September

Formelsammlung


01.09.
Zeit für einen Zwischenstand. Ich habe verschiedene Formeln, manche alt (Fribourg, Studienzeiten), andere erst aus den letzten Monaten. Klarwerden darüber, wofür sie jeweils taugen, was sie zu denken möglich machen (auch Neues?), ob und ggf. wie sie auf aktuelle Probleme anwendbar sind (politische, sprachliche Streitfälle, Rolle der Medien, Diskussionen um Klima, Pandemie etc.). Leitfrage jeweils: Wo gelangt man hin, wenn man dieser oder jener Formel folgt?

Formeln: die bündigste, knappste Formulierung, auf die man einen Gedanken bringen kann. Oder auf die man einen Ansatz bringen kann. Also die stärkste Vereinfachung der grundlegenden Denkfigur eines Ansatzes.

Hier erst einmal sammeln.

Formeln zu Sprache und Bedeutung:

Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht

„Ist“ ist ein Sonderfall von „Wie“

Formeln zu Ethik:

Gut ist, sich zu fragen, was gut ist

Sollen ist simuliertes fremdes Wollen


die zentrale Formel zu Klang / Geist:

Der Geist (Bewusstsein, Kognition) ist ein akustisches Phänomen

und eine Formel zu Wahrheit(en):

„Unten“ (nahe an der Empirie) gibt es eine Wahrheit, „oben“ (fern von der Empirie) sind viele Wahrheiten

Das sind sehr unterschiedliche Formeln, nicht nur thematisch. Manche sind nahe an den Denkfiguren bestehender Ansätze, haben dann aber einen leicht anderen Twist (und der leichte Unterschied ist, was mich interessiert). Andere sind, soweit ich das überblicken kann, neu, also so noch nicht formuliert und auch nicht durchdacht worden. Und alle haben etwas „Simples“ oder „Naives“ – aus gutem Grund.

Die Liste ist so auch noch nicht vollständig – später ergänzen. (-> 12.09.)

Also: Wohin gelangt man, wenn man jeweils einer dieser Formeln folgt? Oder auch mehreren zugleich? Gibt es Zusammenhänge zwischen den Formeln? Oder lassen sich einige unter ihnen so gebrauchen, dass solche Zusammenhänge entstehen?

Noch einmal: Meine Leitfrage darf nicht sein, ob diese Formeln „stimmen“. Es geht nicht darum, sie zu beweisen oder zu widerlegen. Formeln sind Setzungen. Manche sind stärker aus Sachverhalten abgeleitet (die Klanggeist-Formel aus dem Sachverhalt der neuralen Verfasstheit des Hirns, aus der Neuralität), andere in grösserem Masse „aus der Luft gegriffen“ – experimentelle Axiome. Sondern mein Ziel ist immer, eine Formel zu erproben, sie zu erkunden, zu überprüfen, zu welchen Resultaten, im besten Fall: zu welchen Einsichten man kommt, wenn man sich an ihr abarbeitet. Wenn man sie als ein Instrument, ein Werkzeug benutzt, eine Wünschelrute oder ein Metallsuchgerät.

Wo fange ich an? – Bei Sprache und Bedeutung und bei Ethik. Das sind die beiden Dinge, über die ich derzeit am meisten nachdenke. Und auch diejenigen, die am ehesten mit der Aktualität in Resonanz stehen, nicht zuletzt mit der politischen.︎︎︎



Entendenz


02.09.
Zu Sprache und Bedeutung erst einmal.

Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht

Damit ist man bei einem klassischen Thema der Philosophie, einer klassischen Gruppe von Fragen: Was ist die Bedeutung eines Wortes? Wie kann es überhaupt sein, dass ein Wort etwas bedeutet? Wie funktioniert das Bedeuten?

Die Frage nach der Bedeutung eines Wortes ist keine, die lange für sich allein bleiben kann. Sie hat eine starke Tendenz, sich auszudehnen, zu expandieren; sie wächst sich aus zu anderen, umfassenderen Fragen. Etwa zu: Was ist die Bedeutung eines Satzes? Was heisst es, dass ein Satz etwas „bedeutet“ oder „einen Sinn hat“ (was durchaus etwas Unterschiedliches sein könnte)? Was heisst „Bedeutung“ dann in Bezug auf einen ganzen Text, eine Rede, einen Dialog? Wie verhalten sich überhaupt Sprache und Welt zueinander? Oder Sprache und Denken (Sprache und Geist, Bewusstsein, Kognition)? – Man kann die Wortbedeutungs-Frage sicherlich nicht von diesen weiteren Fragen isolieren, aber man kann doch von ihr beginnen.

Was ist die Bedeutung eines Wortes? – Wie viele philosophische Fragen, so scheint auch diese ein wenig zweifelhaft. Man hört sie, und stutzt, und ist sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt sinnvoll stellen lässt.

Was ist die Bedeutung des Wortes „Hund“? – Mit dieser Frage hingegen, meint man, ist alles im Reinen. Sie handelt von etwas Konkretem, sie hat einen Gegenstand, einen Fokus, und sie liesse sich wohl auch beantworten (obwohl auch sie voller Tücken ist).

