Was man wollen soll


09.10.
Ich hatte diese Woche spontan diesen Post auf facebook geschrieben  mit dem Titel DAS WOLLEN BESTIMMT DAS VERSTEHEN. Manche würden zu dieser „Überformung durch das Wollen“ bias sagen, das ist mir aber zu technizistisch. Es macht nicht die Gewalt des Wollens deutlich, die sich hier auswirkt. Und manche würden auch von „Erkenntnis“ reden, ich bleibe aber bei Verstehen, denn man kann nicht eine falsche Erkenntnis haben, wohl aber ein falsches Verstehen, und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend.

Etwas so-hinwollen


Der Post zeichnete ein Bild, eine Art Schattenriss davon, dass man die Dinge versteht, wie man sie will. Wie entscheidend gerade dieser Ausdruck ist – dass man etwas so und so will – wurde im Post nicht klar, und es war kein Platz dafür, das zu erläutern. Ich sage ja bewusst nicht, man will, dass etwas so und so sei, obwohl das die übliche Ausdrucksweise wäre. Ich sage man will etwas so und so, und darin liegt ein sprachlich kleiner, inhaltlich aber grosser Unterschied. 

Wollen, dass etwas so und so sei, ist ein wünschendes Wollen. Der Wunsch besteht darin, dass man wünscht, etwas möge sich als so und so herausstellen. Der Wünschende (oder Wollende) ist dabei also eher passiv gedacht: Die Welt wirft ihr Los, und wenn alles gut geht, bin ich der Gewinner. Die Idee der bias bringt dann etwas mehr Aktivität des Subjekts ins Spiel, nämlich zumindest die einer aktiven (und parteiischen, verzerrten) Selektion der „Angebote der Welt“, aber diese Aktivität wird nur halbherzig dem wünschenden Wollen aufgepropft.

Anders ist das beim etwas so Wollen. Dieses Wollen ist von vornherein ein gestaltendes Wollen. Ich will etwas so – das Modell dafür findet sich nicht im passiven Hoffen auf den Ausgang eines stochastischen Prozesses, sondern in der aktiven Tätigkeit, am deutlichsten in der künstlerischen. Wenn ich mich zum Beispiel als Musiker an mein Instrument setze und etwas spiele und ich bin unzufrieden damit, was heisst das? Es heisst, dass das, was ich spiele, nicht ist, wie ich es will. Denn ich will es so und so – es kommt so aber nicht heraus. Bis ich es dann, nach mehrfachen Probieren, Experimentieren usw., mehr und mehr so hinbekomme. Der Vorgang, der auf dem Weg vom Misserfolg zum Erfolg stattfindet, besteht also gewissermassen darin, dass ich es so hinwill. Das Wollen hat, dadurch, dass ich will und gemäss diesem Wollen tue, einen unmittelbar gestaltenden Effekt.

Oder, vielleicht ist das das bessere Beispiel: Ein Maler, sagen wir, ein abstrakter Maler, bringt die Farbe auf seine Leinwand. Er hat natürlich eine Konzeption seines Bildes (oder jedenfalls seiner Methode) und auch gewisse Gründe für diese Konzeption, aber der Akt des Malens besteht im So-Hinwollen der Farbe. Man wünscht nicht, dass der Farbauftrag so und so sei und wartet dann, bis aus heiterem Himmel etwas mit der Farbe geschieht, damit man aus verschiedenen Versionen diejenige auswählen kann, die dem Wollen entspricht. Man wählt auch nicht, jedenfalls in den meisten Fällen nicht, aus einem Arsenal von künstlerischen Mitteln dasjenige aus, das man für angemessen hält, um ein Darstellungsziel zu erreichen, wie man in einem Baumarkt aus dem Regal entweder einen Hammer oder eine Bohrmaschine mitnimmt, je nach dem, was es im Haus zu werkeln gibt. Der Weg vom Wollen zum Tun ist ein direkterer. Man tut wollend, und damit stellt sich das Ergebnis ein. Das Wollen ist bereits das Tun oder es ist jedenfalls fast bereits das Tun.

Und so ist es auch beim Einfluss, den das Wollen auf das Verstehen hat. Das Verstehen wird vom Wollen unmittelbar so-hingewollt, etwas wird so-verstanden kraft des Wollens.

Kein Konstruktivismus


Das als erstes. Als zweites: Wer den Post oberflächlich liest, kann meinen, ich vertrete einfach einen Konstruktivismus, also eine Position, die, vereinfacht, sagt: die Wahrheit wird gemacht (und folgerichtig gibt es dann nicht „die“ Wahrheit, sondern ihrer mehrere).

So ist es aber nicht. Natürlich tragen Realismus („die Welt ist, wie sie ist“) und Konstruktivismus („die Welt ist für uns, wie wir sie uns machen“) seit jeher einen heftigen Konflikt miteinander aus, aber ich schlage mich in diesen Konflikt nicht auf die eine oder auf die andere Seite. Denn beide Seiten haben Recht – je nach Anwendungsgebiet. Und deshalb mache ich die Frage Realismus oder Konstruktivismus abhängig vom Material, mit dem das Verstehen (das vom Wollen beeinflusste, modulierte, dirigierte, bestimmte Verstehen) es zu tun hat.

