über Philosophie

Warum ich so einfach denke


05.09.
Ich denke einfach. Meine Formeln sind einfach. Sie sind simpel, sie sind naiv (wenn auch nicht so naiv, wie sie scheinen). Ich greife nicht viel auf das Denken anderer zurück – jedenfalls nicht explizit. Was ich gelesen habe, steht eher unsichtbar im Hintergrund. Es hat mich verändert. Das ist meine Art der Bezugnahme: Dass ich nach jeder Beschäftigung mit einem Buch, einer Theorie, einem Autor ein anderer geworden bin und als ein anderer denke und schreibe. Das Gelesene klingt im Kopf sowieso immer mit, steht hinter jedem Satz und jedem Wort.

Ich denke einfach. Das kann man auch betonen: Ich denke einfach. Und so ist es. Ich denke einfach – als der, der ich, nicht zuletzt durch die Lektüren, geworden bin. Aber nicht nur durch die Lektüren. Ebenso durch das Leben. Oh weh, wie muss das klingen ... aber es hört ja keiner. Irgendwo in meinen alten Aufzeichnungen steht: Denken oder Leben! – und das war für mich wie eine gezückte Pistole. Und diese Pistole hat mich auch nach Russland gebracht, und weg aus der Universität.

Auch in alten Aufzeichnungen irgendwo: neo-präsokratisch. Das war eine zeitlang mein Denkideal. Mich haben die Vorsokratiker immer mehr zum Denken gebracht als zum Beispiel Platon. Damit, dass ihre Formulierungen eher Aphorismen waren, keine Theorien; dass sie so offensichtlich falsch waren und in ihnen doch irgendetwas Wahres steckte, eine andere Art von Wahrheit als die kleinteiligen, harten, ziselierten Wahrheiten der späteren Philosophen – die Formulierungen der Vorsokratiker waren eher Sentenzen, Orakelsprüche (vielleicht hänge ich deshalb auch so an meinen Formeln), und das heisst, sie waren etwas, das man bei sich behalten konnte, das man mit sich herumtragen konnte, das in einem wirksam wurde. Etwas wie eine Melodie, die man im Kopf hat, und die in ihm dann ihr eigenes Leben entfaltet.

Ich glaube, es gibt viele Arten von Philosophie. Es gibt die wissenschaftsähnliche Philosophie, wie sie in den Universitäten betrieben wird. Ich lerne von ihr jeden Tag, aber sie entwickelt in mir nicht dieses Eigenleben, wie es die Vorsokratiker taten oder wie meine eigenen Formeln in mir „leben“. (Wobei: Ich lese auch viele neue Philosophen so, dass ich versuche, hinter die Grundfiguren ihres Denkens zu kommen, und ich glaube, dass diese Figuren dann auch in mir ihr Eigenleben entfalten.) Aber es gibt auch andere Arten von Philosophie, und sie werden heute wenig praktiziert, auch, weil die Universitäten nicht unbedingt der Ort dafür sind. (Sofort kommt mir Pierre Hadot in den Sinn, der die Traditionen der „philosophischen Übungen“ der Stoiker wiederaufleben lassen wollte, aber nur mässig Erfolg hatte damit.)

Ich nenne das, wie ich denke, manchmal plain thought. Ich habe kein deutsches Wort dafür – vielleicht schlichtes Denken? Das kann aber auch falsch verstanden werden. Es gibt ja diese Einfach-Denker, die dann auch gerne zu Fernsehphilosophen werden oder sich sonst irgendwie „popularisieren“. Man lacht über sie ein wenig, ich ja auch. Und manchmal überkommt mich der Zweifel, ob ich nicht selbst ebenfalls ... – aber nein, ich hoffe, und ich glaube, dass mein einfach Denken eine andere Art von einfach praktiziert. Ich suche ja keine simplen Lösungen. Ich möchte nur einfaches Material verwenden, oder von einfachem Material ausgehen, möglichst von frischem einfachen Material. Und da wären wir wieder beim Neo-Präsokratischen. ︎︎︎



Unbehagen Philosophie


23.09.
Jetzt habe ich alles, was ich bisher diese Woche geschrieben habe, weggeworfen. Und es war viel. Und es war mir ausserordentlich wichtig.

Es ging um Philosophie, es ging darum, was Philosophie – meiner Meinung nach – ist, oder sein sollte, oder es ging, das trifft es besser, um die Frage Was soll Philosophie – also in diesem saloppen Sinne, in dem man sich fragt: „Was soll das? Wozu das ganze?” (auf Russisch geht es besser: зачем всё это?).



I


Hoffnung und Enttäuschung

Ich hatte geschrieben davon (oder begonnen, davon zu schreiben), wie sich meine Hoffnung auf die Philosophie in eine Enttäuschung über die Philosophie verwandelt hat – während des Studiums, aber auch in all den Jahren danach. Ich hatte über den Zorn auf die Philosophie geschrieben, über die Wut auf sie, über die Sehnsucht nach einer anderen Philosophie – über die Gefühle, die in mir vibrieren, was die Philosophie angeht, die auch einen unmittelbaren Einfluss auf mein Leben haben  –

Ich hatte über den Zorn geschrieben, den Zorn darüber, dass es keine Rahmen gibt, innerhalb derer man so denken kann, wie ich denken möchte oder wie ich es für nötig halte, zu denken – keine Rahmen, nicht nur die äusseren Institutionen betreffend (in der Universität ist ein solches Denken nicht machbar), sondern auch keine Rahmen in Bezug auf die Begriffe des Denkens selbst, die Wörter, auf die man das Gedachte bringen muss (es ist auch ein Zorn auf die Nicht-Artikulierbarkeit) – über die Sehnsucht, etwas, das gedacht werden will, dann auch tatsächlich denken zu können, aussprechen zu können, mitteilen zu können – über die Sehnsucht nach einem perspektivenreichen, nach vorne offenen Denken, einem nicht zerquälten, sondern beschwingten Denken, einem Denken, das, wenn man es denkt oder liest, dazu führt, dass man weiterwill 

„Es muss doch alles ganz anders gehen, als es derzeit gemacht wird”, hatte ich geschrieben, „es ging doch zu anderen Zeiten auch anders, es gibt doch weiter diese gewaltigen Möglichkeiten, heute umso mehr, ich spüre sie doch, wittere sie doch unmittelbar vor mir, wieso kommt man nicht heran an sie, wieso kommt man nicht heraus aus diesem Trott, wieso lässt man sich so einschränken, wieso schafft man nicht Luft, wieso reisst man das Fenster nicht auf?” – und „Es kann doch nicht sein, dass das, was so zu sagen notwendig ist, was auch so offensichtlich ist, sich so überhaupt nicht, so partout nicht sagen lässt!“ –

Und ich hatte – eben – geschrieben von dem, was Philosophie meiner Meinung nach ist oder was sie soll, und wie sich das unterscheidet von dem, wie sich Philosophie heute versteht, die universitäre Philosophie (aber gibt es überhaupt eine andere?), also darüber, wie sich Philosophie missversteht (meiner Meinung nach), und hatte begonnen, die Frage Was ist Philososophie, was soll Philosophie entlang der verschiedensten Stossrichtung durchzudeklinieren – für mich, aus meinen eigenen Erfahrungen, eigenen Gedanken, eigenen aufgehäuften Empfindungen heraus – Stossrichtungen, die, das war mir bereits klar, bevor ich zu schreiben begann, in die verschiedensten Richtungen gehen würden, die auseinanderlaufen würden, sich auch durchkreuzen, einander widersprechen würden ... inkonsistent, ging mir durch den Kopf dabei, inkonsistent, aber dennoch kohärent, auf einer tieferen Ebene, einer Ebene hinter den Wörtern, hinter den Absätzen ...