Aber die Frage nach der Bedeutung eines Wortes? Irgendeines, eines beliebigen? Nach dem Bedeutung-Haben von Wörtern? – Vor dieser Frage schreckt man unwillkürlich zurück. Sie macht den Eindruck, zu allgemein zu sein, zu unspezifisch, zu gross. Als hätte jemand falsch gefragt (wie etwa die Frage Welche Farbe hat die Welt? auch eine falsche Frage wäre).

Das Wort als Zeichen


Und dennoch hat jeder auf diese „falsche Frage“ eine Antwort. Selbst dann, wenn er sich die Frage niemals gestellt hat. Jedenfalls vermute ich das.

Es ist natürlich kaum möglich, das zu überprüfen, aber wenn ich zu einem x-beliebigen Menschen hingehe und ihm in groben Zügen erkläre, was ich mit meiner Frage nach der „Bedeutung eines Wortes“ (dem Bedeutung-Haben von Wörtern) meine, dann wird seine Antwort wohl ungefähr lauten: Die Bedeutung eines Wortes ist das, was es bezeichnet.

Es muss nicht genau diese Antwort sein, es ist durchaus möglich, dass ihr Wortlaut ein anderer sein wird, etwa: Die Bedeutung eines Wortes ist das, worauf es sich bezieht. Aber das tut nichts zur Sache, denn es steht immer die gleiche Vorstellung dahinter, nämlich die, dass ein Wort ein Zeichen ist für einen Gegenstand. Und diese Vorstellung ist ja auch erst einmal naheliegend, wenn man bedenkt, dass der sprachliche Ausdruck „Angela Merkel“ sich zur Person Angela Merkel in einer ähnlichen Weise verhält, wie sich das Zeichen „Achtung Kurve“ zur vorausliegenden Biegung einer Strasse verhält ... – aber halt, sind die Verhältnisse hier wirklich ähnlich? Und was heisst es überhaupt, dass etwas ein Zeichen von etwas ist? Hier gehen die Probleme schon los, und sie werden natürlich niemals enden.

Was ich sagen will, ist dies: Es gibt so etwas wie eine Standard-„Theorie“ darüber, was die Bedeutung eines Wortes ist, und diese Standardtheorie ist die Zeichentheorie, und sie existiert unabhängig davon, ob man die Frage nach der Bedeutung von Wörtern als eine sinnvolle, stellbare Frage erachtet, oder im Gegenteil als eine „falsche Frage“, eine allzu zwielichtige Frage, auf die man sich nicht einlassen sollte. Und die Zeichentheorie besteht eben darin, das Wort als ein Zeichen anzusehen, die Bedeutung als das Bezeichnete, und sich das Verhältnis zwischen beiden ähnlich vorzustellen wie wenn ein Schild an einen Gegenstand gehängt wird: Du bist ein Soundso (die Person X, eine Kurve, ein Hund).

(Ich habe hier immer den Drang das Wort „Theorie“ in Anführungsstrichen zu schreiben – nicht, weil ich die gemeinten Gedankengebilde lächerlich oder minderwertig fände, sondern weil es mir angemessener scheint, sie als Ansätze zu betrachten, als ggf. sehr weit ausgearbeitete Ansätze, um sie nicht mit anderen, strengeren, etwa naturwissenschaftlichen Theorien zu vermengen. Aber da es sich eingebürgert hat, von „Bedeutungstheorien“ zu reden, übernehme ich diese Verwendung erst einmal.)

„Standard“ ist diese Theorie gleich im doppelten, nein, dreifachen Sinne: Zum einen aufgrund ihrer Verbreitung (ich nehme an, es ist die einzige Theorie, die jemand, der sich nicht aktiv mit Philosophie beschäftigt, zu diesem Thema überhaupt haben kann), dann, weil sie vermutlich die älteste von allen Bedeutungstheorien ist (sie findet sich – natürlich – bereits bei Platon, aber sie ist sicher sehr viel älter als das systematische philosophische Denken), und drittens, weil sie bis heute in den verschiedensten akademischen Disziplinen von der strukturalistischen Semiotik bis zur dekonstruktivistischen Literaturwissenschaft das Leitmotiv ist, wenn es um Fragen der Bedeutung von Sprache geht.

Bedeutungstheorien


Welche anderen Bedeutungstheorien gibt es? Ihre Anzahl ist unüberschaubar, und bei vielen vermischen sich unterschiedliche Ansätze miteinander, aber was die Philosophie bisher hervorgebracht hat, kann man grob in vier Klassen aufteilen.

Es gibt erstens die Zeichentheorien im engeren Sinne (technisch: „Referenztheorien“ ), die sagen, das sprachliche Zeichen steht unmittelbar für ein Phänomen in der realen Welt; zweitens die „Ideentheorien“ (Repräsentationstheorien, mentalistische Theorien), die sagen, das Zeichen steht nicht für die Sache selbst, sondern für eine Vorstellung in meinem Kopf (was zum Beispiel den Umgang mit abstrakten Inhalten wie „Freiheit“ vereinfacht); drittens die Verwendungstheorien, die sagen, die Bedeutung eines Wortes liegt in seiner Verwendungsweise (und damit die Bedeutung sozusagen von einzelnen Kopf in die Sprechergemeinschaft, ins Kollektive verschieben, Beispiel: Wittgensteins Sprachspiele); und schliesslich viertens diejenigen Theorien, die sagen, „Bedeutung“ kann überhaupt immer nur ein ganzer Satz haben, und man kennt dessen Bedeutung, wenn man weiss, unter welchen Bedingungen der Satz wahr ist und unter welchen falsch.