Ich hatte da im Post geschrieben: „Die Frage ist, was das Material hergibt“, und:  „Wer Sars-CoV-2 als eine Schöpfung von Bill Gates versteht, weil er es so will, der »versteht« zwar etwas, aber dieses Verstehen ist ein Fahrrad aus Ton“ (vorher ging es darum, was sich aus Ton formen lässt und was halt nicht – das, was sich nicht formen lässt, wird dem Material nicht gerecht, es überdehnt, sprengt dessen Möglichkeiten). Dieser Verweis aufs Material ist es, was meine Position abgrenzt gegen den üblichen Konstruktivismus. Die Kunst liegt darin, die Grenzen des Materials auszuloten (auch das ist aus dem Post).

Manches Material zieht enge Grenzen – dann kann es auch nicht viele verschiedene Möglichkeiten des Verstehens geben, im Extremfall nur eine einzige. Wenn das Material, sagen wir, unser Planet ist, oder genauer: die Frage nach dessen Form, dann kann es nur ein einziges sinnvolles (richtiges, wahres, gutes, taugliches ...) Verstehen geben, nämlich das, dass diese Form eine runde ist. Wenn aber das Material heisst: „die Auswirkungen der Klimakrise“, dann ist das Spektrum der möglichen (sinnvollen, richtigen, guten, tauglichen, „wahren“ ...) Verstehensweisen gross. Dann gibt es tatsächlich mehrere „Wahrheiten“, die nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, und dann ist das Verstehen tatsächlich in ausserordentlichem Masse dem Wollen unterworfen.

Die Rolle des Wollens wird also umso geringer, je enger die Grenzen sind, die das Material vorgibt. Diese Grenzen sind aber nie definitiv zu bestimmen, deshalb müssen sie ausgelotet werden und deshalb wird auch immer über sie gestritten werden.
 

Das fremde Wollen überhaupt


Jetzt aber zu dem Thema, um das ich mich heute hier kümmern wollte. Ich hatte in meinem Post, mit einem vielleicht etwas kryptischen ethischen Pathos, am Ende geschrieben:

Was man nun aber sinnvollerweise wollen sollte, das ist die grosse Frage. Vielleicht gilt ihrer Beantwortung die eigentliche Sehnsucht.

Was man nun aber sinnvollerweise wollen sollte – allerdings, das ist eine Frage, und was für eine! Es ist eine der Varianten, in denen man die ethischen Kernfragen formulieren kann, die Fragen danach, was gut ist, wie man gut und richtig lebt oder wie auch immer man sie in Worte fassen will.

Es taucht übrigens auch hier wieder dieses Wort sinnvollerweise auch, das sich in letzter Zeit häufiger in meine Notizen einschleicht, nicht ohne Grund. Aber setzen wir es erstmal in Klammern. Man kann statt dessen auch sagen: Was man überhaupt wollen sollte, das ist die Frage.

Und meine Frage ist jetzt, wie weit man der Frage, was man überhaupt wollen sollte, mit der Formel beikommen kann: Sollen ist simuliertes fremdes Wollen.

Simuliertes fremdes Wollen


Ich hatte letzten Monat begonnen, mich mit dieser Formel auseinanderzusetzen (anderes Material dazu wartet noch darauf, in eine Form gebracht zu werden).

Wenn man einmal von der – bisher sehr kursorischen – Bestimmung ausgeht, dass moralisches Sollen (mein moralisches Sollen, die Tatsache, dass ich etwas soll) durch das Berücksichtigen, Inkorporieren, „Einpreisen“ des Wollens anderer Menschen zustandekommt (und zwar des „respektablen“ Wollen, aber diesen Punkt muss ich ebenfalls noch entwickeln), dann fragt sich: Ist das nur in konkreten Fällen so – wenn etwa das Wollen eines Verunglückten, dass ihm geholfen werde, zu meinem Sollen wird, ihm zu helfen? Oder hilft einem diese Formel auch bei der generellen Sollens-Frage weiter, bei der, was ich überhaupt soll, mehr noch, was ich überhaupt wollen soll?

Ich stelle mir das derzeit ungefähr so vor. Was ich wollen soll (überhaupt wollen soll), fliesst tatsächlich daraus her, was andere wollen (und zwar aus dem, was sie respektabel wollen, und um respektabel zu sein, muss ein individuelles Wollen wiederum andere, fremde Wollen in Betracht ziehen und inkorporieren). Es gibt keine andere Grundlegung des Sollens. Kein göttliches Gesetz sagt uns, was wir wollen sollen, auch kein Natur- und kein Verstandesgesetz. (Dass die Formel Wollen ist simuliertes fremdes Wollen dennoch einiges mit goldener Regel, kategorischem Imperativ und allgemein mit Reziprozität zu tun hat, liegt auf der Hand.) Das eigene Sollen ist immer irgendwie (!) ein Integral fremden Wollens.