Ich weiss nicht, ob ich jetzt alle diese Stossrichtungen wieder zusammenbekomme, ich weiss auch nicht, ob ich das will, schliesslich habe ich die Sachen von gestern und vorgestern nicht ohne Grund weggeworfen, sie entwickelten keine Struktur, sie führten zu nichts. Aber durch das Wegwerfen sind sie natürlich nicht verschwunden. Das können sie auch nicht, denn dieses Thema ist ja immer da, immer aktuell, ich schlage mich mit ihm herum, seitdem die Hoffnung auf die Philosophie in die Enttäuschung über die Philosophie hinübergekippt ist; nur enttäuscht zu sein reicht ja nicht, ich werde ja davon nicht aufhören zu denken, im Gegenteil, die Frage, die über allem schwebt, ist: Wie kann man die Philosophie selbst denken, umdenken, wie kann man das Denken anders denken, und zwar so, dass es wieder funktioniert (so wie ich mir vorstelle, oder so wie ich das Gefühl habe, dass es funktionieren müsste) –

Originell-normal

Eine der Stossrichtungen war, Philosophie sei die Professionalisierung, oder Intensivierung, oder Systematisierung, also die Fortführung des „sowieso Gedachten“, oder des „originellen Menschenverstandes“, oder des „Originell-Normalen“ ... die Begriffe lassen einen im Stich, hier schon. Man könnte versuchen, hier vom „gesunden Menschenverstand“ zu reden, aber das wäre ganz falsch, denn es geht nicht um das Gesunde (den здравый смысл), nicht um das „Normale“, sondern darum, was man als „normaler Mensch“, als Nicht-Philosoph, sowieso an Originellem, Ungewöhnlichem, die scheinbar selbstverständlichen Denkwege Verlassendem (und damit nicht-Normalen, und damit auch nicht common sense) beginnt zu denken, was weiterzudenken sich aber nur der Philosoph erlauben kann ... – immer muss man die Begriffe, die man braucht, um sich zu erklären, gleich schon wieder zurücknehmen, ummodeln, revidieren, das Gesagte um-sagen, so dass von einem Stoss (in eine Richtung, mit einem Impuls, einem Impetus) bald gar nicht mehr viel übrig bleibt –

Diese „Fortführung des Originell-Normalen“, diese Idee, Philosophen griffen das auf, was bei anderen eine ephemere Idee bleibt, beim Philosophen aber zur Zentralidee und zur idée fixe wird: Dahinter steht das Bedürfnis, die Philosophie bescheidener zu verstehen, weniger, wie man so sagt, „abgehoben“, sie „abzublasen“, also aus ihrem Aufgeblasensein die Luft herauszulassen ... Was mich nie verlassen hat: das Empfinden, dass die Philosophie sich künstlich kompliziert macht. Dass eigentlich hinter jeder noch so elaborierten Philosophie ein oder zwei recht einfache Gedanken stehen, nämlich ihre Philosopheme, ich finde besser: ihre Primitiva, in einem guten Sinne von Erstheiten, und dass sich diese Primitiva grundsätzlich auch im originell-normalen (nicht-normalen) Denken finden lassen, nur eben führt ihre (ja andererseits notwendige!) Artikulation fatalerweise in diese Kompliziertheiten ...

Werk, und nicht Wissenschaft

Diese Kompliziertheiten hängen natürlich zusammen mit dem Anspruch der Philosophie, sie sei eine Wissenschaft, ein Anspruch, den ich anzweifle, den ich ablehne. Philosophie ist gemacht. Philosophie ist gestaltet. Sie ist eine Komposition, ein Werk. Ich hatte notiert, wie mir das – ausgerechnet – bei der Lektüre Kants klargeworden ist, wie Kant herummauschelt mit dem, was er Vernunftbegriffe oder transzendentale Ideen nennt, wie er behauptet, diese transzendentalen Ideen seien abgeleitet aus jeweils einer Kette gleichartiger Vernunftschlüsse (Syllogismen), dass man also zu eben diesen Ideen oder Vernunftbegriffen käme, wenn man die jeweiligen Formen des Schliessens immer weiter denke, dass die Begriffe aus den Syllogismen zwangsläufig, natürlich, automatisch herfliessen – das behauptet er, aber so ist es nicht, wie die Entstehungsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft zeigt. Nichts fliesst dort natürlich oder zwangsläufig her, sondern Kant hat es so eingerichtet, er selbst, willentlich, mutwillig, er hat die Vernunftbegriffe selbst an die Enden dieser Syllogismen-Ketten gestellt, und zwar in früheren Entwürfen die Begriffe Welt, Gott, Seele (das sind die transzendentalen Idee) an die Enden anderer Ketten als dann in späteren Fassungen – er hat sie getauscht – er hat sie so angeordnet, wie es für ihn passte, nicht wie die Syllogismen selbst es vorgaben oder verlangten, er hat diese Anordnung erfunden, er hat sie sich ausgedacht – wie ein Künstler, der hin- und herversucht, schaut, wie es er haben will, und es dann so macht

Die ganze Architektur der Kritik der reinen Vernunft und überhaupt der Kantschen Philosophie, die ja einen solchen Wert darauf legt, eine „Wissenschaft“ zu sein, ist gemacht, ist hergestellt, die Kantsche Philosophie ist eine Komposition, die sich als Forschungsergebnis tarnt, sie fliesst nicht aus der Struktur des Verstandes oder der Dinge her, der Abstand zu den Dingen ist in der Philosophie viel grösser, als die Philosophie selbst es glauben machen will, eine philosophische Theorie ist so weit weg von dem, wovon sie redet, dass sie genaugenommen ihren Gegenstand schon prinzipiell gar nicht „erklären“ oder „beschreiben“ kann, sie kann Erklärungen oder Beschreibungen nur inspirieren, sie ist kein Explikativ, sondern ein Inspirativ ...

*

Ich weiss nicht, immer noch nicht, ob ich jetzt alle meine gestrigen und vorgestrigen Verlust-Enttäuschungen und Neufindungs-Versuche noch einmal versuchen sollte zu notieren, denn nicht nur hat es ja schon zuvor zu nichts geführt, vor allem will ich ja heute auf etwas anderes hinaus, auf das, was eigentlich ganz am Schluss meiner versuchten Umdenkungen stehen sollte, auf die Frage, ob das Wort Philosophie überhaupt für das taugt, was ich im Sinn habe, ob es nicht überhaupt ein Wort ist, das so viele Probleme mit sich bringt, so viele Haken und Ösen hat inzwischen, dass man nach etwas anderem suchen sollte, etwas frischem, unter dessen Dach oder unter dessen Ägide sich dann auch wieder besserer und frischer denken lässt –

Ausserdem

Vielleicht wenigstens in aller Kürze, damit ich es eben doch hier irgendwie beisammen habe.

Anstatt vorgeblicher Wissenschaftlichkeit (-> Kant), aufgrund des Gemachten, Gestalteten, Werk-haften: die Philosophie als Wahrkunst. Also als Kunst, deren Ziel Wahrheit ist (was auch immer man – philosophisch! – unter Wahrheit verstehen will). Das heisst nicht, dass Forschen keine Rolle spielt. Aber Forschung ist nur ein Input, oder vielleicht sollte man sagen: nur ein Input. Das Werk, also die philosophische Artikulation, also das Philosophierte, ist immer auch ein Kunst-Werk, und ich denke sogar, vor allem ein Kunstwerk. (Sag’ das einmal jemand an der Universität, der zum Beispiel einen Antrag für ein Forschungsprojekt auszufüllen hat!)

Das Synoptische, das Integrierende, das Meta. Dass das kaum eine Rolle spielt in der derzeitigen Philosophie, war eine der grössten Enttäuschungen für mich. Als ich merkte, dass es keine Philosophie mehr gibt, die sich darum bemüht, die Dinge zusammenzudenken. Sicher, nun kann man sagen, vielleicht lassen sich die Dinge halt einfach nicht zusammendenken, vielleicht ist genau das, nämlich dass sie unverbunden sind, unsere moderne philosophische Einsicht. Aber damit gebe ich mich nicht zufrieden. Denn in meinem Kopf werden sie ja zusammen gedacht, und nicht nur in meinem, sondern in jedermanns Kopf, im Kopf jedes Menschen, der sich mit den verschiedensten Dingen (Biologie, Kosmologie,  Psychologie, Geschichte, Literatur, Musik, Politik, der eigene körperliche Existenz, die Geschicke des Nächsten und des Fernsten, das Leben, der Tod, was auch immer) zugleich beschäftigt, und wer täte das nicht, auf die eine oder die andere Weise? Es kann keine Meta-Theorie geben, da bin ich einverstanden. Aber das heisst nicht, dass es kein Meta-Denken geben kann. Nur muss sich dieses dann anders äussern als durch Aussagen der Art So und so hängt das und das zusammen, nämlich eher dadurch, dass die Gedanken zum einen Thema, Gegenstand, Belang durch die zum anderen Thema, Gegenstand, Belang eingefärbt, beeinflusst werden – dass sich im Denken des Einen etwas manifestiert, das sich ohne gleichzeitiges Denken des Anderen nicht manifestiert hätte – eine gegenseitige Influenz, eine Interfluenz der Belange, für die sich doch Worte finden lassen müssen –

(Nachtrag: Ein Wort, das hier ausserdem noch weiterhelfen könnte, wäre Konzertanz. Die Belange sind zwar nicht „konzertiert“ im Sinn von aufeinander abgestimmt, aber sie „konzertieren“, indem sie alle zugleich erklingen und sich klanglich überlagern oder vermischen. Das kann auch eine kakophonische Konzertanz sein.)

Nötig-unmöglich

Das ist eine andere Bestimmung von Philosophie, die ich schon lange mit mir herumtrage: Philosophie ist, das zu denken, was zu denken nötig, aber unmöglich ist. Oder: was zu denken ebenso nötig wie unmöglich ist. Oder, kompakt: Philosophie ist das Denken des Nötig-Unmöglichen.