Wenn man das auch einmal als Formeln darstellt, dann kommt man zu:

1.      Die Bedeutung eines Wortes ist das bezeichnete Ding
2.     Die Bedeutung eines Wortes ist die mit ihm verbundene Vorstellung
3.     Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch
4.     (Die Bedeutung eines Wortes spielt keine Rolle und) die Bedeutung eines Satzes sind seine Wahrheitsbedingungen

Jeder dieser Ansätze wirft natürlich selbst wieder zahlreiche Fragen auf, und zwar vermutlich mehr, als er zu klären imstande ist, aber das ist so oder so eine häufige Eigenheit philosophischer Theorien

Ein möglicher Ansatz № 5


Und zu diesen vier Typen von Bedeutungstheorien will ich jetzt einen fünften Typ hinzufügen, gewissermassen einen „Ansatz № 5”, beziehungsweise ich will ihn erst einmal erkunden, und schauen, ob er tatsächlich zu neuen – oder, was mir fast besser gefällt: frischen „Theorien“, neuen (frischen?) Perspektiven führen kann:

5.     Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht

Natürlich muss man das Rad nicht zweimal erfinden, und sowieso kommt es in der Philosophie kaum einmal vor, dass eine Idee durch und durch „neu“ ist. Auch meine ist das ja nicht, es gibt Verwandtschaften zu Ideen aus der Hermeneutik, aus der Rhetorik, aus den Kommunikationswissenschaften. Und sogar mit dem Typ 4 der bestehenden Bedeutungstheorien verbindet meine Formel das eine oder andere (insofern, als es in beiden Fällen ums Verstehen geht, bei meiner Formel jedoch nicht primär ums Satz-Verstehen und auch nicht um Wahrheitswerte).

Aber soweit ich es überblicken kann, hat in der Tat noch niemand die Frage des Bedeutens konsequent vom Wort-Verstehen her durchdacht.

Verstehensweisen: Entendenzen


Gut. Jetzt einmal versuchen, etwas Fleisch an den Knochen zu bekommen. Was steht gedanklich hinter dieser Formel? Was heisst „Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht“? – Es heisst zunächst einmal, dass Bedeutung eben nichts mit irgendeiner „Zeichenhaftigkeit“ zu tun hat (die Zeichen-Theorie schien mir sowieso immer als die schwächste alle Bedeutungstheorien, als drücke sie sich um den Kern der Frage herum). Es heisst weiter, dass wir den Fokus auf das Wort zwar beibehalten (also nicht gleich nach der Satzbedeutung fragen), die Bedeutung aber auch nicht als die Verwendungweise des Wortes betrachten, wie die Theorien des dritten Typs, sondern als seine Verstehensweise.

Konkret: „Hund“ bedeutet Hund nicht, weil es irgendwie dieses Tier „bezeichnet“ (oder diese Klasse von Tieren), und es bedeutet Hund auch nicht, weil wir – als Mitglieder der Sprechergemeinschaft – eben alle „Hund“ in einer spezifischen Art und Weise verwenden (obwohl das Verwenden in der Tat eng mit dem Verstehen zusammenhängt). Sondern „Hund“ bedeutet Hund, weil jeder Sprecher meiner Sprache das Wort „Hund“ auf eine bestimmte Weise versteht, und zwar auf eine, von der ich annehmen kann, dass sie derjenigen ähnlich ist, wie ich es selbst verstehe. Damit kann man die Formel bereits einmal umformen zu:

Die Bedeutung eines Wortes ist seine Verstehensweise

Verstehensweisen: Das ist kein schlechter Ausdruck. Allerdings kommt irgendwann der Punkt, an dem man es technischer benennen muss – das Wort „verstehen“ hat in der Umgangssprache zu viele verschiedene Bedeutungen (kann auf zu viele verschiedene Arten und Weisen verstanden werden), als dass man mit ihm in dieser spezifischen Richtung, die ich im Sinn habe, verlässlich würde weiterdenken können. Man muss ein Konzept bilden, das ganz auf den benötigten Zweck zugeschnitten ist, und das geht nur durch Verwendung eines neuen, neutralen, unbelasteten, „frischen“ Worts.

Was ich hier schon einige Zeit im Kopf habe: Entendenz. Von französisch entendre, „verstehen“. Man könnte auch sagen „ein Verstehen“ oder „eine Verstehung“, aber Entendenz ist erstens neutraler, zweitens transportiert die -enz-Endung, dass es sich um einen Prozess handelt: einen Verstehens-Vorgang, eine Vorgangs-Weise.

Und drittens – und das ist das Entscheidende – hat entendre eine Doppelbedeutung von einerseits verstehen, andererseits hören, die kein anderes vergleichbares Verb in einer anderen Sprache (aus meinen Referenzen DE, EN, RU, FR, IT) besitzt. Und dieses Hören schliesst kurz mit den Thema Klang, das ja sowieso noch die eine oder andere Rolle spielen wird. (Siehe gestern meine Frage danach, ob Zusammenhänge zwischen den Formeln gibt. Natürlich, gibt es).

