Entendenz / Sprache

Entendenz


02.09.
Zu Sprache und Bedeutung erst einmal.

Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht

Damit ist man bei einem klassischen Thema der Philosophie, einer klassischen Gruppe von Fragen: Was ist die Bedeutung eines Wortes? Wie kann es überhaupt sein, dass ein Wort etwas bedeutet? Wie funktioniert das Bedeuten?

Die Frage nach der Bedeutung eines Wortes ist keine, die lange für sich allein bleiben kann. Sie hat eine starke Tendenz, sich auszudehnen, zu expandieren; sie wächst sich aus zu anderen, umfassenderen Fragen. Etwa zu: Was ist die Bedeutung eines Satzes? Was heisst es, dass ein Satz etwas „bedeutet“ oder „einen Sinn hat“ (was durchaus etwas Unterschiedliches sein könnte)? Was heisst „Bedeutung“ dann in Bezug auf einen ganzen Text, eine Rede, einen Dialog? Wie verhalten sich überhaupt Sprache und Welt zueinander? Oder Sprache und Denken (Sprache und Geist, Bewusstsein, Kognition)? – Man kann die Wortbedeutungs-Frage sicherlich nicht von diesen weiteren Fragen isolieren, aber man kann doch von ihr beginnen.

Was ist die Bedeutung eines Wortes? – Wie viele philosophische Fragen, so scheint auch diese ein wenig zweifelhaft. Man hört sie, und stutzt, und ist sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt sinnvoll stellen lässt.

Was ist die Bedeutung des Wortes „Hund“? – Mit dieser Frage hingegen, meint man, ist alles im Reinen. Sie handelt von etwas Konkretem, sie hat einen Gegenstand, einen Fokus, und sie liesse sich wohl auch beantworten (obwohl auch sie voller Tücken ist).

Aber die Frage nach der Bedeutung eines Wortes? Irgendeines, eines beliebigen? Nach dem Bedeutung-Haben von Wörtern? – Vor dieser Frage schreckt man unwillkürlich zurück. Sie macht den Eindruck, zu allgemein zu sein, zu unspezifisch, zu gross. Als hätte jemand falsch gefragt (wie etwa die Frage Welche Farbe hat die Welt? auch eine falsche Frage wäre).

Das Wort als Zeichen


Und dennoch hat jeder auf diese „falsche Frage“ eine Antwort. Selbst dann, wenn er sich die Frage niemals gestellt hat. Jedenfalls vermute ich das.

Es ist natürlich kaum möglich, das zu überprüfen, aber wenn ich zu einem x-beliebigen Menschen hingehe und ihm in groben Zügen erkläre, was ich mit meiner Frage nach der „Bedeutung eines Wortes“ (dem Bedeutung-Haben von Wörtern) meine, dann wird seine Antwort wohl ungefähr lauten: Die Bedeutung eines Wortes ist das, was es bezeichnet.

Es muss nicht genau diese Antwort sein, es ist durchaus möglich, dass ihr Wortlaut ein anderer sein wird, etwa: Die Bedeutung eines Wortes ist das, worauf es sich bezieht. Aber das tut nichts zur Sache, denn es steht immer die gleiche Vorstellung dahinter, nämlich die, dass ein Wort ein Zeichen ist für einen Gegenstand. Und diese Vorstellung ist ja auch erst einmal naheliegend, wenn man bedenkt, dass der sprachliche Ausdruck „Angela Merkel“ sich zur Person Angela Merkel in einer ähnlichen Weise verhält, wie sich das Zeichen „Achtung Kurve“ zur vorausliegenden Biegung einer Strasse verhält ... – aber halt, sind die Verhältnisse hier wirklich ähnlich? Und was heisst es überhaupt, dass etwas ein Zeichen von etwas ist? Hier gehen die Probleme schon los, und sie werden natürlich niemals enden.

Was ich sagen will, ist dies: Es gibt so etwas wie eine Standard-„Theorie“ darüber, was die Bedeutung eines Wortes ist, und diese Standardtheorie ist die Zeichentheorie, und sie existiert unabhängig davon, ob man die Frage nach der Bedeutung von Wörtern als eine sinnvolle, stellbare Frage erachtet, oder im Gegenteil als eine „falsche Frage“, eine allzu zwielichtige Frage, auf die man sich nicht einlassen sollte. Und die Zeichentheorie besteht eben darin, das Wort als ein Zeichen anzusehen, die Bedeutung als das Bezeichnete, und sich das Verhältnis zwischen beiden ähnlich vorzustellen wie wenn ein Schild an einen Gegenstand gehängt wird: Du bist ein Soundso (die Person X, eine Kurve, ein Hund).

(Ich habe hier immer den Drang das Wort „Theorie“ in Anführungsstrichen zu schreiben – nicht, weil ich die gemeinten Gedankengebilde lächerlich oder minderwertig fände, sondern weil es mir angemessener scheint, sie als Ansätze zu betrachten, als ggf. sehr weit ausgearbeitete Ansätze, um sie nicht mit anderen, strengeren, etwa naturwissenschaftlichen Theorien zu vermengen. Aber da es sich eingebürgert hat, von „Bedeutungstheorien“ zu reden, übernehme ich diese Verwendung erst einmal.)

„Standard“ ist diese Theorie gleich im doppelten, nein, dreifachen Sinne: Zum einen aufgrund ihrer Verbreitung (ich nehme an, es ist die einzige Theorie, die jemand, der sich nicht aktiv mit Philosophie beschäftigt, zu diesem Thema überhaupt haben kann), dann, weil sie vermutlich die älteste von allen Bedeutungstheorien ist (sie findet sich – natürlich – bereits bei Platon, aber sie ist sicher sehr viel älter als das systematische philosophische Denken), und drittens, weil sie bis heute in den verschiedensten akademischen Disziplinen von der strukturalistischen Semiotik bis zur dekonstruktivistischen Literaturwissenschaft das Leitmotiv ist, wenn es um Fragen der Bedeutung von Sprache geht.

Bedeutungstheorien


Welche anderen Bedeutungstheorien gibt es? Ihre Anzahl ist unüberschaubar, und bei vielen vermischen sich unterschiedliche Ansätze miteinander, aber was die Philosophie bisher hervorgebracht hat, kann man grob in vier Klassen aufteilen.

Es gibt erstens die Zeichentheorien im engeren Sinne (technisch: „Referenztheorien“ ), die sagen, das sprachliche Zeichen steht unmittelbar für ein Phänomen in der realen Welt; zweitens die „Ideentheorien“ (Repräsentationstheorien, mentalistische Theorien), die sagen, das Zeichen steht nicht für die Sache selbst, sondern für eine Vorstellung in meinem Kopf (was zum Beispiel den Umgang mit abstrakten Inhalten wie „Freiheit“ vereinfacht); drittens die Verwendungstheorien, die sagen, die Bedeutung eines Wortes liegt in seiner Verwendungsweise (und damit die Bedeutung sozusagen von einzelnen Kopf in die Sprechergemeinschaft, ins Kollektive verschieben, Beispiel: Wittgensteins Sprachspiele); und schliesslich viertens diejenigen Theorien, die sagen, „Bedeutung“ kann überhaupt immer nur ein ganzer Satz haben, und man kennt dessen Bedeutung, wenn man weiss, unter welchen Bedingungen der Satz wahr ist und unter welchen falsch.

