht mit anderen, strengeren, etwa naturwissenschaftlichen Theorien zu vermengen. Aber da es sich eingebürgert hat, von „Bedeutungstheorien“ zu reden, übernehme ich diese Verwendung erst einmal.)

„Standard“ ist diese Theorie gleich im doppelten, nein, dreifachen Sinne: Zum einen aufgrund ihrer Verbreitung (ich nehme an, es ist die einzige Theorie, die jemand, der sich nicht aktiv mit Philosophie beschäftigt, zu diesem Thema überhaupt haben kann), dann, weil sie vermutlich die älteste von allen Bedeutungstheorien ist (sie findet sich – natürlich – bereits bei Platon, aber sie ist sicher sehr viel älter als das systematische philosophische Denken), und drittens, weil sie bis heute in den verschiedensten akademischen Disziplinen von der strukturalistischen Semiotik bis zur dekonstruktivistischen Literaturwissenschaft das Leitmotiv ist, wenn es um Fragen der Bedeutung von Sprache geht.

Bedeutungstheorien


Welche anderen Bedeutungstheorien gibt es? Ihre Anzahl ist unüberschaubar, und bei vielen vermischen sich unterschiedliche Ansätze miteinander, aber was die Philosophie bisher hervorgebracht hat, kann man grob in vier Klassen aufteilen.

Es gibt erstens die Zeichentheorien im engeren Sinne (technisch: „Referenztheorien“ ), die sagen, das sprachliche Zeichen steht unmittelbar für ein Phänomen in der realen Welt; zweitens die „Ideentheorien“ (Repräsentationstheorien, mentalistische Theorien), die sagen, das Zeichen steht nicht für die Sache selbst, sondern für eine Vorstellung in meinem Kopf (was zum Beispiel den Umgang mit abstrakten Inhalten wie „Freiheit“ vereinfacht); drittens die Verwendungstheorien, die sagen, die Bedeutung eines Wortes liegt in seiner Verwendungsweise (und damit die Bedeutung sozusagen von einzelnen Kopf in die Sprechergemeinschaft, ins Kollektive verschieben, Beispiel: Wittgensteins Sprachspiele); und schliesslich viertens diejenigen Theorien, die sagen, „Bedeutung“ kann überhaupt immer nur ein ganzer Satz haben, und man kennt dessen Bedeutung, wenn man weiss, unter welchen Bedingungen der Satz wahr ist und unter welchen falsch.

Wenn man das auch einmal als Formeln darstellt, dann kommt man zu:

1.      Die Bedeutung eines Wortes ist das bezeichnete Ding
2.     Die Bedeutung eines Wortes ist die mit ihm verbundene Vorstellung
3.     Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch
4.     (Die Bedeutung eines Wortes spielt keine Rolle und) die Bedeutung eines Satzes sind seine Wahrheitsbedingungen

Jeder dieser Ansätze wirft natürlich selbst wieder zahlreiche Fragen auf, und zwar vermutlich mehr, als er zu klären imstande ist, aber das ist so oder so eine häufige Eigenheit philosophischer Theorien

Ein möglicher Ansatz № 5


Und zu diesen vier Typen von Bedeutungstheorien will ich jetzt einen fünften Typ hinzufügen, gewissermassen einen „Ansatz № 5”, beziehungsweise ich will ihn erst einmal erkunden, und schauen, ob er tatsächlich zu neuen – oder, was mir fast besser gefällt: frischen „Theorien“, neuen (frischen?) Perspektiven führen kann:

5.     Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht

Natürlich muss man das Rad nicht zweimal erfinden, und sowieso kommt es in der Philosophie kaum einmal vor, dass eine Idee durch und durch „neu“ ist. Auch meine ist das ja nicht, es gibt Verwandtschaften zu Ideen aus der Hermeneutik, aus der Rhetorik, aus den Kommunikationswissenschaften. Und sogar mit dem Typ 4 der bestehenden Bedeutungstheorien verbindet meine Formel das eine oder andere (insofern, als es in beiden Fällen ums Verstehen geht, bei meiner Formel jedoch nicht primär ums Satz-Verstehen und auch nicht um Wahrheitswerte).