Wenn man jetzt also Entendenz setzt, dann nimmt die Bedeutungs-Formel die Form an:

Die Bedeutung eines Wortes ist seine Entendenz

Und das ist etwas, womit man weiterarbeiten kann, und damit will ich es denn auch erst einmal bewenden lassen für heute.

In-ausserhalb


Ich schaue das Obige durch und denke: Wenn es jemand liest, der oder die sich nie mit der Frage der Bedeutung beschäftigt hat, muss es ihm leer, haarspalterisch oder nutzlos vorkommen. Vain, würde man wohl auf Englisch sagen.

Was sind das für komische Überlegungen – ob „die Bedeutung eines Wortes“ sein Bezeichnetes ist (sein „Signifikat“ in der realen Welt), sein Gemeintes (das „Konzept“ im eigenen Kopf), seine Verwendung (im Sprachkollektiv), seine Rolle in einem wahren oder falschen Satz oder seine „Entendenz“ oder Verstehensweise? Warum sollte man sich darüber den Kopf zerbrechen? Haben diese Fragen irgendetwas mit den wirklich wichtigen Dingen zu tun?

Ich könnte so ein Befremden gut verstehen. Dabei bin ich selbst ja überzeugt, dass diese Überlegungen überhaupt nicht vain, sondern ganz und gar relevant sind, und zwar unter anderem für ganz konkrete, ganz aktuelle gesellschaftliche Streitfragen wie die nach der geschlechtergerechten Sprache oder nach dem politischen Gehalt von sprachlichen Ausdrücken.

Aber der Weg von der Entendenz-Formel zu solchen Anwendungen ist weit, und ausserdem geht es mir ja nicht nur um die Anwendungen, sondern auch darum, etwas grundsätzlich zu durchdenken und es womöglich auch teils anders zu denken als bisher. Denn keiner der Ansätze 1 bis 4 scheint mir wirklich befriedigend. Mein möglicher Ansatz № 5 wird das vermutlich auch nicht sein, aber wenn er sich als anders unbefriedigend herausstellen sollte, dann wäre schon etwas sehr Wichtiges erreicht.

Und wenn, andersherum, jemand, der ebenfalls „vom Fach“ ist, diese Notizen lesen würde? Er oder sie müsste wohl ein wenig den Kopf schütteln. Ich jedenfalls würde das tun, denke ich.

Schliesslich muss man ja, als jemand, der mit der Philosophiegeschichte und mit den aktuellen fachlichen Diskussionen vertraut ist, fast zwangsläufig denken: Das ist doch eine arg primitive, holzschnittartige Abhandlung dieser komplizierten Fragen, die der Autor hier liefert. Man muss doch erst einmal all die Fallbeispiele, Argumente, Gegenargumente durchgehen, die zu jedem dieser Ansätze erarbeitet worden sind, bevor man überhaupt einen Gedanken an etwas Neues verschwenden kann! Und wie will dieser Mensch mit seiner Entendenz-Theorie so schwerwiegende Probleme lösen wie das der Referenzialität – der Tatsache, dass Worte eben nicht nur von Menschen verstanden werden, sondern auch einen ganz handfesten Bezug auf die reale, materielle Welt haben?

In der Tat, dieses Problem sehe ich bereits am Horizont drohen, wie viele andere auch. Aber ich habe auch ein grobes Vorgefühl, wie ich mit ihm umgehen könnte.

Sowieso: Ich bin, als Person, nicht in der Fachwelt. Das heisst, ich bin es und ich bin es nicht: Ich befinde mich in einer Art von Doppelraum, in einem Innen-Aussen. Und das ist für mich auch der richtige Ort. Derjenige, an dem ich denken kann, wie ich es für sinnvoll halte: informiert, einerseits, aber eben auch ein bisschen riskant und unbekümmert. Ganz abgesehen davon, dass ich hier eben auch erst einmal nur für mich schreibe.

Das Kuriose, oder das Frappierende, ist ja, dass dieses Denken für mich in der Tat funktioniert. Dass ich tatsächlich mein Sprechen und mein Denken begleiten lassen kann von der Formel Die Bedeutung eines Wortes ist, wie man es versteht und davon etwas habe, einen Gewinn habe: nämlich mir besser vorstellen zu können, was Sprache ist und was Sprache macht und was wir Sprecher mit Sprache machen. Und wenn das so ist, wenn mir diese Formel ganz konkret etwas bringt, dann muss ich ihr nachgehen. Schluss für heute.︎︎︎



antipublik


03.09.
Wenn ich das hier alles eh schon auf einem online-notepad schreibe, dann könnte ich es natürlich im Prinzip auch für Leser von aussen freischalten. Einerseits. Denn immerhin geht es hier ja auch um Dinge, die ich sowieso gelegentlich im Netz diskutiere oder die auf die eine oder andere Weise in Diskussionen mit einfliessen (z. B. die Entendenz).

Aber andererseits ist es eben auch etwas ganz anderes. Ich schreibe hier, um mir selbst Rechenschaft zu geben, was in meinem Kopf vor sich geht, um den Gedanken Struktur zu geben, um sie zu entwickeln, um mich selbst in ihnen besser zurechtzufinden. Ich schreibe für mich, nicht für andere.