Wenn man das auch einmal als Formeln darstellt, dann kommt man zu:

1.      Die Bedeutung eines Wortes ist das bezeichnete Ding
2.     Die Bedeutung eines Wortes ist die mit ihm verbundene Vorstellung
3.     Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch
4.     (Die Bedeutung eines Wortes spielt keine Rolle und) die Bedeutung eines Satzes sind seine Wahrheitsbedingungen

Jeder dieser Ansätze wirft natürlich selbst wieder zahlreiche Fragen auf, und zwar vermutlich mehr, als er zu klären imstande ist, aber das ist so oder so eine häufige Eigenheit philosophischer Theorien

Ein möglicher Ansatz № 5 


Und zu diesen vier Typen von Bedeutungstheorien will ich jetzt einen fünften Typ hinzufügen, gewissermassen einen „Ansatz № 5”, beziehungsweise ich will ihn erst einmal erkunden, und schauen, ob er tatsächlich zu neuen oder, was mir fast besser gefällt: frischen „Theorien“, neuen (frischen?) Perspektiven führen kann:

5.     Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht

Natürlich muss man das Rad nicht zweimal erfinden, und sowieso kommt es in der Philosophie kaum einmal vor, dass eine Idee durch und durch „neu“ ist. Auch meine ist das ja nicht, es gibt Verwandtschaften zu Ideen aus der Hermeneutik, aus der Rhetorik, aus den Kommunikationswissenschaften. Und sogar mit dem Typ 4 der bestehenden Bedeutungstheorien verbindet meine Formel das eine oder andere (insofern, als es in beiden Fällen ums Verstehen geht, bei meiner Formel jedoch nicht primär ums Satz-Verstehen und auch nicht um Wahrheitswerte).

Aber soweit ich es überblicken kann, hat in der Tat noch niemand die Frage des Bedeutens konsequent vom Wort-Verstehen her durchdacht.

Verstehensweisen: Entendenzen


Gut. Jetzt einmal versuchen, etwas Fleisch an den Knochen zu bekommen. Was steht gedanklich hinter dieser Formel? Was heisst „Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht“? – Es heisst zunächst einmal, dass Bedeutung eben nichts mit irgendeiner „Zeichenhaftigkeit“ zu tun hat (die Zeichen-Theorie schien mir sowieso immer als die schwächste alle Bedeutungstheorien, als drücke sie sich um den Kern der Frage herum). Es heisst weiter, dass wir den Fokus auf das Wort zwar beibehalten (also nicht gleich nach der Satzbedeutung fragen), die Bedeutung aber auch nicht als die Verwendungweise des Wortes betrachten, wie die Theorien des dritten Typs, sondern als seine Verstehensweise.

Konkret: „Hund“ bedeutet Hund nicht, weil es irgendwie dieses Tier „bezeichnet“ (oder diese Klasse von Tieren), und es bedeutet Hund auch nicht, weil wir – als Mitglieder der Sprechergemeinschaft – eben alle „Hund“ in einer spezifischen Art und Weise verwenden (obwohl das Verwenden in der Tat eng mit dem Verstehen zusammenhängt). Sondern „Hund“ bedeutet Hund, weil jeder Sprecher meiner Sprache das Wort „Hund“ auf eine bestimmte Weise versteht, und zwar auf eine, von der ich annehmen kann, dass sie derjenigen ähnlich ist, wie ich es selbst verstehe. Damit kann man die Formel bereits einmal umformen zu:

Die Bedeutung eines Wortes ist seine Verstehensweise

Verstehensweisen: Das ist kein schlechter Ausdruck. Allerdings kommt irgendwann der Punkt, an dem man es technischer benennen muss – das Wort „verstehen“ hat in der Umgangssprache zu viele verschiedene Bedeutungen (kann auf zu viele verschiedene Arten und Weisen verstanden werden), als dass man mit ihm in dieser spezifischen Richtung, die ich im Sinn habe, verlässlich würde weiterdenken können. Man muss ein Konzept bilden, das ganz auf den benötigten Zweck zugeschnitten ist, und das geht nur durch Verwendung eines neuen, neutralen, unbelasteten, „frischen“ Worts.

Was ich hier schon einige Zeit im Kopf habe: Entendenz. Von französisch entendre, „verstehen“. Man könnte auch sagen „ein Verstehen“ oder „eine Verstehung“, aber Entendenz ist erstens neutraler, zweitens transportiert die -enz-Endung, dass es sich um einen Prozess handelt: einen Verstehens-Vorgang, eine Vorgangs-Weise.

Und drittens – und das ist das Entscheidende – hat entendre eine Doppelbedeutung von einerseits verstehen, andererseits hören, die kein anderes vergleichbares Verb in einer anderen Sprache (aus meinen Referenzen DE, EN, RU, FR, IT) besitzt. Und dieses Hören schliesst kurz mit den Thema Klang, das ja sowieso noch die eine oder andere Rolle spielen wird. (Siehe gestern meine Frage danach, ob Zusammenhänge zwischen den Formeln gibt. Natürlich, gibt es).

Wenn man jetzt also Entendenz setzt, dann nimmt die Bedeutungs-Formel die Form an:

Die Bedeutung eines Wortes ist seine Entendenz

Und das ist etwas, womit man weiterarbeiten kann, und damit will ich es denn auch erst einmal bewenden lassen für heute.

In-ausserhalb


Ich schaue das Obige durch und denke: Wenn es jemand liest, der oder die sich nie mit der Frage der Bedeutung beschäftigt hat, muss es ihm leer, haarspalterisch oder nutzlos vorkommen. Vain, würde man wohl auf Englisch sagen.

Was sind das für komische Überlegungen – ob „die Bedeutung eines Wortes“ sein Bezeichnetes ist (sein „Signifikat“ in der realen Welt), sein Gemeintes (das „Konzept“ im eigenen Kopf), seine Verwendung (im Sprachkollektiv), seine Rolle in einem wahren oder falschen Satz oder seine „Entendenz“ oder Verstehensweise? Warum sollte man sich darüber den Kopf zerbrechen? Haben diese Fragen irgendetwas mit den wirklich wichtigen Dingen zu tun?

Ich könnte so ein Befremden gut verstehen. Dabei bin ich selbst ja überzeugt, dass diese Überlegungen überhaupt nicht vain, sondern ganz und gar relevant sind, und zwar unter anderem für ganz konkrete, ganz aktuelle gesellschaftliche Streitfragen wie die nach der geschlechtergerechten Sprache oder nach dem politischen Gehalt von sprachlichen Ausdrücken.

Aber der Weg von der Entendenz-Formel zu solchen Anwendungen ist weit, und ausserdem geht es mir ja nicht nur um die Anwendungen, sondern auch darum, etwas grundsätzlich zu durchdenken und es womöglich auch teils anders zu denken als bisher. Denn keiner der Ansätze 1 bis 4 scheint mir wirklich befriedigend. Mein möglicher Ansatz № 5 wird das vermutlich auch nicht sein, aber wenn er sich als anders unbefriedigend herausstellen sollte, dann wäre schon etwas sehr Wichtiges erreicht.

Und wenn, andersherum, jemand, der ebenfalls „vom Fach“ ist, diese Notizen lesen würde? Er oder sie müsste wohl ein wenig den Kopf schütteln. Ich jedenfalls würde das tun, denke ich.

