Radikale Subjektivität


07.10.

Es fällt mir ungeheuer schwer, zu denken wie ich.

Es gäbe natürlich die Möglichkeit, zu denken wie allerlei andere, aber dann dächte ich nicht wie ich.

Und ich denke ja wie ich, und will das. Und will das besser tun.

Ausserdem zweifle ich auch bei den anderen daran, dass sie denken wie sie. Das heisst, ich zweifle daran, dass sie für sich so denken, wie sie das öffentlich tun. Nicht, dass ich glauben würde, sie liessen ihr persönliches Denken nur in einer zensierten oder geschönten Fassung an die Öffentlichkeit, darum geht es nicht. Eher vermute ich, dass das Denken für andere ein anderes Format besitzt als das Denken für sich selbst. Man muss sich gewissermassen ankleiden, um öffentlich zu denken, und die Kleidung besteht aus den Begriffen, die die anderen verstehen. Oder anders gesagt, man muss sein eigenes Denken erst in verständliche Begriffe übersetzen, bevor man es artikulieren und damit öffentlich machen kann.

Wenn das so ist, dann ist das, was mir als das Denken der anderen entgegentritt, aber niemals ihr eigentliches Denken. Es ist die Übersetzung ihres eigenen Denkens in verständliche Begriffe, eine Übersetzung, die zwangsläufig verzerrend und unvollständig ist. Es ist ihr bekleidetes Denken, nicht ihr unbekleidetes. Aber nur das, das unbekleidete, wäre wirklich ihr Denken. Wenn ich also fremdes Denken übernehme und mir zu eigen mache, dann ist das immer fremdes öffentliches Denken, nie aber fremdes privates Denken, und das heisst, ich kann überhaupt nicht so denken können, wie jemand anders denkt.

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Man kann sich natürlich fragen, wie gross die Verzerrung und der Verlust sind überhaupt, wenn privates in öffentliches Denken übersetzt wird. Sollten sie gering sein, dann würde ich, indem ich das öffentliche Denken von jemand anders übernehme, mich seinem privaten Denken zumindest annhähern. Nach meiner eigenen, persönlichen Erfahrung ist die Entfernung von Denken für sich zum Denken für andere aber eine gehörige, wenn nicht eine gewaltige. Ich würde sogar sage, dass das Denken für sich gar nicht ins Denken für andere übersetzt wird, sondern dass das eine nur zum anderen Anlass gibt. Wenn das aber so ist, dann ist das öffentliche Denken ein völlig anderes als das private, und dann gibt es von ihm vor allem keinen Weg zurück: Dann ist das öffentliche Denken eines anderen das einzige, was ich von ihm erfahre, und was er selbst denkt, für sich, das erfahre ich nie.

Eine Sammlung fremder Kleider


Es fällt mir ungeheuer schwer, zu denken wie ich, aber ich denke ja, wie ich denke. Ich denke zum Beispiel nach über den Geist, über das Denken. Ja, das ist ein Zirkel, aber ein Zirkel, der seinen Sinn hat. Ich denke nach, buchstäblich jeden Tag, darüber, was der Geist „ist“, wie er „funktioniert“, wie er „aufgebaut ist“, wie er mit dem Körper (vor allem dem Gehirn) und anderen Geistern (den Geistern anderer Menschen) zusammenhängt. Wozu? Weil – ich weiss nicht, ob es eine Antwort braucht. Weil alles, was Menschen machen, auf die eine oder andere Art und Weise in ihrem Geist stattfindet und ich das besser verstehen will. Vielleicht ist das der Grund, vielleicht auch etwas anderes.

Würde ich das öffentlich tun, also öffentlich nachdenken darüber, was der Geist „ist“, wie der Geist „funktioniert“ und so weiter, dann wäre das, was ich mache, Philosophie des Geistes. Dann gäbe es dafür Institute, Zeitschriften, Konferenzen; dann gäbe es das, was man „Diskurs“ oder „Debatte“ nennt. Aber ich tue es nicht öffentlich – ich denke für mich.

Und ich möchte auch gar nicht anders denken als für mich. Denn das öffentliche Denken ist das Denken der Bekleideten, das übersetzte Denken, das Denken, zu dem Anlass gegeben wurde von etwas, das mir verborgen bleibt, ein Resultat, ein Epiphänomen, von dem kein Weg zurück zum Ich führt. Aber was soll ich mit einem Denken, das nicht wieder bei mir ankommt? Ich will ja selber denken, ich will hier sitzen können und versuchen können, mir den Geist vorzustellen, wie er „ist“, wie er „funktioniert“, ich will meine Vorstellungen vom Geist mitlaufen lassen, wenn ich ein Buch lese oder an einer Diskussion teilnehme – dazu müssen diese Vorstellung bei mir sein, meine sein. Wenn ich aber am öffentlichen „Diskurs“ teilnehme, erhalte ich nur eine Sammlung fremder Kleider.

Hm, hier, so


Also denke ich weiter für mich. Das ist aber schwer, weil es wortlos ist – wenn ich überhaupt „Worte“ für es finden würde, dann klängen sie so: Das hier besteht aus hm, hm und hm, und wenn dann vielleicht so, hier, sowas darauf so, dann ... – aber sogar das ist bereits viel zu artikuliert. Wittgenstein hatte vielleicht Recht damit, dass es keine Privatsprache geben könne, ein Privatdenken gibt es aber mit Sicherheit.