Und dann sind diese Sachen hier nichts, was man beim Surfen durchs Netzen einfach mal so lesen könnte wie einen facebook- oder auch einem Blog-Post. Hier sollen ja Stränge entstehen, grossflächige Kontinuitäten, ein Gedanke wie der der Entendenzen wird mich lange beschäftigen, und es hätte keinen Sinn, Sachen zu posten, die dann nicht als in sich abgeschlossener Beitrag gelesen werden können.

Und schliesslich ist es mir auch, glaube ich, schlicht zu privat. Was mache ich denn hier? Das hier ist mein Versuch, mich denkend in der Welt zu orientieren, und zwar in Rückgriff auf Philosophie, verschiedene Wissenschaften, auch verschiedene Dinge aus der Kunst, der Literatur – ich habe immer dieses Bedürfnis gehabt, zu denken, oder durch denken zu verstehen. Immer geschrieben, immer gelesen, das zweite um Grössenordnungen mehr als das erste, und ich will nun einfach endlich eine Ordnung in all das bringen, und das auf den Prüfstand stellen, was meinen Kopf besiedelt. Auch, wenn diese Ordnung sich womöglich gar nicht aufrechterhalten lässt, wenn sie wieder zusammenbrechen sollte.

Vielleicht kann einmal etwas anderes daraus sich abspalten, abknospen sozusagen, ein Artikel vielleicht, zum einen oder anderen Thema, das muss man sehen, aber erstmal ist es nur ein Erkundungs-Raum, ein Raum für das Vorläufige, das Vorläufige für mich.

Und ausserdem: Dass es mir hier um Themen geht, die ich sonst auch öffentlich diskutiere, ist ja auch nicht unbedingt richtig. Ich schreibe hier ja auch, was ich eben nicht öffentlich sagen würde – nicht, weil ich dazu stehen würde, sondern weil es einfach nicht derart ist, dass die totale Öffentlichkeit über es (und seitdem es das Internet gibt, ist jede Öffentlichkeit eine totale Öffentlichkeit) – – – dass es der totalen Öffentlichkeit standhalten würde. Denn man kann alles fehllesen.

Der öffentliche Raum ist laut, schnell, ungedämpft. Die sozialen Medien, die Medien überhaupt – sie sind ein Getriebe, ein Getöse, ein ständiger Rabatz. Das hier ist etwas anderes. Ein Kämmerlein. Ein einsamer Schreibtisch. Eine stille Lichtung, kein Mensch rundherum, nur den Notizblock auf den Knien. Das Gegenteil von öffentlich. Und so nenne ich es jetzt auch. Anti-Publik.︎︎︎




Der Spuk des Guten


04.09.
Heute Nacht in einem dieser Halbwach-Zustände, die sich irgendwie derzeit häufig ungerufen einstellen, Gedanken zum Thema Ethik, bzw. Ethik-nicht-Ethik. Also jetzt deshalb:

Sollen und Wollen


Ich habe zwei Formeln:

Sollen ist simuliertes fremdes Wollen 

Gut ist, sich zu fragen, was gut ist

Die erste Formel, die Sollens-Formel, ist eine Variante dessen, was technisch voluntaristische Naturalisierung heisst: Zurückführung des moralischen Sollens (der Normativität) auf das psychologische Phänomen des Wollens (oder auf den Willen). Sie unterscheidet sich allerdings davon im Aspekt des „Simulierens“.

Genauer gesagt: Auch in den etablierten Theorien dieses Typs ist Sollen fremdes Wollen, sie gehen aber davon aus, dass das Wollen des Anderen ein an mich gerichtetes Wollen ist: Der andere will, dass ich ... – und ich kann diesem Wollen, das für mich als eine Forderung, ein Sollen in Erscheinung tritt, stattgegeben oder nicht.

In meiner Spielart der Formel wird das Wollen des Anderen allgemeiner verstanden: Hinter ihr steht ja die Idee, dass dieses „fremde Wollen“ eben nicht unbedingt an mich gerichtet sein muss (der Andere kann zum Beispiel Gesundheit wollen, aber nicht von mir, sondern generell), dass ich aber, wenn mein Handeln mit seinen Wollens-Zielen in Wechselwirkung tritt, sein Wollen mit in Betracht zu ziehen habe. Ich nehme also dieses Wollen des Anderen zur Kenntnis und mache es, insofern mein Handeln den anderen betreffen könnte, zu einem Teil meines eigenen Wollens, ich berücksichtige, „simuliere“ es. Zum Beispiel, indem ich Handlungen unterlasse, die dem Gesundheit-Wollen des Anderen hindernd entgegenstehen könnten. Das ist ja gerade ein sehr aktuelles Thema, wenn man an Diskussionen zu den Pandemie-Massnahmen denkt.

Es geht also in dieser Formel, in dieser Variante voluntaristischer Sollens-Formeln, um das Mit-Wollen des fremden Wollens in den Fällen, in denen mein Handeln es tangiert – unter einer Reihe von Bedingungen, über die man sich noch ausführlich Gedanken machen muss. „Simulation“ heisst dann: Mit einem Teil meines Wollens in das Wollen eines anderen hineinzusteigen – egal, auf wen oder was sich dieses Wollen bezieht.