Das, scheint mir, ist am ehesten, womit man der Philosophie auf die Spur kommt, aus diesem Selbstwiderspruch entspringt überhaupt das, was man Philosophieren nennt. Ich hatte das gestern durchdekliniert an Wittgensteins Diktum Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen und Adornos Konter, Philosophie sei im Gegenteil gerade die Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann.

Was für eine Art von Philosophie ist das, die versucht, zu sagen, was sich nicht sagen lässt? – Adorno denkt dabei (die hegelsche Nichtidentität später im Zitat verrät es) an die prinzipielle Schwierigkeit des Artikulierens, die darin besteht, dass der Sinn vor dem Wort ebenso flieht, wie er von ihm eingefangen wird. Durch das Benennen verfehle ich immer das Benannte, indem ich es treffe. Das ist ungefähr, was Derrida mit der différance im Sinn hatte, oder es ist ein Teilaspekt dieser différance.

Aber wenn man es so sieht, dann ist eigentlich alles Reden Philosophie, denn dann kann nichts so gesagt werden, wie man es würde sagen wollen oder wie das Wort nahezulegen scheint, dass es gesagt werden kann.

Oder man nimmt an, es gibt gewisse Dinge oder Inhalte, die sich in besonderer Weise gegen das Artikuliertwerden sträuben, die man aber dennoch offenbar irgendwie denken oder irgendwie mental präsent haben kann (denn sonst käme man gar nicht in die Versuchung, sie sagen zu wollen) – nach Wittgenstein muss man dann von diesen Dingen eben schweigen (das wäre eine Art beredtes Schweigen, wie im Zen), nach Adorno aber, gerade deshalb, weil es so schwer ist, von ihnen versuchen, zu sprechen –

Wenn man es so liest – würde man sagen wollen, das ist dann die Philosophie, Philosophie überhaupt, alle Philosophie? Sicher nicht. Dadurch, dass man dann um Ausdrucksmittel für das Unsagbare ringen muss, sie gegebenenfalls überhaupt erst einmal finden, erfinden muss, nähert sich solche Philosophie dann der Poesie an (Heidegger kann da etwas Ähnliches im Sinn gehabt haben) –

Und nun?

Originell-(un-)„normal“, ausgearbeitete idée fixe, Metadenken als Wechselbeeinflussung der Belange, Philosophie als Werk, als Wahrkunst, Artikulation, Versuch der Artikulation des Nötig-Unmöglichen ... All das ist nicht erschöpfend, nicht vollständig, vor allem führt es nicht zu einem Programm, und das ist es aber doch, wo ich hinwill, hinmuss: sagen zu können, was ich anders machen will, was ich sowieso schon anders mache, warum ich es anders mache – die Konsequenzen zu ziehen aus dieser fundamentalen, eigentlich entsetzlichen Enttäuschung, aus dieser Enttäuschung, von der ich aus irgendeinem Grund überzeugt bin, dass ich nicht der einzige bin, der sie empfindet, und dass sie unserer gesamten kulturell-geistigen Verfasstheit eine Note der Hoffnungslosigkeit mitgibt, oder aus einer Hoffnungslosigkeit entspringt, die aber überwunden werden muss, was auch möglich ist –

Philosophie Philosophie Philosophie. Ich habe mir dieses Wort gestern sogar auf einen shortcut gelegt, weil es wieder und wieder in diesem Text vorkommt, eigentlich in fast jedem Satz, und weil ich leid war, es immer wieder von neuem zu tippen – leid bin ich es sowieso irgendwie, dieses Wort. Philosophie, das ist mir zu sperrig, Philosophie, das ist mir zu beladen, das ist mir zu sehr begrenzt von Institutionen, von der konkreten wie der Universität, aber auch von den impliziten, die in das Reden selbst eingeschrieben sind, in die Begriffe, die Wörter, in den Diskurs – man kann reden, ja, man kann auch „sagen was man will“, aber man kann nicht das sagen, was nötig wäre, das Dringende, das Drängende kann man nicht sagen –

Heute Nacht von irgendeinem Geräusch aufgewacht und konnte dann nicht mehr richtig schlafen und habe im Halbgschlaf all das Revuew passieren lassen, all diese verschiedenen Stossrichtungen oder Unzufriedenheiten oder Umdenkungen oder Bestimmungsversuche, und schob sich wieder dieser Gedanke, der sich so oft ankündigt und den ich nicht zu denken wage (weil überhoben, weil unrealistisch), in Zentrum: Man muss ganz neu ansetzen. Man muss wirklich einmal alles über Bord werfen irgendwie neu beginnen. Irgendwie. Und zwar nicht, um das Alte loszuwerden oder es dem spurlosen Vergessen zu übergeben, sondern im Gegenteil, um dieses Alte, die Tradition, das Material wieder verfügbar zu machen, eben als Material, als Etwas, mit dem man arbeitet, das man gestaltet, und nicht als etwas, dem man sich anschliesst als Adept oder von dem man sich abstösst als Kritiker (oder das man, was natürlich philologisch legitim und auch notwendig ist, allein als Gegenstand der Forschung betrachtet, der historischen ...) –

Aber wenn man tatsächlich so einen Punkt finden will, von dem aus man neu, anders, „frisch“ beginnen kann, dann muss man sehr, sehr weit weggehen von dem, was ist. Wenn es ihn überhaupt geben kann.

Heuristikvergessenheit

Andere Stossrichtung meiner Unzufriedenheit und vielleicht der grösste Vorwurf, den ich der akademischen Philosophie heute machen würde: ihre Heuristik-Vergessenheit.

Jeder Mensch denkt. Egal mit wem du sprichst, egal ob Akademiker, Handwerker, Sportler, Händler, Schauspieler, egal ob aus der sozialen, der politischen, der künstlerischen, der industriellen Sphäre, egal ob Rentner, Schüler, Greis oder Kind: Jeder Mensch denkt. Jeder Mensch macht sich einen Reim auf das, was ihn betrifft (und heute, im medialen Zeitalter, betrifft immer mehr von uns tendenziell alles),  jeder Mensch hat eine Meinung zu den Dingen, die ihn angehen.

Aber niemand denkt seine eigenen Gedanken. Na gut, ein wenig denkt man natürlich schon seine eigenen Gedanken, aber auch die kommen nicht aus dem Nichts, sondern irgendwo her, und das Eigene besteht eher darin, wie man mit dem Irgendwoher-Kommenden umgeht, was von ihm man verstärkt und was abschwächt, worauf man den Akzent setzt und was man ausblendet, was man weiterdenkt und was brachliegen lässt, und vor allem darin, wie man das alles tut. Das wie ist viel mehr das Eigene als das was.

Man kann nicht einfach so denken, von Null, aus dem hohlen Bauch, man braucht zum Denken Mittel, Instrumente. Jeder braucht sie. Auch der, der nicht weiss, dass er sich solcher Mittel bedient. Und die Mittel müssen gut sein, das heisst, sie müssen ihrem Zweck angemessen sein. Wer mit einem falschen Mittel nachdenkt über irgendeinen Belang, der verdirbt diesen Belang oder er wird selbst von seinem Handwerkszeug fortgeschleudert ins Abseits.

Jeder braucht Denkmittel. Auch der Nicht-Fachmann, der „normale Mensch“ (der eben nicht „normal“ ist, siehe oben). Denn er denkt ja sowieso. Unter anderem über all das oder vieles von dem, was ihm die Medien antragen. In der medialen Welt kann man sich vor den Herausforderungen, zu denken, nicht verstecken. Und jeder von uns ist in fast allem Nicht-Fachmann. Wir brauchen Denkmittel, gute Denkmittel, nicht solche, die bereits beschädigt, halb zerbrochen, korrumpiert aus dem „Diskurs“ zu uns herüberschwappen, auch nicht solche, die nur für Spezialaufgaben taugen, wie die in einem Labor oder einer Uhrenwerkstatt, die für Aufgaben verwendet werden, mit denen wir es nie zu tun bekommen werden, sondern solche, die dem jeweiligen Belang angemessen sind. Und wer soll diese Denkmittel herstellen, wenn nicht die Philosophen?

Aber sie tun es nicht. Sie verschliessen die Augen vor dem schreienden Defizit an allgemeinen Denkmitteln, sie schauen schlicht nicht hin. Sie widmen sich ihren hervorragenden Ziselierungen (woran sie hindern zu wollen ich der allerletzte wäre), ihren hochpräzisen, zuweilen auch hochkuriosen Feinarbeiten, aber das grobe Zeug? Das verachten sie. Zu unrecht! Die Daumenregeln, die globalen Denkfiguren, derer wir uns doch alle bedienen, um in der Wirklichkeit irgendwie zurechtzukommen, die Heuristiken, man lässt sie herumliegen, verrotten, man überlässt sie sich selbst. Dabei wäre nirgendwo sorgfältige, kompetente, professionelle Arbeit so wichtig wie hier. Bei den Dingen, derer sich alle täglich bedienen. Die Teil des geistigen Arsenals sind, die sich einnisten in der Imagination. Diese Instrumente müssen bestens gestaltet sein, und das kann nur der, der solchem Gestalten sein Leben widmet.