Aber soweit ich es überblicken kann, hat in der Tat noch niemand die Frage des Bedeutens konsequent vom Wort-Verstehen her durchdacht.

Verstehensweisen: Entendenzen


Gut. Jetzt einmal versuchen, etwas Fleisch an den Knochen zu bekommen. Was steht gedanklich hinter dieser Formel? Was heisst „Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht“? – Es heisst zunächst einmal, dass Bedeutung eben nichts mit irgendeiner „Zeichenhaftigkeit“ zu tun hat (die Zeichen-Theorie schien mir sowieso immer als die schwächste alle Bedeutungstheorien, als drücke sie sich um den Kern der Frage herum). Es heisst weiter, dass wir den Fokus auf das Wort zwar beibehalten (also nicht gleich nach der Satzbedeutung fragen), die Bedeutung aber auch nicht als die Verwendungweise des Wortes betrachten, wie die Theorien des dritten Typs, sondern als seine Verstehensweise.

Konkret: „Hund“ bedeutet Hund nicht, weil es irgendwie dieses Tier „bezeichnet“ (oder diese Klasse von Tieren), und es bedeutet Hund auch nicht, weil wir – als Mitglieder der Sprechergemeinschaft – eben alle „Hund“ in einer spezifischen Art und Weise verwenden (obwohl das Verwenden in der Tat eng mit dem Verstehen zusammenhängt). Sondern „Hund“ bedeutet Hund, weil jeder Sprecher meiner Sprache das Wort „Hund“ auf eine bestimmte Weise versteht, und zwar auf eine, von der ich annehmen kann, dass sie derjenigen ähnlich ist, wie ich es selbst verstehe. Damit kann man die Formel bereits einmal umformen zu:

Die Bedeutung eines Wortes ist seine Verstehensweise

Verstehensweisen: Das ist kein schlechter Ausdruck. Allerdings kommt irgendwann der Punkt, an dem man es technischer benennen muss – das Wort „verstehen“ hat in der Umgangssprache zu viele verschiedene Bedeutungen (kann auf zu viele verschiedene Arten und Weisen verstanden werden), als dass man mit ihm in dieser spezifischen Richtung, die ich im Sinn habe, verlässlich würde weiterdenken können. Man muss ein Konzept bilden, das ganz auf den benötigten Zweck zugeschnitten ist, und das geht nur durch Verwendung eines neuen, neutralen, unbelasteten, „frischen“ Worts.

Was ich hier schon einige Zeit im Kopf habe: Entendenz. Von französisch entendre, „verstehen“. Man könnte auch sagen „ein Verstehen“ oder „eine Verstehung“, aber Entendenz ist erstens neutraler, zweitens transportiert die -enz-Endung, dass es sich um einen Prozess handelt: einen Verstehens-Vorgang, eine Vorgangs-Weise.

Und drittens – und das ist das Entscheidende – hat entendre eine Doppelbedeutung von einerseits verstehen, andererseits hören, die kein anderes vergleichbares Verb in einer anderen Sprache (aus meinen Referenzen DE, EN, RU, FR, IT) besitzt. Und dieses Hören schliesst kurz mit den Thema Klang, das ja sowieso noch die eine oder andere Rolle spielen wird. (Siehe gestern meine Frage danach, ob Zusammenhänge zwischen den Formeln gibt. Natürlich, gibt es).

Wenn man jetzt also Entendenz setzt, dann nimmt die Bedeutungs-Formel die Form an:

Die Bedeutung eines Wortes ist seine Entendenz

Und das ist etwas, womit man weiterarbeiten kann, und damit will ich es denn auch erst einmal bewenden lassen für heute.

In-ausserhalb


Ich schaue das Obige durch und denke: Wenn es jemand liest, der oder die sich nie mit der Frage der Bedeutung beschäftigt hat, muss es ihm leer, haarspalterisch oder nutzlos vorkommen. Vain, würde man wohl auf Englisch sagen.