Schliesslich muss man ja, als jemand, der mit der Philosophiegeschichte und mit den aktuellen fachlichen Diskussionen vertraut ist, fast zwangsläufig denken: Das ist doch eine arg primitive, holzschnittartige Abhandlung dieser komplizierten Fragen, die der Autor hier liefert. Man muss doch erst einmal all die Fallbeispiele, Argumente, Gegenargumente durchgehen, die zu jedem dieser Ansätze erarbeitet worden sind, bevor man überhaupt einen Gedanken an etwas Neues verschwenden kann! Und wie will dieser Mensch mit seiner Entendenz-Theorie so schwerwiegende Probleme lösen wie das der Referenzialität – der Tatsache, dass Worte eben nicht nur von Menschen verstanden werden, sondern auch einen ganz handfesten Bezug auf die reale, materielle Welt haben?

In der Tat, dieses Problem sehe ich bereits am Horizont drohen, wie viele andere auch. Aber ich habe auch ein grobes Vorgefühl, wie ich mit ihm umgehen könnte.

Sowieso: Ich bin, als Person, nicht in der Fachwelt. Das heisst, ich bin es und ich bin es nicht: Ich befinde mich in einer Art von Doppelraum, in einem Innen-Aussen. Und das ist für mich auch der richtige Ort. Derjenige, an dem ich denken kann, wie ich es für sinnvoll halte: informiert, einerseits, aber eben auch ein bisschen riskant und unbekümmert. Ganz abgesehen davon, dass ich hier eben auch erst einmal nur für mich schreibe.

Das Kuriose, oder das Frappierende, ist ja, dass dieses Denken für mich in der Tat funktioniert. Dass ich tatsächlich mein Sprechen und mein Denken begleiten lassen kann von der Formel Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht und davon etwas habe, einen Gewinn habe: nämlich mir besser vorstellen zu können, was Sprache ist und was Sprache macht und was wir Sprecher mit Sprache machen. Und wenn das so ist, wenn mir diese Formel ganz konkret etwas bringt, dann muss ich ihr nachgehen. Schluss für heute.︎︎︎




Meinen und Verstehen


09.09.
Habe ich dich überhaupt richtig verstanden? Was hast du eigentlich gemeint? Hast du vielleicht etwas anderes gemeint als das, was ich verstanden habe? 

Meinen und Verstehen – zwischen diesen beiden gibt es offenbar einen engen Zusammenhang. Jedenfalls deutet die sprachliche Alltagserfahrung darauf hin. Nicht nur kann ich anders verstanden werden, als ich „gemeint habe“, es kann auch geschehen, dass ich selbst etwas anderes sage, als ich meine (als ich hätte sagen wollen), und es gibt Fälle, in denen ich weiss, was ich sagen will (oder doch ein deutliches Gefühl habe dafür), aber partout keine Worte finden kann – ich meine etwas, kann es aber nicht artikulieren, und da ich es nicht artikulieren kann, kann ich auch nicht verstanden werden.

Aber nicht immer gehen Meinen und Verstehen derart auseinander. Im Gegenteil, in den meisten Fällen wird die eigene Äusserung wohl ungefähr so verstanden, wie man selbst sie gemeint hatte – was man allerdings erst aus der Gegenäusserung (gelegentlich auch einer nicht-sprachlichen Reaktion) erschliessen kann, die man dann wiederum selbst erst einmal verstehen muss, wobei sich das Problem der möglichen Diskrepanz zwischen Gemeintem und Verstandenem von Neuem stellt.

Und dann gibt es diese Fälle, wo die eigenen Äusserung zwar anders verstanden worden ist, als sie gemeint war, sich das aber nicht als ein Fehlschlagen des Austausches äussert, sondern im Gegenteil als ein Erfolg, etwa, weil man dadurch mehr über die Verstehensmuster des anderen erfahren hat oder eine Chance bekommen hat, seine eigene Artikulation oder sogar sein eigenes Meinen zu revidieren oder zu verbessern.

So bildet sich im Laufe des sprachlichen Austauschs Schleife um Schleife des Meinens, Artikulierens und Verstehens; Widermeinens, Widerartikulierens und Widerverstehens, Aber-wider-Meinens usw. Aber diese Schleifen liegen nicht zwangsläufig wie die Mäander eines sich windenden Flusses hintereinander; jederzeit kann die Bewegung aus ihrer Regelmässigkeit ausbrechen, können Windungen, Spiralen abzweigen und in Gebiete führen, die keiner der miteinander Sprechenden geplant hatte zu betreten, einfach weil das Verstehen einer der beteiligten Personen plötzlich nicht so vor sich geht, wie die andere es angenommen hatte, als sie ihr Meinen artikulierte.

In solchen Kommunikationssituationen werden im Regelfall nicht einzelne Wörter ausgetauscht, sondern längere Äusserungen, zumindest ganze Sätze, oft auch umfangreichere sprachliche Kompositionen. Aber man wird ähnliche Vorgänge entdecken, wenn man Einzelwörter betrachtet: da ist zunächst das Meinen selbst, das sozusagen die geistigen Inhalte versammelt, um die es gehen soll, darauf folgt das Artikulieren, das seinerseits auch wieder eine Art von Meinen beinhaltet (nämlich das Meinen des Wortes), und wie man diesen Meinens-Artikulierens-Komplex gestaltet, hängt massgeblich davon ab, wie man vermutet, verstanden zu werden.

Dass man bedeutungsvoll sprechen könnte, ohne etwas zu meinen, und sei es nur ein einziges Wort, scheint hingegen weder mit unserer Intuition noch unserer Erfahrung als Sprachteilnehmer zusammenzugehen.

To mean or not to mean


Man sollte daher annehmen, dass das Meinen in allen vier Typen etablierter Bedeutungstheorien (Referenztheorien, Konzepttheorien, Gebrauchstheorien, Wahrheitsbedingungs-Theorien) eine zentrale Rolle spielt, das ist allerdings nicht so.

Die Referenztheorien wollen überhaupt ohne das Meinen auskommen, sie halten die Instanz des Mentalen für irrelevant oder empirisch unzugänglich und bemühen sich, die zu eliminieren. Die Konzepttheorien hingegen stellen das Gemeinte (den „Gedanken im Kopf“) gerade in den Mittelpunkt: Für sie wird Bedeutung nicht durch „das Ding“ bestimmt, sondern durch „den Begriff“ (die Vermittlung mit der Welt ausserhalb des Kopfes geschieht dann über ein „semiotisches Dreieck“ aus Zeichen, Begriff und Ding, wie bei Ch. S. Peirce oder Ogden / Richards). Pragmatische Gebrauchs- oder Verwendungstheorien wie die Sprachspiele des späteren Wittgenstein oder auch behavioristische Theorien blenden wieder das Meinen wieder aus, während die Wahrheitswert-Theorien ihm gegenüber tolerant sind, sich aber eher für das Wissen („wissen, wann ein Satz wahr ist“) interessieren als für das „Meinen von etwas“.