Und übrigens, hier geht es nicht um eine Popularisierung, nicht um das, was die Franzosen vulgarisation nennen. Wenn man popularisiert, dann vereinfacht man etwas Kompliziertes, und dabei verzerrt man es – und macht es in den meisten Fällen unbrauchbar. Eine gute Heuristik ist nicht die Vereinfachung einer guten Theorie. Eine gute Heuristik ist eine gute Heuristik. Sie muss als solche gemacht werden, und sie wird immer anders, vollkommen anders aussehen als eine Theorie, die einem verwandten, aber viel spezielleren Zwecke dient. Es kommt etwas unterschiedliches dabei heraus, je nach dem, ob ich als Denker ein Werkzeug designe, das von vornherein darauf angelegt ist, dass jeder es mit Gewinn benutzen kann, eine Daumenregel, eine Heuristik, ein Primitiv, oder ob ich versuche, einen komplizierten Spezialmechanismus, der nur in ganz spezifischen Situationen überhaupt bestimmungsgemäss funktionieren kann, für ein breiteres Einsatzgebiet zurechtzustutzen.

(Auch nichts gegen Popularisierungen, natürlich. Ja, es ist sinnvoll, dass auch Fachfremde über fachliche Entwicklungen informiert werden. Aber dadurch werden keine neuen Denkwerkzeuge geschaffen.)



II


24.09.
Es gibt natürlich nicht die eine Philosophie. Philosophie ist ein Bündel von Disziplinen, das zusammengehalten wird durch miteinander verwobene Herkünfte, miteinander verwandte Fragen, institutionelle Hüllstrukturen und einen Hang zu Spekulativen, den man teilt, auch wenn man ihn gern verschleiert und verbirgt, auch vor sich selbst. Von diesem Bündel rede ich, wenn ich von der Philosophie rede.

*

Philosophismen

Ich habe auch früher schon immer wieder versucht, einen Katalog zusammenstellen davon, was „die Philosophie“ meiner Ansicht nach leisten sollte (was Philosophie soll). Die Elemente in diesem Katalog sind äusserst heterogen. Zum Beispiel hatte ich als zugehörig zum philosophischen Bündel notiert:

– neue Ansätze finden, auch und gerade spekulativer Art. Dinge anders denken, als sie gemeinhin gedacht werden. Neue Ansätze haben ihren Wert in sich, auch wenn sie nicht zu regelrechten Theorien ausgearbeitet werden oder dies nicht werden können. Im Gegenteil: Die Über-Ausarbeitung ist häufig ein Fehler. Ein Ansatz wird, um ihn zu legitimieren, abzustützen, zu „beweisen“ oder auch einfach, um fachlichen Ansprüchen zu genügen, so detailliert durchdacht, so pedantisch an die Philosophiegeschichte angeknüpft, so penibel durchargumentiert, dass er geradezu zergrübelt wird und all seinen Impact verliert. Der eigentlich gute Gedanke verschwindet hinter dem Aufwand, der zu seiner Rechtfertigung betrieben wird. Jüngstes eigenes Lektürebeispiel: Vogel, Medien der Vernunft, aber oft auch Charles Taylor.

Metareflexion praktizieren (siehe oben), unterschiedlichste Themen und Belange integrieren, sie zusammenschauen (Synopse), besser: zusammenlauschen. Ich komme immer wieder darauf zurück, der Punkt scheint noch lange nicht ausgeschöpft zu sein. Philosophie bezieht sich derzeit zu 95% vor allem auf andere Philosophie, das ist schlecht! Philosophisches Denken wird dann fruchtbar, wenn es sich von aussen nährt: aus Wissenschaften (und zwar sowohl Natur- wie Geistes- oder Sozialwissenschaften, so unterschiedlich die ihrem Charakter nach sein mögen), aus Künsten und Literatur, aus dem Alltag und der konkreten Erfahrung, aus dem Medialen. Philosophie darf keine Verstoffwechselung ihrer selbst sein! Sie stellt Register bereit, in denen das Nachdenken über andere Disziplinen (und konkrete Phänomene) möglich ist, in denen sich aber auch Bezüge zwischen anderen Disziplinen (und konkreten Phänomenen) manifestieren können, und diese Register müssen genutzt werden, wenn Philosophie fruchtbar sein soll und wenn sie dem Menschen, der sich in der Welt orientieren will, nützlich sein soll!

Sensibilisieren. Das ist eine stille, sanfte, zurückhaltende Funktion von Philosophie. Ich denke an Texte – und auch an Praktiken, Handlungen, „Interventionen“ –, denen es gelingt, Menschen aufmerksam zu machen auf etwas oder aufmerksam für etwas, dem sie vorher keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Das können soziale Fragen sein (als Beispiel: die Diskussion um geschlechtergerechte Sprache, so ermüdend und oft irreführend sie ist), aber auch Fragen (um ein ganz anderes Beispiel zu wählen) der Metaphysik, des Negativen, des „Transzendenten“. Sensibilisieren kann Philosophie vor allem für das Feine, das Leise, das, was sonst im Getöse der Aktualität und des Positiven untergeht – daher denke ich mir auch die Sensibilisierung akustisch, als eine Sensibilisierung für das Lauschen, eine Verfeinerung des Gehörs. Diese Aufgabe des Sensibilisierens teilt sich die Philosophie mit der Literatur, aber sie geht sie auf eine andere Weise an. Beim philosophischen Sensibilisieren spielt das Staunen eine grosse Rolle. Vielleicht kann man überhaupt sagen, dass das philosophische Sensibilisieren (jedenfalls das „metaphysisch-philosophische“) in einem Offenhalten des Staunens besteht. Das Staunen will sich ja immer wieder schliessen, wenn man es sich selbst überlässt, jedenfalls, solange sich der Mensch im Getriebe seiner Geschäftigkeiten befindet. Es muss dann aktiv wieder geöffnet werden, und diese Aktivität geht von denen aus, die sich das Staunen zur Aufgabe machen, von Philosophen oder von einem bestimmten Schlag von Philosophen.

Korrigieren, Kritisieren. Mit diesen Begriffen habe ich aus allem von dieser Liste hier die grössten Probleme (zu „Kritik“ siehe gleich unten), weil sie sich ein wenig verselbständigt haben und weil diese Philosophismen (auch siehe unten) zu einem querulantisches Nörgeln oder negativen Rosinenpicken (bug picking) degenerieren können. Aber „Kritik“ gehört ohne Zweifel zu den Aufgaben der Philosophie, nicht nur im Kantschen, sondern auch im alltagssprachlichen (oder Frankfurter) Sinne.

Ich begebe mich auf dünnes Eis, aber ich habe neulich mal neben den Begriffen „Kritik“ und „Korrektur“ den Begriff „Weisheit“ hinzunotiert (also ihn neben diese Begriffe geschrieben). Kritisieren tut man ja nicht „einfach so“, sondern aus einer Position heraus, von Voraussetzungen ausgehend (man denke zum Beispiel an die Kritik der Aufklärung von Adorno, Horkheimer einerseits und von Jünger, Heidegger andererseits). Und mir sind die Voraussetzungen, von denen aus philosophische Kritik geübt wird, oft zu eng, zu einseitig (abgesehen davon, dass sie als Voraussetzungen nicht transparent gemacht werden).

Ausserdem macht es mich misstrauisch, wenn Kritik allzu apodiktisch, allzu wissend vorgebracht wird, wenn sie glaubt, den kritischen Stein der Weisen gefunden zu haben. Wer meint, den Stein der Weisen in der Tasche zu haben, der ist ja gerade nicht weise. Weisheit hat zu tun mit Bescheidenheit, mit Akzeptanz von Ambivalenz, mit einem Zurücknehmen von sich selbst und seinen Überzeugungen.

Von daher denke ich mir, oder dachte mir neulich, das philosophische Kritisieren als ein Kritisieren aus Weisheit, was kein auftrumpfendes oder besserwisserisches Kritisieren sein kann, oder zumindest aus einer auf Weisheit zielenden Haltung heraus. Und viel lieber als der Begriff „Kritik“ ist mir sowieso der Begriff „Skepsis“, aber darin kommen auch meine persönlichen philosophischen Vorlieben zum Ausdruck (wie man philosophiert, ist ja in vielem eine Geschmacks- und auch Temperamentssache).