Dieser kleine Unterschied, also nicht das an mich gerichtete Wollen des Anderen zu betrachten, sondern mein Mit-Wollen seines Wollens, ungeachtet von dessen Ziel und Adressaten, bringt, glaube ich, recht weitgehende Konsequenzen mit sich. Aber damit weiterzukommen erfordert viel technische Feinarbeit und vermutlich auch noch einige Lektüren (interessant z. B. in dem Zusammenhang: Hans Krämer, Integrative Ethik). Das deshalb erstmal noch zurückgestellt.

[note to myself: Auch die Formen von Sollen im Blick haben, die eben kein simuliertes fremdes Wollen sein könne, etwa wenn ich frage: Was sollen diese Nieten hier auf deiner Jeansjacke (wozu „dienen“ sie)? – ein teleologisches Sollen.]

Prä-Ethik


Dann erst einmal von der anderen Formel her:

Gut ist, sich zu fragen, was gut ist

Das klingt zunächst wie eine Tautologie, wie eine Leerformel. Ist es aber nicht, jedenfalls nicht ganz. Tautologisch wäre: Gut ist, was gut ist. In der Formel hier kommt das sich fragen hinzu.

Und damit hat das Ganze einen Gehalt, wenn auch einen sehr offenen. Zum Beispiel: In Fällen, in denen mehrere Handlungsoptionen bereitstehen, ist es erst einmal gut, sich selbst daraufhin zu befragen, welche von diesen Optionen man für eine ethisch gute hält, die Optionen also nicht ausschliesslich in Hinblick auf, sagen wir, ihren unmittelbaren, praktischen Nutzen zu bewerten. Das Sich-Fragen entspricht also dem „überhaupt erst einmal in Gang Setzen“ der ethischen Erwägung (der ethischen Reflexion oder Introspektion oder vielleicht auch Meditation, je nach dem, was im konkreten Fall angemessen ist).

Das mag wenig erscheinen, aber ich bin überzeugt, dass dieser Schritt zur „ethischen Erwägung” in der Realität eben häufig gar nicht stattfindet. Oder er findet statt, bricht aber beim erstbesten Ergebnis bereits ab, während die Formel betont, dass gerade im Sich-Fragen, also auch im In-Frage-Stellen einer scheinbaren Gewissheit, der eigentliche ethische Wert besteht.

Wenn man dem Ganzen einen technischen Anstrich geben möchte, kann man sagen: Gut ist, sich zu fragen, was gut ist ist zum einen eine Initialformel (weil sie gewissermassen den Auftakt zum ethischen Erwägen gibt), sie ist zum anderen aber auch eine Persistenzformel, eine Formel des Fortsetzens und Beharrens, oder genauer eine Interrogations-Persistenzformel, eine Formel des Beharrens beim Fragen. Und das ist vielleicht sogar der wichtigere der beiden Aspekte. Denn er betont, dass ethische Entscheidungen häufig unter Bedingungen grosser Ungewissheit stattfinden, und dass man sich deshalb nicht mit der erstbesten Einschätzung, was denn nun „gut sein könnte“, zufriedengeben sollte. Die könnte, salopp gesagt, allzuleicht auch nach hinten losgehen.

Gerade wenn man sich viel mit ethischer Theorie beschäftigt, unterliegt man der Versuchung, sich der Illusion hinzugeben, dass jeder Mensch sich dieselben Fragen stellt, mit denen man sich selbst gerade befasst, und in ähnlicher Intensität. Das anzunehmen sehe ich aber keinen Anlass. Die meisten Menschen – oder nein, nehmen wir ein konkretes Beispiel, sagen wir: Ein Mensch in einer Machtposition, in einer bedrohten Machtposition, sagen wir: ein Diktator, dessen Handeln potenziell Auswirkungen auf viele andere Personen hat und damit ethisch relevant ist, stellt sich vermutlich ganz andere Fragen. Etwa: wie kann ich meine Macht gegen Bedrohungen absichern? Die Frage „was gut ist“ („gut“ immer in einem ethischen Sinne verstanden), wird für ihn eine geringere Rolle spielen. Und ich denke jetzt natürlich an die aktuelle Lage in Osteuropa.

Aber auch wir Nicht-Diktatoren stellen uns ja nicht stündlich und minütlich, bei jedweder Alltagshandlung oder Alltagsentscheidung, die Frage, „was gut ist“. Das ist auch sicher nicht immer erforderlich, man muss nicht stets mit der Lupe in der Hand die ethische Komponente in jeder Handlung suchen, und es ist wohl auch nicht anstrebenswert (oder auch nur möglich), ein „durch und durch guter Mensch” zu sein. Das ändert aber nichts daran, dass die Grundvoraussetzung für Ethischsein überhaupt erst einmal darin besteht, seine Handlungen oder sich selbst unter ethischen Gesichtspunkten zu betrachten und zu befragen. Darauf, dass das tatsächlich keine Selbstverständlichkeit ist, gibt vielleicht die derzeitige seltsame Verwendung des Ausdrucks „Gutmensch“ einen Hinweis. Oder ist er eher auf die gemünzt, die glauben, ganz und gar gut sein zu müssen?

