Weder und




01.11.
„Before it suddenly showed up, the particle was a two-part probability wave — both reflected and transmitted. It both entered the barrier and didn’t.“

Nach jüngsten Messungen findet der Tunneleffekt in der Quantenphysik mit einer Geschwindigkeit jenseits der Lichtgeschwindigkeit statt (es geht nicht um Verschränkung, nicht um Einsteins „spooky action“). Der Artikel ist, wie immer bei Natalie Wolchover von Quanta Magazine, exzellent geschrieben, aber mich interessiert gerade eher die Logik als die Physik (für die mir zudem das mathematische Handwerkszeug fehlt).

„Sowohl reflektiert wie hindurchgelassen“ – das ist, von der sprachlichen Logik her gesehen, ein Selbstwiderspruch, ein Paradox. So etwas akzeptieren wir als sprachliches Stilmittel, wo es um Ambivalenzen geht („ich bin darüber sowohl verärgert wie erfreut“), aber kaum als Charakteristikum von Sätzen, die starke, belastbare Aussagen über „die Welt“ machen. Und das könnte ein Fehler sein.

Parakonsistenz


Die klassische Aussagenlogik, wie sie sich in unserem alltäglichen Denken wiederfindet, ist natürlich längst nicht mehr die einzige Form von Logik, mit der sich die Forschung beschäftigt. Neben den bekannteren nichtaristotelischen Logiken wie der fuzzy-Logik oder den modalen Logiken (Logiken, die mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten), gibt es auch ausgesprochen „unlogische Logiken“ (die in ihrer Anti-Intuitivität einer nichteuklidischen Geometrie entsprechen würden) wie die parakonsistente Logik. In der parakonsistenten Logik gilt der Satz vom Widerspruch nicht, es kann also etwas _sowohl so sein wie auch nicht so sein_. Da das auch für Wahrheiten gilt (etwas kann wahr sein UND nicht wahr sein) heisst diese Logik auch dialetheische Logik, „Zweiwahrheitslogik“. Aristoteles würde Graham Priest, der sie massgeblich entwickelt hat, dafür von der Fensterbank stürzen.

Mich wundert, dass – meines Wissens – noch niemand die Ähnlichkeiten zwischen der Quantenlogik und der parakonsistenten Logik genauer untersucht hat. Dass zwischen ihnen Verwandtschaften bestehen, liegt, scheint mir, auf der Hand.

Metamoderne


Parakonsistenz ist aber, ohne so genannt zu werden, derzeit auch noch in einer anderen Denksparte aktuell, nämlich in der – teils sehr vielversprechenden, teils etwas trivialen, insgesamt eher vorläufigen und unübersichtlichen – Diskussion um die „Metamoderne“. Die Metamoderne sucht einen Weg, klassische Moderne und Postmoderne in einer Art paradoxer Oszillation miteinander zu verbinden und beruft sich dabei auf als gleichzeitig und gleichberechtigt gedachte Gegensatzpaare: Universalismus UND Relativismus, Skepsis UND Affirmation, Ironie UND Ernsthaftigkeit und so weiter.

Um diese besondere Konstellation, die weder ein „weder-noch“ noch ein „sowohl-als-auch“ ist, sprachlich abzubilden, haben metamoderne Theoretiker den sprachlichen Operator „both neither“ vorgeschlagen, als „sowohl-als-auch-weder-noch“.

Sowohl „weder noch“ als auch „sowohl als auch“


Geht man diesem Operator ein wenig nach, so stellt sich seine logische Binnenstruktur als einigermassen tricky heraus. Ich habe neulich mal versucht, ihn mit klassischen Mitteln zu rekonstruieren und komme auf: „Sowohl (weder A noch B) als auch (sowohl A als auch B)“. Das mag logisch korrekt sein, sprachlich ist es unpraktisch. Und dennoch könnten die Metamodernisten richtig liegen damit, dass genau solche – parakonsistenten, „quantenartigen“ – logischen Konstellationen wichtige Denkmittel bereitstellen, die uns zum Beispiel dabei helfen könnten, unsere aktuelle, in sich höchst widersprüchliche kulturelle Situation treffend zu erfassen.

Das Deutsche ist dabei noch einmal etwas unhandlicher als das Englische. Man kann kaum sagen „ich bin sowohl erfreut weder verärgert“. Sicher, man könnte Konventionen treffen, dies im Sinne des „Sowohl (weder A noch B) als auch (sowohl A als auch B)“ zu verstehen, aber das erscheint mir zu künstlich. Auf Deutsch würde ich statt dessen vorschlagen: „Weder und“. Das ist gewissermassen eine zusammengekürzte Version des mehrgliedrigen formallogischen Ausdrucks, und sie lässt sich auch tatsächlich nutzen: „Ich bin weder erfreut und verärgert“ lässt sich leicht, aufgrund der Irritation durch den im Ausdruck angelegten Widerspruch, verstehen als „Ich bin weder erfreut noch verärgert UND zugleich sowohl erfreut als auch verärgert“.

Quanten


Das Quantenteilchen, um zum Anfang zurückzukehren, ist dann ebenfalls „WEDER reflektiert UND hindurchgelassen“.

Seitdem ich angefangen habe, über „weder und“ nachzudenken, finde ich mehr und mehr Anwendungsfälle dafür. Man müsste dem einmal genauer nachgehen, aber ich würde nicht ausschliessen, dass „weder und“ einige ganz fundamentale, wenn auch paradoxe, Eigenschaften der Realität korrekt abbilden kann. ︎︎︎