Praktizieren, Exerzieren. Philosophie ist nicht zwangsläufig ein Text, noch nicht einmal zwangsläufig eine Aussage. Philosophie kann sich zum Beispiel auch als taktvolles Verhalten äussern. Oder als Schweigen im richtigen Moment. Oder als Helfen im richtigen Moment. Oder als das Beginnen einer Aktivität, eines Projekts, von dem man hofft oder erwarten kann, dass es einen „philosophischen“ Effekt hat. Und damit meine ich einen Effekt, hinter dem eine Reflexion steht, die selbst wiederum in den Katalog des Philosophischen hineingehört. Also nicht jedes Schweigen ist philosophisch, nicht jedes Helfen und auch nicht jedes taktvoll-Sein. Sondern nur dann sind sie es, wenn man aus philosophischen Gründen so handelt, wobei diese Gründe nicht explizit sein müssen.

Vielleicht klingt das alles wie ein Rekurs auf einen philosophischen „Ethos“, und das ist vielleicht auch nicht ganz falsch, aber ich denke noch ein wenig an etwas anderes. Daran, dass das Ergebnis der philosophischen Reflexion nicht ein Wort sein muss, sondern auch eine Tat sein kann. Aber jetzt beginnt es sich im Kreis zu drehen – man müsste das genauer machen.

All das sind Strategien der Philosophie (der Philosophie-en), „Strategie“ dabei nicht im Sinne von Kalkül und Berechnung, sondern in dem, dass es Vorgehensweisen, Methoden sind, die je in verschiedene Richtungen und zu verschiedenen Zielen führen, die aber alle philosophisch sind. Ich hatte das neulich mal Philosophismen genannt, und ich glaube, das ist kein schlechter Ausdruck. Es gibt Philosopheme, das sind philosophische Denkfiguren, aber es gibt auch Philosophismen, nämlich philosophische Methoden oder Vorgehensweisen. Und „Philosophie“ ist dann das Bündel von Disziplinen (Aktivitäten, Bemühungen, „Befassungen mit ...“, „Traktanzen“), die verschiedenen Philosophismen verpflichtet sind oder sie praktizieren.

Natürlich ist mein Katalog nicht vollständig. Sofort fällt mir bei den „Praktiken“ noch der Dialog ein, und zwar nicht der Fachdialog (Fachdiskurs, Debatte etc.), sondern der Alltagsdialog. Gerade vor ein paar Tagen habe ich hier mit meinem Nachbarn im Arbeitsgebäude (H., von unten) so einen philosophischen Alltagsdialog geführt. Mit etwas Glück kann man es auch manchmal auf facebook oder in anderen sozialen Medien zu solchen Dialogen kommen, aber der reale Dialog ist doch noch etwas anderes als der virtuelle, und er ist insofern philosophischer, als er auch mehr unterschiedliche Philosophismen integrieren kann, etwa auch die praktischen (das Schweigen, das Zögern, das provisorische Sprechen und so weiter).

Mir scheint, wir unterschätzen diese Dialoge massiv. Ich lerne nicht nur aus ihnen fast immer sehr viel – wie andere Leute denken, wie diejenigen ausserhalb der intellektuellen Sphäre die Aktualität beurteilen usw. – ich habe auch das Gefühl, dass man in solchen Situationen sein eigenes, langfristig und kontinuierlich praktiziertes Reflektieren viel unmittelbarer nutzbar machen kann als durchs Schreiben langer Aufsätzen, dass man als Philosoph tatsächlich überhaupt einmal von Nutzen ist. Denn man kann in diesen Gesprächen dazu beitragen, dass sie Wendungen vollziehen, die sie ohne bewusstes Philosophieren nicht vollziehen würden.

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Plus, was hinzukommen müsste in einem solchen Bündel oder einer solchen „Systematik“ (und der Plusse ist hier vermutlich kein Ende), dann eben doch wieder vieles von dem, was in den Fakultäten tatsächlich betrieben wird: die Bearbeitung der philosophischen Detailprobleme. Ich bin auf Distanz dazu, ich glaube, die akademische Philosophie versteht sich viel zu eng, verspielt viel ihrer möglichen Relevanz und auch ihrer möglichen Faszination, ich bin damals aus ihr geflohen, aber ich profitiere ja auch dennoch von ihr täglich, ich verfolge, rezipiere, übernehme Denkfiguren, bilde mich – mein Verhältnis zur akademischen Philosophie ist extrem ambivalent.


Doppelbett

Mal heftig zugespitzt: Die akademische Philosophie steckt in einem doppelten Prokrustesbett. Dem der Kritik einerseits, dem der Korrektheit (oder des Begründens? oder der Deduktion? oder der Wissenschaftlichkeit?) andererseits.

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Philosophia ancilla theologiae – die Philosophie sei die Magd der Theologie, hiess es im Mittelalter. Und jetzt? Die Magd der Wissenschaft? Warum? Gibt es auch nur einen stichhaltigen Grund, warum das so sein sollte? 

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Es gibt heute genau zwei Motivationen – legitime Motivationen, offiziell legitime Motivationen –, Philosophie zu machen. Die eine ist, zu kritisieren, die andere, zu forschen. Was für eine trauriges, dröges Doppel! Was für ein Verzicht auf Produktivität, auf Fruchtbarkeit, auf Fortschritt, Perspektive, Begeisterung, Hoffnung!

(Muss ich jetzt ausführen, was mit „Kritik“ gemeint ist? Und muss ich ausführen, was mit Korrektheit, Begründen, Deduktion, Wissenschaftlichkeit gemeint ist? Zum „Deduktionismus“ hatte ich neulich schon einmal im Zusammenhang mit Charles Taylor etwas notiert.)

[Es geht weiter mit Gnostiken (oder Ponimanzen?) und der mediale Mensch] 

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Gnostiken (oder Ponimanzen?) und der mediale Mensch



[Dies ist die Fortsetzung von Unbehagen Philosophie]

III



24.09., nachmittag
Philosophie Philosophie Philosophie. Wenn ich ein Wort für eine Geistesdisziplin finden sollte, das noch zopfiger wirkt als dieses, dann fällt mir eigentlich nur „Theologie“ ein. Zufallsbekanntschaften im ICE-Grossraumwagen, denen man auf die Frage nach der eigenen Beschäftigung etwas mit „Philosophie“ antwortet, können ihre anteilnehmende Belustigung oft nur mit Mühe verbergen. Und wieso auch sollte es anders sein? Für das Publikum ist ein Philosoph entweder ein Mensch aus einer Zeit, die es nicht mehr gibt (daher kann es auch diesen Menschen nicht mehr geben) oder eine intellektuelle Plaudertasche, die zu allem etwas zu sagen hat, damit aber vor allem gutmütige ältere Damen um den Finger zu wickeln weiss.

Was hinter den verschlossenen Türen der Fakultäten getrieben wird, wo man sich über Dinge wie „Intentionalität“ Gedanken macht oder über „Erfüllungsbedingungen“, davon ahnt der Sitznachbar nichts. Und die Fakultätsnachbarn? Die Physik, die Biologie, die Soziologie, die Psychologie, die Geschichte, die Juristik – sie kommen alle gut ohne uns aus, auch wenn sie sich der Form halber in Kolloquien auch einmal mit Philosophen zusammensetzen, schliesslich muss man ein wenig Interdisziplinarität zelebrieren. Und ich, wo ich schon einmal vor der Philosophie geflohen bin, will ich denn überhaupt Philosoph sein?

Self-check.

Was will ich?

Denken. Plain thought nenne ich es manchmal, weil mir etwas an der Einfachheit gelegen ist. Denken ist wie gehen oder essen – es ist ein Prozess des In-der-Welt-Seins, und manche machen ihn sich eben zu ihrer Hauptaufgabe (bitte nicht das Essen). Aber warum sollte das „Philosophie“ heissen?

Ich versuche mitunter, es so zu sehen: Ich mache zwar nicht jene Philosophie (die akademische), dafür aber sone oder solche. Aber welche soll das sein? Es kommt doch immer wieder eine Bündelung von Philosophismen dabei heraus, deren Verhältnis zu „der“ Philosophie dann auch wieder alles andere als klar ist.

Und manchmal möchte ich einfach sagen: Guten Tag, ich bin Künstler! Konzeptkünstler.

So falsch wäre das nicht. Aber nicht weniger missverständlich.

Jetzt vorgestern Nacht schloss sich das Thema welche Philosophie wieder mit einem anderen kurz: dem Thema Wahrheit. Beziehungsweise, um den Aspekt einer gelingenden Erkenntnis erst einmal auszublenden, dem Thema der Verstehensweisen.

Verstehensweisen

Verstehensweisen – das ist für mich ein zentrales Konzept, wenn ich über Sprache nachdenke. Die Bedeutung eines Wortes ist in meiner Denkart seine Verstehensweise, die Art und Weise, wie es verstanden wird, seine Entendenz. Aber natürlich gibt es Verstehensweisen für alles Mögliche, nicht nur für Wörter.

