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28.01.2023

Dritte Wege


Dieser Krieg kann nur durch das Militär und den DAAD gemeinsam zu einem tragfähigen Ende gebracht werden.

Einfach losverhandeln kann man nicht – wer sollte überhaupt mit wem verhandeln? Putin hat geglaubt, die Ukraine mit einer Razzia übernehmen zu können, wie er 2003 Yukos übernommen hat: hineinstürmen, die Schlüsselperson knebeln und abführen. Der Plan ist misslungen. Zu verhandeln haben Putin und Selensky nichts. Aber wer dann? Die Nato? Worüber? Über das Ausmass der Waffenlieferungen? Es lässt sich nicht einmal der Gegenstand, nicht einmal das Thema einer Verhandlung ausfindig machen.

Aber auch, ausschliesslich militärisch gegenzuhalten und zu schauen, was dann passiert, ist eine denkbar schlechte Idee. Entweder man ruft in Russland eine Revolution hervor (den Sturz Putins), mit unabsehbaren Folgen. Oder Putin bleibt, und der Krieg eskaliert. Oder Putin bleibt, und der Krieg geht jahrelang weiter. All das sind Katastrophen auf – unterschiedlich gestaffelte – Raten.

Wie soll das alles weitergehen? Es ist klar, dass die zivilisierten Kräfte, egal ob im Westen, in Russland oder sonstwo, verhindern müssen, dass diese Razzia doch noch Erfolg hat. Deshalb sind bewaffneter Widerstand und Waffenhilfe in diesem absoluten Ausnahmezustand richtig. Sie müssen aber durch Verhandlungen flankiert werden, damit der Krieg zu einem erträglichen Ende kommen kann. Der Preis dafür, auf den „Reifepunkt“ für Verhandlungen zu warten, ist zu hoch – es könnte keinen solchen geben.

Aber wieder: Wer soll verhandeln, und worüber? Es gibt keine Antworten auf diese Fragen. Sie laufen in eine bodenlose Leere, in ein Vakuum. Antworten, ja überhaupt Antwortmöglichkeiten müssen erst geschaffen werden. Es braucht einen regelrechten Prozess der Entwicklung, des R&D, ja der Erfindung, um überhaupt erst einmal Antwortmöglichkeiten auf diese Fragen in die Welt zu bringen.Die Regierungen können diesen Prozess nicht leisten. Sie sind entweder selbst Konfliktparteien oder sie sind dem Konflikt gegenüber indifferent. Die UNO ist blockiert. Die politischen Thinktanks sind politisch – sie beraten ihre jeweilige Seite. Gesucht ist eine unabhängige Instanz, die in der Lage ist, Verhandlungsgegenstände nicht zu identifizieren, sondern zu generieren: Eine Instanz, die dritte Wege erdenken kann, Wege, die die Quadratur des Kreises ermöglichen, die die Staatlichkeit und Souveränität der Ukraine sichern, ohne Russland in eine katastrophenträchtige Krise zu treiben.

Eine solche unabhängige Instanz gibt es bisher nicht. Aber es gibt ein Substrat, aus dem sie hervorgehen könnte.

Die kognitive Klasse aller beteiligten und nicht beteiligten Staaten – die Wissenschaft und die Kunst – verabscheut dieser Krieg. Auch diejenige in Russland, selbst wenn es Ausnahmen gibt und anderslautende Lippenbekenntnisse. Wenn die unabhängige, zu Entwicklung und Erfindung befähigte Instanz aus irgendetwas hervorgehen kann, dann aus dieser Klasse.

Es ist seltsam, dass unser Spezialistentum nicht auf neu entstehende Realitäten reagieren kann. Wir haben Spezialisten für Militärpolitik, Internationale Beziehungen, Diplomatie und vieles mehr, aber wir haben keine Spezialisten für diesen Krieg. Dabei ist der längst eine eigenständige Realität sui generis, der man kognitiv nur durch eine Integration aller bestehenden Spezialisierungen gerecht werden kann. Wir können diesen Krieg derzeit noch nicht einmal vollständig genug denken, um ihn zu einem erträglichen Ende zu bringen.