Mir scheint es offensichtlich, dass eine Bedeutungstheorie (eine Antwort auf die Frage: Was ist die Bedeutung eines Wortes?) unmöglich ohne eine Berücksichtigung des Meinens auskommen kann. Allerdings ist eine einfache Bestimmung des Meinens als „das, was ich im Sinn habe“, „das, was ich sagen will“ wenig hilfreich. Erstens, weil die grammatische Transitivität dieser Meinens-Ausdrücke (ich meine dies und das) bereits eine bestimmte Vorstellung von Referenz mit sich bringt, einen unmittelbaren „Sachbezug“ – ob das Meinen immer einen Gegenstand hat, halte ich aber aus verschiedenen Gründen für eine offene Frage (man könnte sich Meinen auch vorstellen als eine eher generelle, aktive Aufmerksamkeit, die mit Inhalten angereichert wird, ohne zwangsläufig auf sie gerichtet zu sein). Und zweitens ist die Vorstellung, Meinen sei Meinen von etwas, problematisch, weil sie den Meinens-Prozess vom Kommunikations-Prozess abschneidet, weil sie vorgibt, man könne für sich allein meinen, solipsistisch meinen, und so das Schleifenhafte, das Rekursive des Sprachgeschehens nicht in den Blick bekommt.

Wenn ich nach einer besseren Bestimmung dafür suche, was es denn heisst, etwas zu meinen, komme ich zunächst wieder zu einer Formel. Diese Formel ist aber – im Unterschied zu anderen aus der Sammlung von letzter Woche – keine, von der ich glaube, dass sie allzu tragfähig, allzu weit-tragfähig ist. Der Formel Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht traue ich zu, dass man auf ihr bis an den Rand der Welt reiten kann. Die Meinens-Formel bringt einen vielleicht gerade bis zur nächsten Ecke. Aber manchmal muss man ja auch gar nicht weiter. Und immerhin leistet sie etwas recht Nützliches, nämlich, die Meinens-Frage, die sonst sehr bereitwillig und sehr schnell in auf das Meinen von etwas einschwenkt, in eine andere Richtung, vielversprechendere zu leiten. Diese provisorische, mangelhafte, dennoch hilfreiche Formel lautet:

Meinen ist simuliertes Verstehen

bzw.

Meinen ist simulierte Entendenz 

Der Dreh- und Angelpunkt ist das Adjektiv simuliert. Simuliert heisst, in einer groben Annäherung, dass ich mir überlege, was der andere wohl verstehen wird (was seine Entendenz sein wird), wenn mich anschicke etwas zu sagen, bevor ich es dann tatsächlich sage. Simuliert funktioniert damit ähnlich wie in der anderen Formel aus den Notizen der vergangenen Woche: Wollen ist simuliertes fremdes Wollen. Aber natürlich muss detaillierter ausgearbeitet werden, was denn nun mit „simulieren“ genau gemeint [sic!] ist.

Intention, Intention und Intention


10.09.
Vorher muss man sich aber über etwas anderes Gedanken machen. Es gibt dieses schillernde Wort „Intention“. Schillernd ist es, weil es auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden kann (die aber dann doch gar nicht ganz und gar verschieden sind): Einmal als Intention im Sinne der Absicht, die man mit einer Handlung verfolgt (oder auch mit einer sprachlichen Äusserung), also Intention als das, was man vorhat zu tun oder zu sagen, der Vorsatz, das Ansinnen. Das Wort wird meistens dann relevant, wenn das Ansinnen nicht umgesetzt werden konnte: Das und das ist passiert, meine Intention war aber eigentlich ... Das ist wahrscheinlich auch die handelsübliche Verstehensweise, diejenige, die man im Alltag überhaupt als einzige antreffen wird.

Und dann gibt es die Intention im Sinne der Intentionalität Franz Brentanos, die wiederum auf die intentio der mittelalterlichen Scholastiker zurückgeht und die dann über Husserl eine grosse Karriere in der Phänomenologie und in der modernen Philosophie des Geistes gemacht hat. Diese Intention (bzw. Intentionalität) wird üblicherweise charakterisiert als das „über-etwas-Sein“ geistiger Inhalte oder Zustände oder ihr „Handeln-von“ – man könnte annäherungsweise auch sagen, als ihr „Weltbezug“, was dann aber wieder so aussieht, als sei hiermit die „Referenz“ der Bedeutungstheorien des ersten Typs gemeint, was nicht ganz stimmt (denn die wollen ja gerade ohne eine Instanz des Geistigen oder Mentalen auskommen).

Bei Brentano gilt diese Intention geradezu als Abgrenzugskriterium zwischen Geist und Materie (oder, in seiner Terminologie, als Kriterium dafür, was „psychisch“ oder „psychologisch“ ist): Nur wo Geist vorhanden ist, kann auch „von etwas gehandelt werden“ – unter anderem von etwas, das in der „realen Welt“ gar nicht existiert. Denn man kann auch Geistesinhalte von menschfressenden Zyklopen haben, von Einhörnern oder von paradiesischem Frieden (deshalb sprach Brentano auch mit einem etwas seltsamen Ausdruck von der intentionalen Inexistenz).

Es steckt also schon genug in den beiden Spielarten von „Intention“, das Anlass zur Verwirrung geben kann. Weiter verkompliziert wird die Sache dadurch, dass die Sprachphilosophie nicht nur die Intention im Brentanoschen Sinne kennt, sondern auch noch die Intension, nämlich die „geistige Ausdehnung des Begriffs“ (alles, was man sich mental unter ihm vorstellen kann) im Gegensatz zur Extension, zur „realen Ausdehnung des Begriffs“ (all das in der Aussenwelt, wofür der Begriff stehen kann). Da möchte man sich doch am liebsten gleich mit etwas anderem beschäftigen. Aber wenn man die Frage klären will, was es heisst, etwas zu meinen, dann muss man sich mit diesen Konzepten von Intention und Intentionalität auseinandersetzen. Und sei es nur, um sie dann wieder über Bord zu werfen.
 
Schnitt. Und wieder zurück zum „Simulieren“.

Als wenn


Ich hatte neulich schon einmal im Zusammenhang mit der Formel Sollen ist simuliertes fremdes Wollen begonnen, mir über das Simulieren Gedanken zu machen. Mit Simulieren meine ich nicht „vortäuschen“ (to feign). Derjenige, der fremdes Wollen simuliert, täuscht kein fremdes Wollen vor, genausowenig wie derjenige, der Entendenz simuliert, fremdes Verstehen vortäuscht.

Was ich neulich zum Wollens-Simulieren geschrieben habe: „mit einem Teil meines Wollens in das Wollen eines anderen hineinsteigen“, lässt sich ganz ähnlich auch im Fall des Verstehens-Simulierens sagen. Fremdes Verstehen zu simulieren (also Entendenz zu simulieren) heisst, selbst in dieses fremde Verstehen „hineinzusteigen“, mich selbst zu meinem eigenen Meinen so zu verhalten, als wenn ein anderer es zu verstehen hätte. Das Simulieren ist also so etwas wie ein hypothetisierender Prozess (nicht eine Hypothese, denn es ist ja keine These), oder es ist eine Art von Probe, im Sinne einer Theaterprobe oder einer musikalischen Probe, eines rehearsal oder einer repetition, nur nicht eine Probe auf der wohlvertrauen Bühne des eigenen Kopfes, sondern auf der ungewohnten und gemutmassten des fremden.

Wie funktioniert das konkret ? Nehmen wir an, ich meine Hund. Und nun möchte ich mein Meinen artikulieren –

Halt! Hatte ich nicht oben geschrieben, es sei überhaupt nicht ausgemacht, dass Meinen angemessen begriffen werden kann als Meinen-von-Etwas? Hatte ich nicht schon gesagt, oder versucht zu sagen, dass mir die Transitivität von Meinen suspekt vorkommt? Und liess nicht mein kurzer Blick auf die „Intentionalität“ bereits erahnen, dass ich der Brentanoschen Vorstellung, geistige Akte oder Zustände wie das Meinen hätten die spezifische Qualität, über etwas zu sein, nicht sehr viel erklärendes Potenzial zutraue und sie zwar würdigen, aber lieber aus meinen Überlegungen herauslassen möchte? Und nun schreibe ich selbst: Nehmen wir an, ich meine Hund?