Was sind das für komische Überlegungen – ob „die Bedeutung eines Wortes“ sein Bezeichnetes ist (sein „Signifikat“ in der realen Welt), sein Gemeintes (das „Konzept“ im eigenen Kopf), seine Verwendung (im Sprachkollektiv), seine Rolle in einem wahren oder falschen Satz oder seine „Entendenz“ oder Verstehensweise? Warum sollte man sich darüber den Kopf zerbrechen? Haben diese Fragen irgendetwas mit den wirklich wichtigen Dingen zu tun?

Ich könnte so ein Befremden gut verstehen. Dabei bin ich selbst ja überzeugt, dass diese Überlegungen überhaupt nicht vain, sondern ganz und gar relevant sind, und zwar unter anderem für ganz konkrete, ganz aktuelle gesellschaftliche Streitfragen wie die nach der geschlechtergerechten Sprache oder nach dem politischen Gehalt von sprachlichen Ausdrücken.

Aber der Weg von der Entendenz-Formel zu solchen Anwendungen ist weit, und ausserdem geht es mir ja nicht nur um die Anwendungen, sondern auch darum, etwas grundsätzlich zu durchdenken und es womöglich auch teils anders zu denken als bisher. Denn keiner der Ansätze 1 bis 4 scheint mir wirklich befriedigend. Mein möglicher Ansatz № 5 wird das vermutlich auch nicht sein, aber wenn er sich als anders unbefriedigend herausstellen sollte, dann wäre schon etwas sehr Wichtiges erreicht.

Und wenn, andersherum, jemand, der ebenfalls „vom Fach“ ist, diese Notizen lesen würde? Er oder sie müsste wohl ein wenig den Kopf schütteln. Ich jedenfalls würde das tun, denke ich.

Schliesslich muss man ja, als jemand, der mit der Philosophiegeschichte und mit den aktuellen fachlichen Diskussionen vertraut ist, fast zwangsläufig denken: Das ist doch eine arg primitive, holzschnittartige Abhandlung dieser komplizierten Fragen, die der Autor hier liefert. Man muss doch erst einmal all die Fallbeispiele, Argumente, Gegenargumente durchgehen, die zu jedem dieser Ansätze erarbeitet worden sind, bevor man überhaupt einen Gedanken an etwas Neues verschwenden kann! Und wie will dieser Mensch mit seiner Entendenz-Theorie so schwerwiegende Probleme lösen wie das der Referenzialität – der Tatsache, dass Worte eben nicht nur von Menschen verstanden werden, sondern auch einen ganz handfesten Bezug auf die reale, materielle Welt haben?

In der Tat, dieses Problem sehe ich bereits am Horizont drohen, wie viele andere auch. Aber ich habe auch ein grobes Vorgefühl, wie ich mit ihm umgehen könnte.

Sowieso: Ich bin, als Person, nicht in der Fachwelt. Das heisst, ich bin es und ich bin es nicht: Ich befinde mich in einer Art von Doppelraum, in einem Innen-Aussen. Und das ist für mich auch der richtige Ort. Derjenige, an dem ich denken kann, wie ich es für sinnvoll halte: informiert, einerseits, aber eben auch ein bisschen riskant und unbekümmert. Ganz abgesehen davon, dass ich hier eben auch erst einmal nur für mich schreibe.

Das Kuriose, oder das Frappierende, ist ja, dass dieses Denken für mich in der Tat funktioniert. Dass ich tatsächlich mein Sprechen und mein Denken begleiten lassen kann von der Formel Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht und davon etwas habe, einen Gewinn habe: nämlich mir besser vorstellen zu können, was Sprache ist und was Sprache macht und was wir Sprecher mit Sprache machen. Und wenn das so ist, wenn mir diese Formel ganz konkret etwas bringt, dann muss ich ihr nachgehen. Schluss für heute.︎︎︎