Bonität und Legitimität


29.10.
Wozu diese Vehemenz in den Corona-Streitigkeiten? Diese Aggressionen? Mir scheint, die Leute können Legitimität und Bonität nicht auseinanderhalten. Mit Bonität meine ich integrierte voraussichtliche Güte, Qualität, Tauglichkeit – also praktischer Nutzen, ethische und menschliche Effekte, politische Durchsetzbarkeit etc. auf einen Nenner gebracht. Wie eben jeder irgendwann sagt: In Anbetracht aller Faktoren finde ich dies besser. Oder das.

Dass Bonität exorbitant schwierig zu beurteilen ist, dürfte auf der Hand liegen. Allein schon, weil viele Faktoren, die ins Bonitätskalkül eingehen, in der Zukunft liegen und nur sehr unvollkommen prognostizierbar sind. Aber Bonität ist auch nicht einfach kontingent, rein relativ, nur eine Sache der Perspektive. Es gibt Fälle, in denen Optionen objektiv (oder wenigstens intersubjektiv) eine wesentlich geringere Bonität besitzen als andere: A ist viel schlechter als B. Aber es gibt auch andere Fälle, in denen sich Bonitäten nur in Nuancen unterscheiden (A ist ein wenig schlechter als B) oder eine eindeutige Hierarchie nicht konstruiert werden kann (A könnte genauso gut sein wie B).

Dennoch ist Bonität immer etwas anderes als Legitimität. Dafür, dass eine Option in der Tat illegitim wäre, muss sie in grundlegender Weise Anforderungen von Plausibilität oder Anstand verletzen, muss sie "jenseits von Gut und Böse" sein. Solche Optionen habe ich in der aktuellen Debatte nicht gesehen.

Wenn man aber anerkennt, dass in einer multikonfliktuellen Situation wie dieser verschiedene legitime Optionen bestehen, die einander widersprechen und einander ausschliessen, die aber andererseits eine vermutlich nicht sehr verschiedene Bonität besitzen, dass A also, obwohl in diametralem Gegensatz zu B stehend, möglicherweise nur um Spuren besser oder schlechter ist als B, dann ist es sinnlos und realitätsfremd, so vehement miteinander zu streiten und so aggressiv aufeinander loszugehen. Angemessen wäre dann eher, sich zunächst gegenseitig seiner jeweiligen Ratlosigkeit zu vergewissern: Ich weiss es ja auch nicht. Deine Option B und meine Option A führen in völlig verschiedene Richtungen, und mir ist klar, wie du dir deine Option B vorstellst und sie begründest. Dennoch erscheint mir meine Option A besser als deine Option B – wenn auch nur um ein Mü, über alles gesehen. Aber das Besondere unserer gemeinsamen Situation liegt darin, dass wir anhand eines Müs, noch dazu eines mutmasslichen, Entscheidungen von ungeheurer Reichweite zu treffen haben. Versuchen wir also beide, jene anderen Menschen, die auch an der Entscheidung beteiligt und von ihr betroffen sind, von den jeweiligen winzigen Vorteilen unserer Optionen zu überzeugen, und sehen wir zu, wem das besser gelingt. Und treffen wir gleich die Verabredung, dass angesichts der Ratlosigkeit, die die Situation in uns beiden hervorruft, jeder von uns auch die Option des anderen zu teilen und mitzutragen bereit wäre.

So sähe meiner Meinung nach der Umgang erwachsener Menschen miteinander aus, die Legitimität und Bonität zu trennen verstehen. Und nicht nur in Covid-Fragen.
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