Man kann nicht aus seiner Sprache heraus, jedenfall nicht ohne weiteres, und man kann auch nicht ohne weiteres aus den Denkmustern heraus, die diese Sprache mit sich bringt. Sicher, wenn ich philosophiere, dann ist es gerade mein Vorhaben (meine Intention!), Sprach- und Denkmuster auf ihre Tauglichkeit hin zu befragen, mich ihnen eben nicht auszuliefern, ihre womöglichen Defizite offenzulegen, womöglich neue Muster vorzuschlagen. Aber wenn ich über die Sprache philosophiere, dann muss ich dabei zugleich die Sprache verwenden, und verwenden kann ich nur die, die bereits da ist. Und deshalb bleibt mir wohl kaum etwas anderes übrig, als, wenn ich ein solches Beispiel einführen will, zu sagen: Nehmen wir an, ich meine Hund, auch wenn ich auf einer tieferen, bisher nicht ohne weiteres artikulierbaren Ebene davon überzeugt bin, dass wir eben nicht Hund meinen, sondern dass Meinen irgendwie anders funktioniert, weniger intentional, vor allem weniger transitiv.

Nehmen wir also an – bedauerlicherweise, mit schlechtem Gewissen und entgegen der eigenen noch nicht explizierbaren Überzeugung – ich meine Hund. Oder nein, sogar das ist noch zuviel. Ich meine erst einmal nur jenes Tier. Und dieses Meinen ist bislang nur ein innerlicher Vorgang bei mir. Vielleicht möchte ich später etwas sagen wie „Was für ein grosser Hund“ oder „Achtung vor dem Hund!“ oder „Gehört der Hund zu dir?“, aber jetzt, in diesem Augenblick, da alles andere noch bevorsteht, was an Anreicherungen meines Meinens, Kontextualisierung meines Meinens, zunächst vagen, dann konkreten Meines von Wörtern, Artikulieren von Wörtern, Bilden von Sätzen und so weiter noch folgen könnte, bin ich nur beim Hund-Meinen, beziehungsweise beim jenes-Tier-Meinen

Nun will ich aber dieses Meinen teilen – und zwar durchaus in einem ähnlichen Sinne, wie man Inhalte in sozialen Netzwerken teilt: damit jemand daran teilnehmen kann. Nur brauche ich dafür kein digitales Medium, sondern die Sprache. Ich brauche ein Wort.

Welches Wort werde ich wählen, um mein jenes-Tier-Meinen zu artikulieren? Vielleicht das Wort „Ente“? Oder das Wort „Stein“? Oder besser das Wort „Gerechtigkeit“? – Ich vermute: keins von ihnen. Warum nicht? Weil ich bei keinem dieser Wörter die Hoffnung haben kann, dass der, dem ich sie mitteile, mein Meinen versteht. Mein vorsorgliches Simulieren seines mutmasslichen Verstehens würde anzeigen, dass da etwas nicht zur Deckung kommen kann. Ich habe mir vorgesellt, ich frage mein Gegenüber: „Gehört der Stein zu dir?“, und kam zu dem Schluss, dass sein Verstehen ihn dazu bringen würde, zu meinen, dass ich etwas anderes meine, als ich tatsächlich meine. 

Das klingt kompliziert, aber das ist es auch: All diese Prozesse sind in hohem Masse rekursiv und zirkulär. Es geht, wenn ich simulierend ein Wort auswähle, immer darum, was ich meine dass du wohl meinen wirst dass ich meine. Das sind metakognitive Figuren, wie man sie auch etwa in der Kommunikationslogik von Watzlawick et al. findet.

Gut. Die drei nicht. Aber welches Wort würde ich dann wählen? Dasjenige, bei dem ich aufgrund meiner Simulation davon ausgehen kann , dass es so verstanden werden wird, wie es meinem Meinen entspricht, dasjenige, dessen simulierte Entendenz mit meiner Intention (jetzt habe ich es doch gesagt!) zusammenfällt. Und welches Wort ist das?

Lasst mich überlegen. Ich sitze hier, und mir gegenüber sitzt Françoise. Und nun will ich mein jenes-Tier-Meinen artikulieren, und zwar so, dass ich davon ausgehen kann, dass Françoise meinen wird, was ich meine. Was werde ich sagen? „Hund“? Vielleicht. Ich denke aber, ich wäre nicht schlecht beraten, das Wort „chien“ zu artikulieren. Denn dann kann ich davon ausgehen (sagt mir meine Simulation), dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Françoise meinen wird, was ich meine. Sässe dort nicht Françoise, sondern, sagen wir, Bogdan, dann würde ich mein jenes-Tier-Meinen vermutlich artikulieren durch das Wort: собака. Und so weiter ... – aber halt, ist das wirklich ein Modellfall?

Vielleicht nicht, wobei ...


Kann der fremdsprachliche Hintergrund meiner Adressaten tatsächlich ein Beispiel für die verschiedenen Verstehensvoraussetzungen verschiedenen Adressaten abgeben, die ich beim Vorbereiten meiner Artikulation simuliere? Ist es nicht eher so, dass ich schlicht das Bezugssystem wechsele, je nachdem, ob mir Françoise, Богдан oder Hildegard gegenübersitzen, und in jedem Bezugssystem einfach sage, was jemand in ihm eben sagt, wenn er sein jenes-Tier-Meinen artikulieren will und das gemeinte Tier ein Hund ist? Das könnte sein. Aber andererseits geht es mir persönlich durchaus häufig so, wenn mehrere Verkehrssprachen zur Auswahl stehen oder sich vermischen, dass ich durchspiele, simuliere, welcher unter den verschiedenen in Frage kommenden Ausdrücken denn nun am besten verstanden werden wird.

Aber dennoch bleibt das Beispiel problematisch. Denn selbst, wenn ich in Situationen mit sich vermischenden Verkehrssprachen eine Simulation in dieser oder einer ähnlichen Art durchführe, sagt das nicht viel darüber aus, wie der Weg vom jenes-Tier-Meinen zur entsprechenden Artikulation verläuft, wenn das sprachliche Bezugssystem eindeutig gegeben ist. Man kann wohl davon ausgehen, dass ich nicht jedes Mal tatsächlich solche Verstehensmöglichkeits-Proben durchführe, wenn ich irgendetwas Gemeintes artikulieren will. Es scheint so etwas wie sedimentierte Simulation zu geben, einen Fundus des bereits Simulierten, auf den ich im überwiegenden Teil der Artikulationssituationen zurückgreife. Was allerdings auch einfach nur heissen könnte, zwar nicht ich, dafür aber eine andere Person das Verstehen des entsprechenden Wortes in den entsprechenden Situationen simuliert hat, und nicht nur eine, sondern viele Personen, so viele – und mit so konsistenten, gleichbleibenden Ergebnissen – dass ich eben by default davon ausgehen kann, dass „Hund“ als Hund verstanden werden wird, ohne dafür im fremden Kopf extra meine Probebühne aufbauen zu müssen.

Was fehlt


Wenn ich es jetzt einmal Revue passieren lasse, dann war diese kleine Reflexion doch ziemlich hakelig. 