Dass wir nicht im Schnellverfahren Spezialisten für ihn ausbilden, ist in der Tat bizarr. Wenn wir es im individuellen Leben plötzlich mit einer neuen Problematik zu tun haben, setzen wir alles daran, in möglichst kurzer Zeit selbst zu Spezialisten für sie zu werden. Wir hoffen nicht darauf, sie mit den Mitteln zu bewältigen, über die wir bereits verfügen, oder wenn wir darauf hoffen, werden wir scheitern.

Was wir brauchen, ist etwas wie eine Schnelle Intellektuelle Eingreiftruppe. Nicht eine Meute von Intellektuellen, die zu allem ihre tagesaktuelle Meinung dazugeben, wie es jetzt allzuoft der Fall ist, sondern eine Truppe, die sich mit grösster Intensität und in kürzester Zeit, von den verschiedensten Voraussetzungen her kommend, für diesen konkreten Krieg und für seine ständig wechselnde Realität kompetent macht, diese Kompetenz stetig auf den neuesten Stand bringt und ausgehend von ihr Konzepte entwickelt und nach aussen hin formuliert, die Anknüpfungspunkte für die politische Praxis bieten. Und diese Truppe muss aus Vertretern aller am Konflikt beteiligter Parteien bestehen.

Dies wäre keine Mediationsgruppe. Es geht nicht darum, dass ihre Mitglieder miteinander verhandeln oder versuchen, den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu identifizieren, den es derzeit sowieso nicht gibt. Es wäre eine Gruppe, die viel weniger tut, damit aber einen grösseren Wert produziert: Sie analysiert den Konflikt „von aussen“, ähnlich wie es eigentlich die Rolle der UNO wäre, aber dieses Aussen ist kein politisches, sondern ein kognitives, intellektuelles, es ist das Aussen der Zivilisiertheit oder des unbedingten Strebens nach ihm.

Diese Truppe könnte man sich vorstellen als ein „Cognitive Response Cluster“. Denn es geht um das Kognitive: darum, Denkweisen, Konzepte zu entwickeln, die zu Verhandlungsgegenständen werden können. Es ist eine Response: eine Antwort auf die neue Realität, die fürchterlicherweise vor fast einem Jahr ihre Existenz begonnen hat. Und es ist ein Cluster, weil es erstens aus Vertretern der zivilen, kognitiven Klasse aller Konfliktparteien besteht, und weil es zweitens zusammengesetzt ist aus sehr unterschiedlichen Vertretern: aus Wissenschaftlern derjenigen Disziplinen, die für den Konflikt relevant sind, aus Wissenschaftlern gänzlich anderer Disziplinen, die unorthodoxe Denkmethoden beisteuern können, und aus Personen, die überhaupt keine Spezialisten für irgendetwas sind, sondern sich vom ersten Tag der Arbeit des Clusters selbst für diese Aufgabe neu qualifizieren, und insofern ohne vorgefasste Meinungen und Konzepte an diese Aufgabe herangehen.

Ein derartiges Cognitive Response Cluster oder „CRC“ könnte nicht von den Regierungen getragen werden – es wäre dann nichts als ein Meta-Thinktank, der an seinen inneren politischen Konflikten zerbrechen würde. Die Trägerschaft müsste von der Wissenschaft selbst ausgehen (bzw. von der kognitiven Klassen, zu der auch Vertreter von Kunst, Journalismus etc. gehören). Der DAAD wäre eine der bestehenden Institutionen, die in diese Richtung tätig werden könnten, ausserdem Wissenschafts-Akademien, auch diejenigen der Konfliktparteien. Vor allem aber müsste die UNO, die in politischer Weise so machtlos geworden ist, ihr Science Department (derzeit beim Economic and Social Council angesiedelt) rapide und massiv ausbauen. Nicht nur, damit zur Bewältigung dieses konkreten Kriegs eine übernationale kognitive Plattform geschaffen wird, sondern auch in Hinblick auf andere existierende und unweigerliche kommende neue Konflikte hin.

Wo die Internationalisierung des Politischen immer wieder scheitert, kann die Internationalisierung der Kognition dennoch gelingen. Die Klimaplattformen der UN könnten für derartige kognitive Konflikt-Response-Cluster wenn nicht ein Vorbild, so doch ein Beispiel sein, von dem aus man weiterdenken kann. ︎︎︎︎︎︎