Ein unmögliches Integral


Im „Integral“ – wie auch im „irgendwie“ – liegt natürlich der Haken bei der Sache. Um zu einer Einschätzung des Sollens überhaupt zu gelangen, müsste ich alle fremden Wollen in Betracht ziehen. Und zwar alle überhaupt. Und das heisst nicht nur, die aller derzeit existierenden Menschen (was bereits unmöglich genug ist), sondern auch die aller zukünftig existierenden, ausserdem die quasi-Wollen zumindest einiger mit höheren Strebensfähigkeiten ausgerüsteter nicht-menschlicher Lebewesen.

Dieses Integral zu bilden ist zwar notwendig für die Bestimmung oder auch nur Einschätzung des Sollens überhaupt (dessen, was ich überhaupt wollen soll), aber es ist auch ganz offensichtlich zu bilden unmöglich. Nicht nur kann es nicht gelingen, Daten über diese ins Unendliche strebende Anzahl von Wollen (im Plural) zu erheben. Es müssten auch noch dazu unabsehbar viele Wollen hypothetisiert oder prognostiziert werden (die der kommenden Generationen, der nicht-menschlichen Strebens-Akteure usw.), was keinerlei Aussicht auf Erfolg mit sich bringt. Beides zusammen macht das Integrieren über diesen Daten zu einer vollkommen aussichtlosen Angelegenheit.

Wertvolle Nebenwirkungen der Unmöglichkeit


Bedeutet das jetzt, dass die Formel Sollen ist simuliertes fremdes Wollen uns in Hinblick auf das Sollen überhaupt (die Frage, was man überhaupt wollen soll) in ganz und gar nichts weiterhilft? Das würde ich nicht sagen. Die Formel zeigt zwar, dass das überhaupt-Sollen sich nicht positiv bestimmen lässt. Das aber macht sie nicht wertlos. Im Gegenteil. Die Anwendung der Formel führt einen nämlich nicht nur zu der Einsicht, dass sich das überhaupt-Sollen nicht bestimmen lässt, sie zeigt darüberhinaus auch, warum es sich nicht bestimmen lässt und wie es sich denn bestimmen liesse – liesse es sich denn bestimmen. Und in beidem – in der Begründung der Unmöglichkeit des Bestimmens (der Zertrümmerung einer Bestimmbarkeits-Illusion) wie in der Skizzierung einer unerfüllbaren Bestimmbarkeits-Utopie – liegt ein substanzieller Wert.

Das, was man gewissermassen eine Nebenwirkung der Formel nennen könnte – nämlich, uns erst vorzuführen, dass und warum es nicht geht, zugleich aber auch, wie es würde gehen müssen, würde es denn gehen – stattet uns mit verschiedenen Sensibilitäten aus (oder es unterfüttert diese Sensibilitäten, sofern sie sowieso schon bestehen, was vermutlich bei jedem ethisch bewussten Menschen auf die ein oder andere Art und Weise der Fall ist). Und zwar zum einen mit der Sensibilität für das utopische Wollens-Integral selbst, zum anderen mit der Sensibilität für oder genauer gegen falsche, positivistische Sollens-Versprechungen.

Da gibt es noch mehr zu durchdenken, das ist noch mehr durchzuarbeiten. Aber die Richtung ist klar, die Richtung stimmt.

Der Versuch, die Formel anzuwenden – und die Einsicht, warum diese Anwendung zwar richtig wäre, aber auch undurchführbar ist – hat sozusagen eine Schutz- und eine Sensibilisierungsfunktion. Wer die Formel vom Sollen als simuliertem (berücksichtigem, inkorporiertem) fremdem Wollen an ihr Ende gebracht hat, der fällt auf keinen Aufruf, so oder so sei zu wollen, mehr herein; der spürt aber andererseits auch, wie das unerfüllbare Integral an ihm zieht und reisst, und wird sich ihm gegenüber daher niemals ganz verschliessen können. 

So scheint es jetzt sogar, dass sich die Unmöglichkeits-Formel vom „Sollen überhaupt“ mit der prä-ethischen Formel Gut ist, sich zu fragen, was gut ist im Verborgenen, sozusagen hinter ihrem Rücken, die Hand reicht. Oder sie einander zumindest mit den Fingerspitzen berühren.

[Wenn ich das Thema des Sollens (als simuliertes fremdes Wollen) demnächst noch einmal systematischer angehe, stellt sich auch wieder die terminologische Frage. Ich habe da weiterhin diesen Kandidaten Mandanz. Etwas, das etwas fordert. Der Begriff könnte hilfreich sein, um aus den etablierten Koordinaten des Moralischen herauszukommen – was ein Vorteil wäre bei dem Versuch, die Sache frisch zu denken. Das „Sollen überhaupt“ wäre dann so etwas wie die „Mandanz an sich“ oder die „Generalmandanz“. Schauen, ob das irgendwo hin führt.︎︎︎