Wenn man an die Politik denkt: Dort ist man ständig mit verschiedenen Verstehensweisen der Gesellschaft, der Weltlage usw. konfrontiert, oft mit solchen, die einander kategorisch ausschliessen (über die verschiedenen Verstehensweisen des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen habe ich mal begonnen, ein Buch zu schreiben). In Bezug auf die Pandemie, auf das Klima, auf die Migration – überall konkurrieren verschiedene Verstehensweisen miteinander (von denen mitunter die eine deutlich besser als die andere ist, dennoch wird die andere davon nicht verschwinden).

Das gleiche ist es bei zeitloseren Belangen, solchen jenseits der Aktualität: idealistische Verstehensweisen existieren in Spannung und Gleichzeitigkeit mit materialistischen; individualistische mit kollektivistischen; psychologistische mit soziologistischen; atomistische mit holistischen, prozessualistische mit statizistischen ... – das alles sind philosophische Verstehensweisen. Und überhaupt ist die Philosophie in vielerlei Hinsicht eine Disziplin der Verstehensweisen, oder sie lässt sich als eine solche deuten („verstehen“).

Bei der Lektüre von philosophischen Texten haben mich die hinter ihnen stehenden, oft verborgenen, meist aber erahnbaren Verstehensweisen immer am meisten interessiert. Fremde, noch unbekannte Verstehensweisen wollte ich mir aneignen, die Unterschiede, vor allem: die Qualitätsunterschiede verschiedener, mit einander unvereinbarer Verstehensweisen haben mein Fragen und meine Neugierde angestachelt, und wo ich in der Literatur keine Verstehensweisen finden konnte, die mich überzeugten, habe ich mich daran gemacht, selber welche zu entwickeln (etwa bei der Frage nach dem Geist, für den ich eine klanglicheVerstehensweise habe).

Wie gesagt muss man Verstehensweise und Wahrheit klar auseinanderhalten. Verstehensweisen können wahr sein, müssen es aber nicht (und sie können auch mehr oder weniger wahr sein usw.). Es gibt ganz offensichtlich auch unwahre, „schlechte“ Verstehensweisen, die davon nicht weniger Verstehensweisen sind. Wer glaubt, Bill Gates haben das SARS-CoV-2-Virus entwickelt, versteht etwas falsch, aber „versteht“ etwas.

Natürlich ist es schwierig, bei Wörtern aus der Umgangssprache Bedeutungsaspekte voneinander zu trennen. Man kann „verstehen“ auch so hören, dass es eben doch immer irgendwie ein Gelingen von Verstehen impliziert. Ich möchte diesen Aspekt aber so weit es geht ausblenden.

Tut man das, dann gerät das Verstehen oder vielmehr das Verstehens-Ergebnis in die Nähe dessen, was alltagssprachlich Meinung heisst. Dass eine Meinung falsch sein kann, räumen wir gerne ein, allerdings würden wir eine richtige Meinung dann gerne schon nicht mehr Meinung nennen, sondern, zum Beispiel, Wissen. Immer hat die Umgangssprache ihre Tücken.

Welcher Begriff?

Will man sich nicht in den Bedeutungsnetzen der Alltagssprache verheddern, so braucht man – ganz wie bei den Verstehensweisen für Wörtern – auch für solche globalen, übergeordneten Verstehensweisen einen technischen Term.

Die Verstehensweisen von Wörtern nenne ich Entendenzen, weil französisch entendre einerseits verstehen, andererseits hören bedeutet und dieser Doppelaspekt dem entspricht, was ich mit dem Begriff im Sinn habe. Noch dazu ist das Wort frisch und unverbraucht (und es lässt eine Prozessualität erahnen, an der mir ebenfalls viel gelegen ist).

Globale Verstehensweisen unterscheiden sich aber sehr von Verstehensweisen von Wörtern. Zunächst einmal darin, dass sie keine Verstehensweisen von etwas sind. Idealismus und Materialismus, Individualismus und Kollektivismus, Prozessualismus und Statizismus usw. sind zwar, wenn man so will, Verstehensweisen von „der Welt“, vielleicht von „der Gesellschaft“, aber Welt und Gesellschaft sind nicht „etwas“, und daher sind diese Verstehensweisen vor allem Verstehensweisen überhaupt. (Ein wenig anders ist es in Bezug auf politische Belange, Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus, oder auch in Bezug auf das Russland-Problem – in diesen Fällen hat das Verstehen schon eher ein „Objekt“ – dennoch niemals in einer ähnlichen Art, wie ein Wort eine Bedeutung hat bzw. die Bedeutung eines Wortes als seine Verstehensweise betrachtet werden kann.)

Für solche globalen Verstehensweisen existieren bereits die verschiedensten Begriffe, von denen jedoch keiner wirklich den Nagel auf den Kopf trifft. Eine zeitlang war es in Mode, von Paradigmen zu reden, etwas ähnliches meinen, wenn auch aus einer anderen Ecke kommend, Foucaults Epistemen, schaut man es historisch an, dann könnte man den Begriff Ideen wählen (wie in Ideengeschichte), mit Blick auf das Interpretatorische des Verstehensvorgangs wäre auch Hermeneutiken denkbar, darüberhinaus befinden sich in diesem Umfeld Begriffe wie mindset, vielleicht, wenn man es ganz global fassen will, auch noch Weltanschauung, sogar Ideologie, oder, eine zeitlang einer meiner Favoriten, geistige Matrize ... – aber keiner dieser Ausdrücke passt genau, und im feinen Unterschied liegt hier das Entscheidende.

Ich suche also ein anderes Wort. Ich bin nicht sicher, ob ich eines gefunden habe. Wozu ich derzeit immer wieder komme, wenn auch nicht ganz ohne Skrupel, das ist das Wort Gnostik. Aber ist das wirklich eine gute Wahl? Es gäbe ja auch noch andere Möglichkeiten. Etwa die, die es immer gibt, wenn man etwas bislang Unbenanntes benennen möchte, nämlich, sich einfach ein Wort auszudenken, ein vollkommenes Kunstwort zu schaffen. Aber ich schrecke davor zurück, obwohl ich es schon mehrfach versucht habe: Es erweckt immer den Anschein, man wolle ein neues Automodell oder Medikament auf den Markt bringen und brauche nun einen Markennamen dafür. Ausserdem kann ich mir Phantasiewörter selbst nicht merken.



IV



25.09.
Leider kann ich in diesem notepad keine Fussnoten machen, sonst würde ich hier eine einfügen zu meinem grössten terminologischen Wunschtraum.

1

Wir haben ja ein Problem, ein wirklich ernsthaftes Problem mit dem Reservoir an Wortstämmen und Wörtern, aus dem wir unsere technischen Begriffe bilden können. Als Quellsprache gibt es nicht viel anderes als Griechisch oder Latein. Gelegentlich gelingt es auch einmal dem Englischen, einen Begriff zu prägen, der dann zu uns herübergeschwemmt wird. Mit „Entendenz“ habe ich mich beim Französischen bedient. Aber im Regelfall ist die Herkunft von Fachbegriffen altsprachlich. Von Epistemologie bis deontologisch, von Denotation bis Phänomenologie, von konativ bis kognitiv (konativ = wollenshaft, wird oft neben affektiv und kognitiv gestellt) – Griechisch, Latein, Latein oder Griechisch.

Dieser Vorrat taugt für manches, aber nicht für alles, und für das, was gerade besonders nötig ist, taugt er oft nicht. Er bringt immer einen bestimmten gelehrten Unterton mit sich – aber was, wenn man ein Wort braucht, das zwar technisch und präzise, nicht aber gelehrt ist? Einen technischen Pop-Begriff? „Mindset“ könnte ein Beispiel dafür sein, auch wenn es sich nie in der gleichen Art technisch etabliert hat wie, sagen wir, „Mentalität“.

Ausserdem drängt das griechisch-lateinische Vokabular dem von ihm Bezeichneten bereits eine spezifische Grundkategorisierung auf. Der Vorteil dieser Wörter – nämlich, dass sie von vornherein einen, wenn auch durch den grossen zeitlichen Abstand teilweise „verwaschenen“, Sinn besitzen – entpuppt sich hier als ein Nachteil: Man kann sich zwar unter einer altsprachlichen Wurzel meist ungefähr etwas vorstellen, aber man muss sich eben auch etwas vorstellen, ob man möchte oder nicht. Der Tatsache, dass solche Wurzeln Kategorien „vorwählen“, kann man nicht entgehen. Wenn ich zum einen Begriff bilden möchte, der sowohl mit der Sphäre des Ästhetischen wie mit der des Ethischen zu tun haben soll, sich aber keiner von beiden eindeutig zuordnen lässt, dann bin ich mit griechisch-lateinischen Vokabeln schlecht beraten. Sie verhalten sich immer in irgendeiner Weise affirmativ zu den etablierten Kategorien der europäischen Antike, die man ja aber vielleicht gerne überwinden möchte.