So oder so, ich denke, die Formel Gut ist, sich zu fragen, was gut ist stellt in der Tat einen recht brauchbaren Ausgangspunkt dar, um sich über das Thema Ethik auf einer sehr basalen Ebene, einer Ebene unterhalb der technischen Details und der elaborierten Kasuistik ethischer Theorie, Gedanken zu machen. Die Formel selbst ist dabei vielleicht weniger eine eigentlich ethische als eine sub- oder prä-ethische. Aber als solche hat sie, denke ich, ihre Berechtigung. Denn das Basale, Einfache, das, was die Theorie vielleicht als selbstverständlich betrachtet, würde ich immer mit berücksichtigen wollen. Es geht der Theorie allzuhäufig durch die Lappen, ist im Leben und in der Praxis aber ja durchaus von Bedeutung.

„gut”


Natürlich steht und fällt die Formel mit dem Wörtchen „gut“. Aus der modernen ethischen Theorie ist es weitgehend verbannt. Man fragt stattdessen nach den Begründungen für ein Sollen (für eine Norm) oder nach den Geltungen von Werten, und das ist – vom jeweiligen Theorierahmen aus betrachtet – auch völlig korrekt und folgerichtig. Für ein pauschalisierendes „gut“, das immer irgendwie den Anspruch einer überzeitlichen, platonischen, metaphysischen Gültigkeit mit sich zu bringen scheint, ist da kein Platz.

Ich glaube aber dennoch, dass das Wörtchen „gut“ weiterhin seine Berechtigung hat, nur nicht als ein Adjektiv, das abgeleitet ist von einem abstrakten Begriff „des Guten“, sondern als eine Art Chiffre.

Eine Chiffre hat nicht im landläufigen Sinne eine „Bedeutung“. Man versteht sie nicht, indem man fragt: Was ist das? Was ist gut, das Gute? Sondern man versteht sie, indem man sich auf sie einlässt, sie aushorcht. Eine Chiffre, das ist nicht ein Zeichen im herkömmlichen Sinne, sondern eher ein Wink. Etwas, unter dem man sich vieles vorstellen kann, das Anlass zu vielen Assoziationen gibt, das ein ganzes Bündel, oder eine Konstellation, sehr unterschiedlicher und doch miteinander verbundener und verwandte Gehalte aufrufen kann.

Ein Wink hat keine Definition, und deshalb ist, wie ihn jemand deutet, mit welchen Gehalten er ihn verbindet, sicherlich eine recht individuelle Sache. Wenn ich mich in das Wörtchen gut vertiefe, wenn ich es aushorche, auskultiere, dann erscheint in meinem Inneren vielleicht eine Folge von Gehalten, oder es entsteht ein Raum aus Gehalten, durch den ich mich hindurch-vorstellen kann, etwas in der Art wie: gut – was über mich selbst hinausreicht – wo ich nicht allein ausschlaggebend bin, vielleicht nichtmal vor allem – was Folgen hat, die auch andere wünschen können – was zu tun hat mit Gerechtigkeit – mit Gleichheit – mit Achtung, mit Respekt – mit dem Gemeinsam-Leben – von Menschen, auch von anderen Lebewesen – gut: eine Art von Wärme – von Zärte – Vermeiden von Schaden – Vermindern von Leid – Mehren von Wohl – Mehren von Hoffnung – vielleicht vor allem von Hoffnung –

Das wäre natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Wenn ich es anschaue: Es hat einen etwas störenden Hauch von Pathos, das geht aber vielleicht nicht anders, wenn man solche sehr innerlichen, fast intimen Vorstellungsgehalte in einen ansonsten möglichst neutralen Text hineinzubugsieren will.

Zu welchen konkreten Handlungen oder Urteilen solche gut-Gehalte dann jeweils Anlass geben können, hängt natürlich von unzähligen Faktoren und Begleitumständen ab. Wer gut sein will, handelt sich eine Menge an Fragen und Problemen ein. Aber darum geht es in der Formel ja auch.

Ungefähr in so einem Sinne denke ich mir also das „gut“ in der Formel. Nicht als Verweis auf ein „substanzielles“, ausserhalb unserer selbst existierenden Gutes, sondern als einen Anlass, einen Wink, eine Chiffre, beim Gebrauch des Wortes Gehalte aufzurufen, die aus den verschiedensten Bereichen des Umgangs mit dem Ethischen stammen, und die rationalistische Nützlichkeits-Kalküle im Sinne des Utilitarismus ebenso umfassen können wie Elemente einer Tugend-Ethik oder, was mir wirklich von besonderem Stellenwert erscheint, den Aspekt des Hoffens, der doch immer irgendwie mit dem Guten und dem Ethischen verbunden ist.

Die Frage, warum man überhaupt gut sein wollen sollte (um sich dann weiterhin zu fragen, was gut ist), ist mit all dem noch nicht einmal angeschnitten. Aber ich bin mir sowieso nicht sicher, ob in diesen Dingen ausgerechnet die Begründung immer die Hauptsache ist. Ich muss nicht immer wissen, warum, damit mich etwas überzeugt.

Zwei Problem-Achsen


Ein solches Chiffre- oder Wink-artiges Verständnis von „gut“ bringt aber auch eine Reihe von Problemen mit sich, die man einmal systematisch und in Ruhe durchdenken muss (nicht jetzt). Vor allen Dingen sehe ich sie auf der Achse des Individuellen und des Kollektiven und auf derjenigen des Empfindens und des Urteilens.