An der Intuition, dass das Meinen – oder das Artikulieren von Gemeintem, aber wie weit sich das vom Meinen selbst trennen lässt, ist fraglich – etwas, ach was sage ich: sehr viel mit simuliertem Verstehen zu tun hat, würde ich festhalten. Ich glaube überhaupt, dass das Simulieren ist ein zentraler Vorgang bei allem mentalen Akten, die eine Dimension des Sozialen oder des Kollektiven besitzen. Und da das auf so ziemlich alle mentalen Akte zutreffen dürfte (die Geistesinhalte in meinem Kopf kommen ja von anderen oder aus dem Kollektiven her, auch wenn ich sie dann individuell weiterverarbeite), ist das Simulieren überhaupt zentral für das Mentale (das Psychomentale, das Kognitive).

Aber diese Intuition argumentativ plausibel zu machen, ist dann schon wieder eine ganz andere Aufgabe. Zumal, wenn man sich dafür genau derjenigen sprachlichen und gedanklichen Modelle bedienen muss, an denen man ja eigentlich zweifelt, die man, offen gestanden, sogar überwinden will. 

Diese Problematik zeigte sich überall: An der Verwendung der Formel Meinen ist simuliertes Verstehen / Meinen ist simulierte Entendenz, die, wenn auch ausdrücklich als Kurzstrecken-Formel geplant, massive Fragen bezüglich des Verhältnisses von Meinen und Artikulieren offenlässt, ja die beiden auf eine Art und Weise miteinander vermengt, die ein analytisches Weiterarbeiten sehr behindert. Am gespaltenen Verhältnis zur „Intention“ à la Brentano, die man einerseits „irgendwie“ braucht, um diesen ganzen Themenkomplex zu durchdringen, die aber andererseits auch „irgendwie“ auf die falsche Piste führt. (Warum eigentlich? Was ist da falsch? Das ist mit den bisherigen Mitteln kaum festzumachen.) Und schliesslich am Wort meinen und seiner Grammatik selbst, der man sich kaum entziehen kann, jedenfalls nicht, ohne das eigentliche Thema für unabsehbare Zeit links liegen zu lassen.

Das ist alles ziemlich vertrackt, und eigentlich könnte ich mir jetzt die Haare raufen und den Text wieder löschen, wenn nicht – wenn er nicht doch eben immerhin bis zur nächsten Hausecke vorwärtsgekommen wäre und vor allem uns von einer anderen Hausecke, an die immer alle hinrennen (warum eigentlich), ein Stück entfernt hätte und wenn nicht, vor allem, ich doch eine ziemlich klare Idee davon hätte, warum das alles so vertrackt ist, und zwar in der Darstellung mehr als im Denken selbst (und zu irgendeiner Form von Darstellung zu gelangen ist ja schliesslich mein Programm mit diesem Notizbuch). Und diese Idee lautet: Es fehlen Voraussetzung, um die Sache so darzustellen, wie sie dargestellt werden müsste, es fehlt genaugenommen die eine, die entscheidende Voraussetzung, und das ist der Klang, das ist ein Gedankliches framework, innerhalb dessen man mit Klängen arbeiten, die Dinge akustische angehen kann, und das ist das framework, das bei mir sowieso alles umgibt, alles durchdringt, und mit dessen Auftauchen ich begonnen habe, irgendwie grundlegend anders zu denken, als ich das zuvor tat. 

Und ohne dieses framework hängt alles in der Luft.︎︎︎




Autohynonomien


Übrigens, wisst ihr, was Autohyponomien sind? Selbstunterbegrifflichkeiten. Ein dickes sprachliches und logisches Problem.

Zum Beispiel die Länge. Wie lang ist ein Bleistiftstummel? – He, ein Stummel ist nicht lang, der ist kurz! – Eben. Und trotzdem fragen wir nach der Länge. Das Verhältnis von Überbegriff (Hyperonym) und Unterbegriffen (Hyponyme) ist verschachtelt, und zwar derart, dass der Überbegriff einer seiner eigenen Unterbegriffe ist: Länge: lang <-> kurz. Auto-Hypo-Nomie.

Sowas kommt häufig vor: Länge, Alter, Grösse, Wärme ... immer ist der Oberbegriff auch einer der opponierenden Unterbegriffe. In anderen Fällen ist das nicht so: Rind: Kuh <-> Stier. Kind: Mädchen <-> Junge. Und da sind wir auch schon bei den dicken Problemen.

Denn bei verschiedengeschlechtlichen Unterbegriffen tauchen echte Hyponomien (solche, die sich nicht selbst enthalten) nur dort auf, wo der Oberbegriff im Neutrum steht. Das macht die sprachlichen Rollenbezeichnungen (≈ nomina agentis) so tricky. Im „klassischen“ Deutsch sind Rollenbezeichnungen fast immer autohyponym. Tischler: Tischler <-> Tischlerin. Kunde: Kunde <-> Kundin. Aber auch, genaugenommen: Witwe: Witwer <-> Witwe.

In all diesen Fällen hat der Oberbegriff eine der Genus-Optionen der beiden Unterbegriffe, und zwar jeweils die nicht-movierte (nicht abgeleitete) Option, also die „Grundform“. Bei „Tischler“ oder „Arzt“ kennt man das (und sträubt sich begreiflicherweise inzwischen häufig dagegen). Besonders deutlich wird es bei den etwas kuriosen Fällen, wie bei „Witwe“. Müsste das nicht der „Tischler“-Konstellation entsprechen, nur andersherum?

Nicht ganz. Zwar kann „Witwer“ als movierte Form keine Rollenbezeichnung sein, „Witwe“ aber (da empirisch ausschliesslich als Frau festgelegt) klassischerweise auch nicht – man würde ausweichen in „verwitwete Person“. Aber der Fall ist interessant, denn es könnte sich hier um einen Verstehens-Habitus handeln, der sich „umhören“ liesse. Denn warum sollte eigentlich „eine Witwe“ kein Mann sein, wenn doch auch „eine Führungskraft“ ein Mann sein kann? Hier hat das Rollengenus vermutlich noch einen Spielraum, der bislang nicht ausgeschöpft wird. Sicher, das ändert nichts daran, dass wir eine movierte (abgeleitete) Form nicht als Rollenbezeichnung akzeptieren würden: Eine Frau kann schlecht „Witwer“ sein und ein Mann schlecht „Professorin“. Dennoch verdient die weiblich dominierte, nicht movierte Autohyponomie („Witwe“, „Führungskraft“) mehr Aufmerksamkeit, als sie derzeit bekommt.

Bei den allermeisten Rollen-Autohyponmien ist aber der Oberbegriff maskulin, und daher sind sie für die Gendersprache ein rotes Tuch. Die Konstellation Tischler: Tischler <-> Tischlerin scheint, bei entsprechend geschärfter Geschlechtssensibilität, als geradezu hochdreister maskulinistischer Affront. Dahingegen wird Länge: lang <-> kurz üblicherweise nicht als eine Diskriminierung des Kurzen wahrgenommen. (Man beachte aber, der Fall Alter: alt <-> jung ist womöglich ageistisch!). Oder, wieder nach dem Tischler-Modell: Student: Student <-> Studentin. Hört man das geschlechtersensibel, so zeigt sich in der Tat eine krasse geschlechtliche Disbalance.