Und deshalb – und das wäre nun endlich die Fussnote, die ich gerne machen würde – träume ich immer wieder davon, eine andere, unverbrauchte Sprache für die Bildung technischer Begriffe nutzbar zu machen, eine, die selbst genug Distanz zu den Traditionen der europäischen Antike mitbringt, aber andererseits wieder nicht so fremd ist, dass sie als etwas semantisch Antipodisches wahrgenommen würde.

Chinesisch scheidet also mehr oder weniger aus – wobei, generell sind ostasiatische Sprachen natürlich schon ein Kandidat, und manche Term-Anwärter haben es ja auch tatsächlich bis in die letzte Auswahlrunde geschafft, wie zum Beispiel Karma.

Karma, könnte man sagen, ist ein Beispiel für einen „fast-terminus-technicus“, der aus einem fernöstlichen Vorrat zu uns herübergekommen ist, nämlich aus dem Sanskrit (und dem modernen Hindi). Aber er hat es eben auch nur fast ins technische Vokabular geschafft – er ist, vom Inhalt wie von der Anmutung her, dann doch zu „esoterisch“, um sich in der europäischen Reflexion in einer Schlüsselrolle zu etablieren. Dennoch gibt er ein Beispiel dafür, was geht – oder was gehen könnte.

Eine gute Zwischenposition, in mehrfacher Hinsicht, in geographischer wie linguistischer, und damit beste Voraussetzungen als Quelle neu zu bildender Begriff scheint mir eine andere, von der Philosophie wenig beachtete Sprache zu haben: das Georgische. Kaum jemand hier beherrscht es (mich selbst leider eingeschlossen)– Vorkategorisierungen sind nicht zu erwarten. Andererseits sind die Wörter nicht semantisch leer, wie es Kunstbegriffe wären. Und was dazukommt: Die Georgier sind ein melomanes Volk, das akustische Vokabular ihrer Sprache ist reich entwickelt (was den Eskimos Schnee ist, das ist den Georgiern die Musik), und von daher besteht Hoffnung, Wurzeln ausgraben und importieren zu können, die die fatale Festlegung des griechisch-lateinischen Westens auf das Visuelle wenn nicht korrigieren, so doch ein wenig konterkarieren können.

Ich hatte man so einen Versuch gemacht, als ich noch glaubte, dem Thema des akustisch verstandenen Geistes mit einem philosophischen Roman bekommen zu können: Dort gab es Dzalvebi – Disziplinen des Bemühens um etwas, die sowohl wissenschaftliche wie künstlerische Untersparten umfassten (wie gern würde ich die Philosophie als eine Dzalva (ძალვა) betrachten!), es gab die Mosmena ( მოსმენა), den Akt des hineinlauschenden Verstehens, es gab ein kombiniertes Pronomen, mechven, zusammengesetzt aus ich und wir, ein ichwir, das in der Kultur des Romans verwendet wurde, um die Berücksichtigung des Anderes, des Nächsten auszudrücken, die Inkorporation des fremden Wollens ins eigene Wollen ... – Warum nicht so etwas statt in Romanen auch in Theorien verwenden? 

2

Humor. Warum habe ich darüber gestern nichts geschrieben. Was der akademischen Philosophie fehlt, ist Humor. Klar, es gibt Texte mit gelehrten Witzeleien. Aber das ist nicht das gleiche. Humor bringt einen Text zu Schweben. Nicht zum Fliegen – zum Schweben. Wie übrigens auch innere Widersprüche, Paradoxien, einen Text zu Schweben bringen können. Aber beides meiden die Philosophen wie die Pest. Humor scheint ihnen die Ernsthaftigkeit ihrer Unternehmen zu beschädigen, und innere Widersprüche – über innere Widersprüche muss ich kein Wort verlieren. Sie gelten als das Gift, nein, als der Schimmel des konsistenten Denkens. Was widersprüchlich ist, das kann man wegwerfen. Was natürlich Blödsinn ist, aber das ist ein anderes Thema. So oder so, Philosophen haben gemeinhin kein Interesse daran, ihre Texte zum Schweben zu bringen. Was ich für falsch halte. Denn viele Gegenstände der Philosophie, vermutlich sogar die meisten, erfordern gerade das Schweben, ein Text, der ihnen angemessen sein will, muss schweben.

(Wittgenstein hat glaube ich irgendwo einmal gesagt, man könnte ein ganzes philosophisches Werk nur aus Witzen – hat er wirklich dieses Wort benutzt? – nur aus Unernst aufbauen. Hätte er es nur versucht! Gerade ihm hätte es gelingen können!)

3

Und noch etwas habe ich vergessen! Seltsam. Denn das ist es ja eigentlich, was ich am häufigsten sage, wenn man mich fragt, was mich an der Philosophie, an der etablierten, der akademischen Philosophie so stört. Sie ist mir zu nerdig! Aber es ist auch böse. Aber es ist auch wahr.

Die Philosophie, wie sie in den Universitäten betrieben wird, glänzt durch eine seltsame Verbindung von Versponnenheit und Pedanterie. Selbst die Revoluzzer in der Philosophie sind Nerd-Revoluzzer. Es fehlt das ... – was soll ich jetzt sagen. Es fehlt die Unverschämtheit? Es fehlt das Leben? Es fehlt das pochende Blut? Das kann sehr falsch verstanden werden, gerade in der Philosophie! Die Originalität, der Wagemut, die Lust ... Vielleicht habe ich nur nicht die richtigen Philosophen getroffen. Aber ihre Bücher müsste ich doch wenigstens in den Händen gehabt haben?

Gnostik

Gnostik also, als Kandidat für einen technischen Begriff für globale Verstehensweisen. Aus dem ewig gleichen Vokabelvorrat der Antike, aber was bleibt einem anderen übrig. Das heisst ... – eine zeitlang hatte ich noch etwas anderes in Betracht gezogen: Ponimanz. Von russisch ponimat’(понимать), verstehen.

Ponimanz, ein Verstehen, eine Verstehung, eine Verstehensweise, mit dieser Endung -anz, die das Prozessuale anzeigt und die ich so liebe – für mich persönlich funktioniert das gut. Aber wer Russisch nicht beherrscht, der denkt womöglich eher an Pomeranzen ...

Vielleicht ist in diesem Fall wirklich Gnostiken das Wort der Wahl. Es ist semantisch recht offen – gignōskein kann bedeuten erfahren, wahrnehmen, unterscheiden, beobachten, urteilen. Es bringt aber andererseits – über kognitiv, Prognose, Diagnose etc. – eine gut wahrnehmbare Verbindung zum Bedeutungsfeld der „mentalen Verarbeitung“ mit sich, und es ist über historische Erscheinungen wie die religiöse Gnosis mit Anklängen an etwas aufgeladen, das über das rein Rationale hinausgeht. Vor allem aber ist Gnostik, im Gegensatz zu Episteme, nicht von vornherein auf die Bedeutung einer gelingenden Erkenntnis festgelegt. Während es verwirrend wäre, von einer falschen Episteme zu reden, wirft die falsche Gnostik kaum grössere Probleme auf.

Natürlich ist es schon eine gewisse Begriffsmanipulation, „Gnostik“ im Sinne von „Verstehensweise“ zu verwenden. Aber letztlich ist jede Wiederverwendung eines antiken Terminus eine Um-Verwendung und damit eine Manipulation.

Gnostiken sollen also Verstehensweisen in einem globalen Sinne sein – die Arten und Weisen, wie unterschiedliche Menschen etwa die Klimaproblematik verstehen oder die Pandemieproblematik, oder die philosophische Frage nach dem, was ist oder nicht ist (zum Beispiel mit einer idealistischen oder materialistischen Gnostik), oder die Fragen von Mensch und Gesellschaft (mit einer individualistischen oder kollektivistischen Gnostik) und so weiter.

Und dabei heisst, dass es zu irgendetwas irgendeine spezifische Gnostik gibt, erst einmal nicht mehr, als dass es möglich ist, diese Thematik oder Problematik (diesen Belang) auf eine spezifische Art und Weise zu verstehen, unabhängig davon, ob das nun ein richtiges oder falsches Verstehen (ein Missverstehen) ist, ein gutes oder schlechtes, ein angemessenes oder unangemessenes, ein gelungenes oder nicht gelungenes oder jeweils irgendetwas dazwischen oder etwas, in dem sich das eine mit dem anderen vermischt und verschränkt.

