Verschränkte Voraussetzungen


11.09.
Dass ich da gestern mit meinen Überlegungen zum Zusammenhang von Meinen und Verstehen in ein Problem hineingerannt bin, sollte mich nicht überraschen, denn dieses Problem ist ja nicht neu. Ich kenne es, seitdem ich versuche, meinen Themen, auf welche Weise auch immer, eine schriftliche Form zu geben. Es ist das
Problem der verschränkten Voraussetzungen. 

Ein Text muss linear sein, das Denken ist es nicht. Denken ist verzweigt, Denken ist simultan. Jedenfalls eine gewisse Art von Denken ist das – dasjenige Denken, das auf die Zusammenhänge ausgeht, das das Ziel einer Zusammenschau verfolgt, oder, was mir besser gefällt, das Ziel, die Dinge Zusammenzuhorchen: sie gleichzeitig zu hören, sich den ungeheuren, unerträglichen Dissonanzen auszusetzen, aber auch den unerwartet immer wieder auftauchenden Harmonien zu lauschen.

Es ist kaum möglich, eine solche verzweigte Struktur, die von sich aus nicht dem Schema A -> B -> C folgt, sondern in der A auf F bezogen ist, F auf D und W, D wieder auf A, W hingegen auf R etc. in einen linearen Text hineinzupressen. 

Das Internet schien dafür eine Lösung zu sein, denn das Prinzip der Hyperlinks, die an jeder beliebigen Stelle in einem Text ansetzen können, bringt eine Ähnlichkeit zur Verknüpftheit der Themen oder der Teilaktivitäten des Denkens mit sich. Die Vorstellung, das Internet sei eine Art collective mind, der hyperverknüpft, zugleich hyperdifferenziert, quasi-automatisch, von niemandem gesteuert und von niemandem überblickbar vor sich hin denkt, hat ja durchaus etwas für sich. Ein Teilnetzwerk wie die wikipedia, die die Verknüpfung zum sich selbst organisierenden architektonischen Prinzip macht, wäre dann ein Abbild des Gesamtnetzes im Kleinen. Aber wer würde die wikipedia lesen wollen, als einen Text, ein „Werk“, wer wäre dazu auch nur in der Lage?

Das Problem besteht immer darin, die netzwerkartige Struktur dessen, was im Kopf ist, in die Linearität hineinzuprojizieren, die das Papier fordert. Oder der Bildschirm.

Und das Problem wird verschärft dadurch, dass, wenn es um Denkaktivität geht, die im Text selbst erst vollzogen werden, die Verknüpfungen nicht einfach Erweiterungen sind, der „Link“ (sei er gedacht oder ausgeschrieben) also nicht einfach eine read more-Option anbietet, sondern die verknüpften Materialien oder Denkbewegungen bilden füreinander Voraussetzungen. Es ist nicht einfach A auf F bezogen, F auf D und W, D auf A usw., sondern A setzt F voraus, auf eine absolut fundamentale Weise, A kann ohne F nicht nur nicht verstanden, nicht nur nicht formuliert, sondern A kann ohne F noch nicht einmal gedacht werden, und, was die Sache noch vertrackter macht, F in vielen Fällen eben auch nicht ohne A. 

Es gibt innerhalb des Ganzen (das zwar ein entstehendes Ganzes ist, aber ja auch ein vorbereitetes Ganzes) tiefe, gegenseitige Voraussetzungsverhältnisse, die nicht in eine Nacheinander auflösbar sind: A kann nicht gedacht oder gesagt werden ohne F; F kann nicht gedacht oder gesagt werden ohne A. Wenn man es ganz genau nimmt, dann kann man im Grunde gar nichts sagen oder denken, denn es beklemmt sich alles. Daher darf man es eben nicht ganz genau nehmen.

(Das Wort „vorbereitet“ im vorigen Absatz: Darüber einmal weiter nachdenken. Denn das Interessante ist ja, dass ein Gedanke, um überhaupt aufs Papier kommen zu können, zuvor auf eine vage Art und Weise „vorgedacht“ werden muss, auf eine Weise, die überhaupt nichts mit dem klar und deutlich von Descartes zu tun hat, und gerade in diesem Vor-Denken, das auch vor-begrifflich ist oder in dem sich die Begriffe zumindest noch nicht stabilisieren, können Gedanken erstens neu entstehen, zweitens sich fast widerstandslos über weiter Distanzen zueinander in Beziehung setzen. Das vorbereitende Vordenken kennt sozusagen die Gesetze des Raumes nicht, und es kennt auch keine Zeit, denn es kann weitgehend alles gleichzeitig stattfinden.)︎︎︎