Das Wort ist das Problem. Wollte ich mein persönliches Denken davor bewahren, mir zu entgleiten, müsste ich es in Worte fassen. Das Wort ist aber eine zwiespältige Sache: Es hält das Gemeinte ebensosehr fest, wie es es vertreibt. Мысль изреченная есть ложь. Es stimmt so nicht, aber es ist viel Wahres dran. Was bei hm, hier und so in einem einzigen Augenblick im Geist (und über den Geist) präsent wird, ein komplexes Zusammengesetztes, das wiederum aus zahlreichen anderen sos und hms und hiers besteht, für das existiert kein Wort, und wenn man eines fände, dann bedeutete es nichts oder das falsche, und wenn man dafür sorgen wollte, dass es das richtige bedeutet, brauchte man dafür ganze Bücher, für ein einziges Wort, um dieses zu erklären, und selbst dann, selbst wenn dieses Erklären gelänge, wäre das Wort doch immer ein Gefängnis, in dem das Gemeinte ersticken, eine Zwangsjacke, die es erdrücken würde.

Das macht das Denken so schwer: Dass man es nicht formulieren kann, ohne es zu zerstören, dass es aber, wenn man es nicht formuliert, sich selbst zerstört.

Die Crux des Konstitutiven


Hm, hm und hm, und wenn dann vielleicht so, hier, sowas darauf so, dann ... – das für-mich-Denken selbst ist noch viel vager als das, und vor allem ist es flüchtig. Damit das Denken Form, Dauerhaftigkeit, Reproduzierbarkeit bekommt, damit man auf es zurückkommen kann, es ändern, auf es aufbauen, braucht es Sprache. Es muss in Sprache gefasst werden. Aber diese Sprache ist zugleich, was es zerstört. Und es wäre so viel Sprache nötig, um nur ein einziges hm, das sich soweit abseits der etablierten Sprachlichkeit befindet (da es so privat ist), in Worte zu fassen (und durch diese Worte zu beschädigen, womöglich unbrauchbar, falsch zu machen), dass man nicht nur mit dem Reden zu keinem Ende kommt, wie es bei Salomon heisst, sondern noch nicht einmal zu einem Anfang.

Charles Taylor hat, in seinem Stück Bedeutungstheorien, über diese Funktion der Sprache geschrieben – dass man einen Gedanken erst dann „hat“, wenn man Sprache für ihn hat. Wie nannte er das? Die Funktion der Vergegenwärtigung? Ich muss das morgen nachsehen, das Buch ist nicht hier. 

[Nachtrag: Er nennt das „konstitutiv“, und hat noch „deskriptiv“ und „invokativ“. Das Konstitutive in der Sprache wirkt sich dadurch aus, dass das Gemeinte, indem es benannt wird, sich verändert: „Wenn wir folglich dahin gelangen, ein Gefühl auf eine neue Weise zu artikulieren, dann ist es häufig so, dass sich das Gefühl ebenfalls wandelt.“]

Hm. Hm, das heisst ... dahinter verbirgt sich ... das hat zu tun mit ... Hm „ist“ mehrerlei.

Man kann diese Operatoren, diese Verben wie „ist“, „funktioniert“ und so weiter nur in Anführungsstriche setzen. Weil man sie gebraucht, ohne eigentlich sie gebrauchen zu wollen, weil man sie eigentlich gleich wieder durchstreicht, zurücknimmt. Heidegger nannte das sous rature und hat die Wörter durchgestrichen, aber lesbar gelassen. Hm ist ... Hm besteht aus, in hm befindet sich ... mehrerlei: dreierlei: Schalten, Schwingen, eventual-Verschränkung.

Schalten, Schwingen, eventual-Verschränkung: Das sind drei Dinge, die man durchaus sagen kann, ohne dass sie unter den Worten gleich zerbrechen! Das ist ein Erfolg!

Über hm ist damit freilich noch nichts gesagt, es manifestiert, gewärtigt, gegenwärtigt sich davon noch nicht, was mit hm gemeint ist. Wobei ich es ja meine, und also weiss („weiss“, weiss), was gemeint ist. Aber ich habe das Gemeinte noch nicht.

Um es zu haben, um in den Stand des es-Habens zu kommen, um es zu bekommen, muss ich – – – ich muss verschiedene Schritte durchlaufen, vollführen. Der erste ist, zu artikulieren, wie ich diese drei Wörter, diese drei Ausdrücke –Schalten, Schwingen, eventual-Verschränkung – verstanden haben möchte. (Also: was sie für mich bedeuten sollen. Aber das ist das gleiche wie „wie ich sie verstanden haben möchte“, da die Bedeutung eines Wortes darin besteht, wie es verstanden wird.)

Schalten: an / aus, on / off, Exzitation / Inhibition, ja / nein, Affirmation / Negation.

Hier geht es um Neuronales, wie auch bei den anderen beiden. Warum, soll erst einmal offen bleiben.

[hier weitermachen. Dies führt in Richtung des Klangs, aber ich kann ihn nicht „Klang“ nennen, denn weder Schalten noch eventual-Verschränkung fällt unter Klang, also brauchte man (Un)Klang, Klang-nicht-Klang, etwas in dieser Art ...]

[Nachtrag: Die Gedanken aus dem ersten Teil müssen in Richtung auf eine informierte radikale Subjektivität weitergeführt werden. Eine Subjektivität, die nicht informiert ist, kann nichts zu sagen haben (nicht interssant sein), die Informiertheit ist der Mindestanspruch dafür, dass eine Subjektivität auf Interesse stossen kann.︎︎︎