Diese, wie man sagen könnte, epistemische oder veridische Neutralität von Gnostik eröffnet die Möglichkeit, den Begriff durch Hinzufügen von Adjektiven in den verschiedensten Weisen zu modifizieren, etwa: adäquate Gnostik, inadäquate Gnostik, subtile Gnostik, grobe Gnostik, schlichte Gnostik, paradoxe Gnostik, etablierte Gnostik, experimentelle Gnostik usw. usf.

Von dieser semantischen Flexibilität erhoffe ich mir sehr viel. Auch – wenn auch nicht nur –, was die grossen aktuellen Kontroversen betrifft, bis hin zu einer Anwendung auf die Frage der „Verschwörungstheorien“. Die natürlich auch Gnostiken sind. Aber was für welche?

Medial

Nun ein Sprung, und danach einige Fäden (vorläufig) zusammenfügen.

Der Sprung geht zum Normalen, Originellen, Normal-Originellen und so weiter.

Oben hatte ich mir zweimal über das Verhältnis der Philosophie zum „normalen Menschen“, den ich nicht so nennen möchte, Gedanken gemacht.

Der eine Gedanke war, dass man Philosophie – einen Teil des Disziplinenbündels dieses Namens – als Fortführung, Intensivierung, Professionalisierung, Systematisierung eines „normalen“ Denkens ansehen könnte, das dann so „normal“ doch wieder nicht ist (es gibt hier eine Nähe und eine Ferne zu G. E. Moores „common sense“), als eine Fortführung und Intensivierung dessen, was sowieso gedacht wird oder an-gedacht wird, und zwar von „jedermann“, wobei es sich bei diesem „jedermann“ eben an der Peripherie seines Denkens abspielt und er es, weil nicht-Philosoph, kaum weiterdenken wird.

Der zweite Gedanke drehte sich nicht darum, was Philosophie sein könnte (oder ein Teil von ihr, ein Strang von ihr), sondern darum, worin die etablierte akademische Philosophie versagt oder worin sie doch wenigstens meiner Ansicht nach grosse Defizite hat.

Und das ist, dass sie kaum zum „normalen Menschen“ durchdringt (noch einmal: dieses „normal“ ist kein normal und wir werden es gleich eliminieren), obwohl sie für ihn nützlich und sogar unabdingbar wäre. Dieses Nicht-Durchdringen liegt, wie gestern notiert, weniger an einer mangelnden „popularisierenden Vermittlung“ der akademischen Philosophie als vielmehr daran, dass die Philosophen keine Denkwerkzeuge für den „normalen-nicht-normalen“ Menschen herstellen, keine Heuristiken oder Daumenregeln, mit denen sich die Welt dann auch tatsächlich navigieren lässt. (Hier könnte man eine gewisse Nähe zum Vorwurf des „Rückzugs in den Elfenbeintrum“ sehen, der der akademischen Philosophie gelegentlich gemacht wird. Ich würde mich diesem Vorwurf aber so nicht anschliessen, denn es gibt durchaus Disziplinen, die in den Elfenbeinturm hineingehören, und andererseits sitzt ja beileibe nicht die ganze Philosophie in ihm.)

Das Problemwort „normal“ also. Dieser Mensch, den ich mir vorstelle, der Mensch, für den die philosophischen Heuristiken gemacht sein müssten, dieser nicht fachlich gebundene, aber gebildete Mensch, dieser Mensch, der gewissermassen der gesellschaftlich aktive Durchschnittsmensch unserer westlichen, aufgeklärten, industriellen, sich globalisierenden Zivilisationen ist, wie soll man ihn nennen? „Normal“ scheidet schon deshalb aus, weil es eine Norm aufzustellen scheint, um die es aber nicht geht; nicht normativ, sondern deskriptiv wollen wir an diesen Menschen herangehen. Wer ist er? Was charakterisiert ihn? Was charakterisiert ihn just heute und hier, als ein Differenzkriterium, das ihn vom „normal-nicht-normalen“ Menschen anderer Epochen, anderer Zivilisationen unterscheidet?

Es liessen sich sicher viele Kandidaten für ein solches charakterisierendes Kriterium finden, aber dasjenige, das ich auswähle, ist das Kriterium der Medialität. Der heutige Mensch ist, insofern er in einer medialen Welt lebt, aus der er sich nicht zurückziehen, aus der er nicht aussteigen kann, einer Welt aus pausenlos fliessender Information, die ihn beständig dazu zwingt, Meinungen zu haben oder zumindest doch zu bewerten und einzuordnen, die ihn beständig in die Lage bringt, in Antwort auf Medien denken zu müssen, ein medialer Mensch... – das dann weiter entwickeln.

Statt Philosophie?

Weiter Fäden verknüpfen, Zusammenfügen. Das Thema der Philosophie (und des Unbehagens in oder mit ihr) ist mit der Frage des „Normalen“ (und das heisst eben nicht Normalen) und des Medialen schon in einen ersten Kraftschluss gebracht worden. Was noch fehlt, ist die Gnostik.

Als ich vorgestern nachts aufwachte und mir zunehmend deutlich wurde, dass ich meine Unzufriedenheit mit der etablierten Philosophie sowieso nicht ausreichend vollständig und differenziert werde in Worte fassen können, und dass ebenso alle Meta-Ideen darüber, was Philosophie denn meiner Ansicht nach sein sollte und vor allem: wie ich mein eigenes „Programm“ formulieren will, immer am eigentlichen Kern dessen, was mir vorschwebt, vorbeigehen müssen, drehten sich die Gedanken mehr und mehr um diesen Gnostik-Begriff. Oder um das, was hinter ihm steht.

Ich glaube sicher nicht, dass der Umgang mit Gnostiken (ihre Erkundung, Analyse, Diskussion, Hervorbringen ...) die ganze Philosophie ist. Dazu gibt es zu viele Philosophismen, die nichts oder nur sehr wenig mit Gnostiken zu tun haben (etwa Sensibilisieren. Kritisieren. Praktizieren). Ich glaube noch nicht einmal, dass ich mein eigenes Philosophieren mit „Gnostikologie“ („Gnostizismus“, „Gnoseologie“, wie auch immer) treffend würde benennen können. Und dennoch hat, von Gnostiken auszugehen, gegenüber all den Versuchen, die Missstände der Philosophie zu begreifen und sich Programme für eine bessere Philosophie vorzustellen, einen gewaltigen Vorteil: Man kann etwas tun, anstatt nur zu jammern.

Und von daher ist der Zusammenhang zwischen meinen Versuchen, Licht in meine Philosophie-Verwirrung zu bringen, und dem Nachdenken über „Gnostiken“ dann doch wieder ein recht unmittelbarer: Das zweite ist die Rückseite des ersten. Oder es lässt sich als diese Rückseite gestalten.

*

Was fehlt nun noch? Vor allem, scheint mir, ein Nachdenken – im Kontext des Medialen einerseits, in dem der Gnostiken andererseits – über das Mem, als ebenfalls epistemisch oder veridisch zunächst neutraler Sinn- oder Bedeutungseinheit. Hier muss es also – abgesehen vom Thema der Gnostiken, das sowieso entwickelt werden muss – demnächst weitergehen. ︎︎︎






Philosofiction


04.10.

Jede Philosophie ist im Kern eine Fiktion. Ihre Elaboration erzeugt Rationalität, ihre weitere Elaboration erzeugt Akademismen.


[Eine Philosophie – ein Philosophem – ist nicht ein Gedanke, der aus den Fakten herausdestilliert ist, sondern einer, der in Hinblick auf Fakten erfunden wurde (fingere: bilden, gestalten, vorgeben, fact <-> fiction). Sie ist eine Fiktion, aber keine willkürliche (kein Phantasma), sondern eine realistische.

Diese Fiktion erscheint zuerst als Idee, als Ansatz – grob, undetailliert, vage. Der Ansatz muss, um verständlich und möglicherweise wirksam zu werden, ausgearbeitet, elaboriert werden. Geschieht diese Elaboration philosophisch (also nicht, zum Beispiel, literarisch), dann bedient sie sich rationaler Mittel – sie verwendet Argumente, Begründungen, Beispiele.

Die Rationalität ist nicht im Philosophem selbst angelegt (das ist vernunftmässig undifferenziert, neutral). Sie ist ein Resultat des rationalen Umgangs mit dem Philosophem, sie entsteht aus der Anwendung rationaler Mittel auf das Philosophem. Diese Anwendung ist kein Selbstzweck: Überelaboration führt nicht zu mehr Rationalität, sondern nur zu einer Vermehrung der rationalen Formeln. Der Diskurs wächst, seine Substanz schwindet.

Die Kunst der Elaboration besteht darin, aus dem Philosophem das passende, angemessene Mass an Rationalität zu gewinnen – nicht so wenig, dass es als reiner Gedankenblitz verglimmt, aber auch nicht so viel, dass es von Akademismen erstickt wird.]
︎︎︎