Ein „gut“ im obigen Sinn, um das sich dann verschiedenartige, das Ethische orientierende Gehalte gruppieren oder das von diesen Gehalten angereichert wird, scheint in erster Linie etwas Individuelles zu sein. Das Aushorchen oder Auskultieren des Wortes findet schliesslich im eigenen Kopf statt, ebenso wie das ethische Abwägen eine individuelle Sache ist. Nun sind aber nicht alle ethisch relevanten Angelegenheiten auch individuelle Angelegenheiten – politische Entscheidungen von ethischer Bedeutung etwas werden kollektiv gefällt. Wieder anderes Sollen ergeht – ebenfalls nicht-individualistisch – aus der sozialen Praxis oder aus dem Diskurs heraus. Die Frage wäre also: Hat die Formel Gut ist, sich zu fragen, was gut ist auch einen Wert über das Individuelle hinaus, ist sie auch „kollektivistisch“ anwendbar?

Und auf der zweiten Problem-Achse: Eine solche Verwendung von „gut“ kann dazu verleiten, nicht die ethischen Probleme oder deren Bewältigung, sondern vor allem eine ethische Disposition im Sinn zu haben. In einer solchen Fokussierung auf das Ethisch-sein-Wollen (man könnte die Formel ja geradezu umformulieren zu: Ethisch ist, ethisch sein zu wollen) liegt aber eine beträchtliche Gefahr. Denn zum ethischen Urteilen braucht es mehr als nur die Bereitschaft, mit-menschlich, respektvoll, rücksichtsvoll usw. zu sein, und auch mehr als die, Kalküle der überpersönlichen Nützlichkeit, des Vermehrens von Wohl, der Verallgemeinerbarkeit usw. anstellen zu wollen. Man muss, damit die ethisch intendierte Handlung nicht verpufft oder sich gar in ihr Gegenteil verkehrt, auch hinreichend informiert sein über Begleitumstände und mögliche Konsequenzen, man muss überhaupt in vielerlei Hinsicht ein kompetentes Urteilsvermögen aufbringen, das seinerseits mit einem ethischen Impetus oder mit gut-sein-Wollen gar nichts zu tun hat, sondern seiner Natur nach eher kalt und berechnend ist.

Wie wir wissen, sind die Wege zur Hölle sind mit guten Vorsätzen gepflastert; davor, sie dennoch einzuschlagen, schützt die Formel vermutlich nur wenig. Aber das von einer präethischen, subtheoretischen Formel zu erwarten, wäre auch etwas zu viel verlangt. Es braucht eben, um über Ethik sinnvoll nachzudenken, auch noch einiges mehr.

Danebenschauen


Aber eigentlich wollte ich heute über etwas ganz anderes schreiben, das notiere ich jetzt noch kurz, bevor ich zuklappe. Was ich heute Nacht, in diesem Halbwach-Zustand, dachte: Die Ethik ist ein Spuk. Mit Spuk meine ich nicht „Phantom“. Ein Phantom wäre etwas, das nicht existiert, eine Illusion. Es gibt Autoren, und durchaus ernstzunehmende, die der Ansicht sind, dass es keine Ethik gibt oder sie keine Rolle spielt oder dass Ethik prinzipiell zu „nichts Gutem“ führen kann (die Antitheorie-Strömung, in ganz unterschiedlicher Weise John Caputo, Hans-Georg Moeller, natürlich Nietzsche, von Henning Ottmann gibt es diese „Negative Ethik“ ... ), aber darum ging es in dem „Traum“ (es war ja eigentlich keiner, es waren eher „plastische Gedanken“) nicht.

Kein Phantom also, sondern ein Spuk. Und mit Spuk meine ich – oder dachte ich mir heute Nacht – dass die Ethik zu diesen Dingen gehört, deren Anwesenheit man deutlich spürt, aber wenn hinschaut, sind sie nicht da. Also dass die Ethik – oder das Ethische, das wäre vielleicht der richtigere Ausdruck hier – einem sozusagen ein Kribbeln im Rücken macht, dass man ihren Atem im Nacken spürt, aber wenn man sich dann umdreht, dann ist dort nichts. Oder scheint nichts zu sein.

Oder – vielleicht ist das sogar das bessere Bild – die Ethik ist ein Spuk, weil man sie nur aus dem Augenwinkel sehen kann. Also am Rande des Gesichtsfelds ist sie da, aber sowie man den Blick hinwendet, nicht mehr. Sie lässt sich nicht fixieren, fokussieren. Man sieht sie sozusagen immer nur, wenn man danebenschaut.

Bewegung nimmt man ja zum Beispiel auch am Rande des Blickfelds wahr, und wenn sich dann herausstellt, dass dort eigentlich gar nichts war, das sich bewegen konnte, dann ist das sehr irritierend.

So oder so – was macht man, wenn die Ethik ein Spuk ist? Heisst das dann, dass man sich ihr überhaupt nicht kognitiv nähern kann? Dann wäre man wieder bei den Anti-Theoretikern, die Ethik entweder als nichtexistent ansehen oder als „in-intelligibel“, und die sind, denke ich, nicht auf der richtigen Spur. Aber wie nähert man sich kognitiv einem Spuk? ︎︎︎