Die Gendersprache (ich benutze das Wort neutral, nicht abschätzig) sucht aus dieser Zwangslage verschiedenste Auswege, etwa lexikalische („Lehrpersonen“) oder grammatikalische („Studierende“). Und in der Tat, solange wir diese Ausdrücke im Plural verwenden, scheinen sie keine Autohyponomie mit sich zu bringen. Etwa der Fall: Studierende: Studenten <-> Studentinnen. Der Oberbegriff taucht in den opponierenden Unterbegriffen nicht auf.

Aber das klappt so richtig eben auch nur im Plural. Denn im Singular ergibt sich wieder: Studierender: Student <-> Studentin. Die Rollenbezeichnung "ein StudierendER" ist wieder "unneutral", sie ist wieder männlich. Bei "Lehrperson" kann sie dann weiblich sein, aber von einer grammatisch weiblichen "LeRNperson"(anstatt „Student“) mag man dann doch nicht reden. So oder so steckt man wieder in der Autohyponomie, und oben steht ungerechterweise immer nur eine der Genus-Optionen.

Aber ist nicht durch das Gendern trotzdem etwas gewonnen? „Ein Studierender“ scheint doch irgendwie neutraler als „ein Student“. Dafür gibt es einen einfachen Grund: das Respektsignal. Denn dadurch, dass ich die Gerundivform verwende, das Partizip, signalisiere ich, dass ich eben nicht die klassische maskulinistische Form verwenden will. Ich mache metasprachlich eine neue Opposition auf. Auch wenn die grammatisch gesehen gar keine ist. Denn sowohl „Student“ wie „Studierender“ sind grammatisch maskulin. Aber „Studierender“ trägt ein neues metasprachliches, illokutives Merkmal – nennen wir es: [Respekt]. Dieses Merkmal trug „Student“ nicht.

Nun gut. Was bringt das? Ist das wirklich geschlechtergerechter? Oder ist das nicht eher ein Etikettenschwindel? Kann man womöglich so sehen. Denn das Merkmal [Respekt] ist schliesslich nicht kongruent mit dem Merkmal [Neutralität], um das es ja eigentlich (oder angeblich?) geht. Das merkt man zum Beispiel daran, dass Terroristen nicht gegendert werden und auch nicht in „Terrorisierende“ umgeformt. Sie verdienen eben keinen Respekt, auch dann nicht, wenn sie weiblich sind.

Andererseits ist natürlich am sprachlichen Respekt, gerade wenn es ein gleichgewichteter Geschlechter-Respekt ist, nichts Schlechtes. Insofern ist „Etikettenschwindel“ dann doch wieder zu hart. Man muss halt nur wissen, was man tut und was für Konsequenzen das hat. Die Vermischung von [Neutralität] und [Respekt] geht auf Kosten der [Neutralität]. Und, möglicherweise, auf Kosten von Sprachökonomie und von Flow und Rhythmus. Aber die Sprache ist sowieso voll von trade-offs. Kann man also machen. Frage ist, ob man das will – und welche Alternativen es gäbe.

Und die Moral von der Geschicht? Keine der Strategien hat wirklich Erfolg. Nicht die „klassische“ (ich habe extra nicht von „generischem Maskulinum“ geredet, denn dieser Begriff schmeisst zu viele Funktionalitäten in einen Topf), nicht die gendersprachliche. Immer lauert hinter der nächsten Ecke bereits die Autohyponomie, und sie macht (jedenfalls in ihrer „semantischen“ Lesart) die angestrebte Neutralität zunichte.

Deshalb versucht die Gendersprache auch, wo es geht die Rollenbezeichnung überhaupt zu vermeiden und statt dessen den Plural zu setzen: „die Lehrenden“, „die Studierenden“ usw. Aber auch diese Vermeidungsstrategie, so sinnig sie zunächst scheint, ist nicht nachhaltig. Denn was machen wir, wenn ein Student die Strasse überquert? Oder ein Radfahrender? Oder ein Kind? – Natürlich hätte das in Anführungsstriche gehört: „Wenn ein X die Strasse überquert“ – ein Student / ein Studierender; ein Radfahrer / ein Rad Fahrender usw. Man schreibt das, und zack ist die maskulinistische Autohyponomie wieder da. Einmal mit Respektsignal, einmal ohne. Aber wie wichtig ist dieses Signal? Ist es wichtiger, als sich nicht am "Rad Fahrenden" zu verschlucken, der das grammatische Problem auch nicht löst? Das löst sich gänzlich nur beim Kind. Doch das hilft bei unseren erwachsenen Problemen auch nicht weiter.

Man kommt ohne die Rollenbezeichnungen schlicht nicht aus. Allein schon juristisch nicht. Die Situation ist eine andere, wenn EIN Student / Studierender / Radfahrer / Kind die Strasse überquert, als wenn dies VIELE Studierende / Radfahrende / Kinder tun. Man braucht diesen Personen-Platzhalter schon um der Logik willen. Und man braucht ihn vor allem auch in der literarischen Sprache – ich wollte da schon lange mal Beispiele zusammensuchen.

Was tun? Wenn man das Ziel der sprachlichen Geschlechtergerechtigkeit ernst nimmt (und ich finde, das sollte man tun), dann muss man die Autohyponomie entweder loswerden oder sie irgendwie neutralisieren. Beides nicht so einfach. Und beides nicht mehr Thema für diesen Post. (Aber vielleicht für einen nächsten, mein Nachbar Ebbi hat nämlich etwas ganz interessantes gesagt neulich ...)


︎︎︎



Ebbi und Elke-die-Melke


01.07.2021

Jetzt mal etwas ganz anderes. Ich habe auf dem Dorf einen Nachbarn, der heisst Ebbi. Also eigentlich heisst er natürlich Eberhardt. Von Ebbi habe ich schon eine Menge gelernt, etwa, wie man ausgebüxte Kühe wieder einfängt (Ebbi ist Rinderzüchter von Beruf), aber auch allerlei darüber, wie Menschen so ticken, wenn sie keine Schlauköppe von der Universität sind, wie Ebbi das nennt.

Neulich stehen wir so mit unserem Nachmittagsbier an der Weide, da klingelt bei Ebbi das Telefon. „Gut Elke, ich komm hoch“, sagt er, legt auf und geht zum Traktor. „Da kommt se wieder nicht in den Kühlraum, ich muss mal aufschliessen fahren.“ – „Elke? Ist das die vom Hofladen?“, frage ich. – „Nee, Elke-die-Melke. Kennste nich? Halb sechs, Zeit fürs Abendmelken, mein Lieber, höchste Zeit!“

Oh, Ebbi, rolle ich mit den Augen. Elke-die-Melke. Junge junge. Und Tine die Tippse oder was? Und Paula die Putze. Geht's noch?

Na gut, mich nennt er schliesslich Schlaukopp, auch nicht viel besser.

Aber ich erzähle euch das jetzt hier nicht einfach als Schwank vom Lande, sondern ganz gezielt in Hinblick auf einen anderen Post von neulich, nämlich den über die Autohyponomie als sprachgerechtlichkeitliches Problem. Ein Problem, das immer dann entsteht, wenn eine übergeordnete Rollenbezeichnung zugleich auch eine(n) der Akteure bezeichnet, wie bei: Tischler: der Tischler <-> die Tischlerin. Man hat dann keine Möglichkeit, in neutraler Weise von der Rolle zu reden: „Wenn du Tischler werden willst“, scheint sich nur auf Männer zu beziehen, ebenso „Wenn du Arzt werden willst“, „Kunde“, „Radfahrer“, „Student“, „Pilot“, was auch immer. Und das ist nicht irgendein Problem, das man auf die leichte Schulter nehmen könnte, sondern es ist das Kernproblem des Geschlechtersprachenstreits.

Elke die Melke. Und dann gab's da noch die „Saftschubse“ im Flugverkehr. Viel mehr in dieser Art aber wohl nicht. Auch die Forschung hat dazu nicht viel zu sagen. Eine Dissertation* von 2012 bemerkt: „Bildungen dieser Art machen eine ausgeprägte abwertende Haltung erkennbar.“ Nun ja. Oh, Ebbi.

Andererseits.

Andererseits haben wir natürlich Wörter wie „Bote“ oder „Schütze“ oder „Vorfahre“. Auch auf „-e“. Oder „Schotte“. Oder „Schwabe“. Oder „Biologe“. Aber gut, die sind nicht unmittelbar von einem Verb abgeleitet wie „Putze“. Und sie sind nicht weiblich, sondern männlich. Aber sie sind jedenfalls nicht besonders abwertend. Vielleicht, weil sie nicht weiblich, sondern männlich sind?

Und andererseits-andererseits haben wir auch grammatisch feminine Wörter auf -e wie „Hilfe“ und „Wache“. Jedenfalls ist nichts dabei, zu sagen: „Ist das der Gärtner?“ – „Nee, das ist seine Hilfe. Der Gärtner kommt gleich.“ Und gegen eine „Wache“, die sich vor dem Tor gelangweilt eine Zigarette dreht, ist auch nichts einzuwenden. Und beide sind Kerle, die Hilfe wie die Wache. Oder, wartet mal – sie können ja auch Frauen sein. Geht beides. Und Elke die Melke könnte auch Kurt die Melke sein. Oder Arbogast die Melke. Sollte heute noch jemand den Namen Arbogast kennen.

„Einschränkend muss jedoch betont werden,“ weiss die besagte Dissertation darüberhinaus, „dass abwertende Personenbezeichnungen auf -e nicht reihenbildend sind.“ Will sagen, es gibt nur diese drei ziemlich lächerlichen Beispiele Putze, Tippse, Schubse und das war's dann auch. Na gut, plus Melke jetzt, dank Ebbi.

Als der davongebrummt war auf seinem Traktor, um den Kühlraum aufzuschliessen, dämmerte es mir allmählich. Mir, dem Schlaukopp. Elke die Melke. Das war im Grunde ... ein Froschkönig. Küss mich.

Helfen -> die Hilfe. Melken -> die Melke. Nimm ein Verb, weg mit dem „-n“, links ein „die“ davor gestellt, fertig ist die neutrale Rollenbezeichnung. Keine Autohyponomien mehr, keine verknotete sich selbst enthaltende Logik, keine geschlechtliche Schlagseite. die Melke: der Melker <-> die Melkerin. die Hilfe: der Helfer <-> die Helferin. Immer fein gerecht verteilt und eindeutig benannt. Keine Doppeldeutigkeiten, kein „mitgemeint“. Und die Rollenbezeichnung selbst steht auch noch im grammatischen Femininum. Besser kann es doch gar nicht sein! Eben: ein Froschkönig. Schlummert da vor sich hin in seinem Moderteich im Glassarg, und wartet darauf, wachgeküsst zu werden um sich in einen schönen Prinzen zu verwandeln, äh, in eine schöne Prinze. In eine schöne geschlechtsneutrale Prinze mit goldenem Haar, das sie uns nun gleich herunterlässt, damit wir uns daran zur Sprachgerechtigkeit hangeln. Märchenhaft.

Okay, ich weiss, was du jetzt denkst, liebe Kollege. Wieder so eine Pseudolösung wie die von dem Herrn Phettberg, der möchte, dass alle von ihren Freundys reden und bei Professorys studieren und zu Ärztys gehen und sich ihre Milch von Melkys aus dem Kuheuter zutzeln lassen. Lustig, aber albern. Und sicher nicht besser als das Gendersterny.

Ich kann das ja verstehen, dass du so denkst. Aber ich glaube auch, ich kann dich davon überzeugen, dass diese beiden Fälle – „liebes Kollegy“ einerseits, „liebe Kollege“ andererseits – nichts miteinander zu tun haben. Dass sie völlig unterschiedlich funktionieren. Und dass die E-Ableitung oder, wie man korrekter sagen müsste, die Ebbi-Derivation eine echte Alternative zu dem Geschlechts-Endungs-Verdopplungs-Bohei ist, mit dem wir derzeit ständig traitiert werden, und dass sie als einzige unter allen Optionen das Problem der sprachlichen Geschlechtergerechtigkeit wirklich und nachhaltig löst. Na gut, dass sie beiträgt dazu, es wirklich und nachhaltig zu lösen. Massgeblich beiträgt.

Leider ist dieser Post jetzt gleich zu Ende, daher nur drei Stichpunkte.

1. Die „abwertende Konnotation“ kann leicht in eine neutrale umgehört werden anhand von Modellfällen wie „Hilfe“. Wie schnell derartige Konnotationen sich ändern und sich sogar in ihr Gegenteil verkehren können, zeigt das Beispiel „schwul“.

2. Die E-Derivation ist nicht tot, sie schlummert nur. Jeder weiss, wie man solche Wörter herstellt, das Muster lässt sich augenblicklich aktivieren. Sie ist aber auch nicht aktuell produktiv wie die Y-Derivation (Phettberg-Ableitung). Sondern das Muster steht als Rohmaterial zur umdeutenden Wiederverwendung frei zu Verfügung. Es wartet auf uns!

3. Das Produkt der E-Derivation ist ein grammatisches Femininum (und nicht, wie „das Kollegy“, ein Neutrum, das seinen versächlichend-verniedlichenden Charakter niemals loswird). Und dieses feminin-Sein ist ein riesiges Plus. Denn den geschlechtlichen Binominalismus im Umgang mit Personen werden wir unserer Sprache noch über lange Zeit nicht austreiben können: Alles, was wir über Personen durch pronominale Konstruktionen sagen wie „jeder, der ...“, „keiner“, „man“, „Wer hat seinen Lippenstift im Bad vergessen“ und so weiter rastet unweigerlich grammatisch ins Maskulinum ein. Man kann das aber gegenbalancieren. Dadurch, dass man geschlechtlich neutrale Rollenbezeichnungen grammatisch ins Femininum schnappen lässt: DIE Hilfe. DIE Melke. DIE Pilote.

Wie würde das aussehen? Zum Beispiel so: Vom Verband der Landwirte (singular: eine Landwirte, plural: viele Landwirte) wird gesucht: eine Bürohilfe und eine Rinderhüte (halbtags), jeweils m/f/d. Bewerbungen bitte direkt an die Verbandsvorstehe Herrn Diekmann.

Könnt ich mich glaub ich ziemlich fix dran gewöhnen. In meiner Männlichkeit bekniffen werd ich jedenfalls dadurch nicht. Hat mit der ja nichts zu tun, ist ja nur ne grammatische Kategorie.

Na denn viele Grüsse und einen guten Start in den Monat Juli!

Eure Sprachphilosophe 


* Konnotation im Deutschen – Eine Untersuchung aus morphologischer, lexikologischer und lexikographischer Perspektive. Bettina Felicitas Birk (2012). online verfügbar

Zur im Text erwähten Phettberg-Ableitung: hier 

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