Ethik-nicht-Ethik

Der Spuk des Guten


04.09.
Heute Nacht in einem dieser Halbwach-Zustände, die sich irgendwie derzeit häufig ungerufen einstellen, Gedanken zum Thema Ethik, bzw. Ethik-nicht-Ethik. Also jetzt deshalb:

Sollen und Wollen


Ich habe zwei Formeln:

Sollen ist simuliertes fremdes Wollen 

Gut ist, sich zu fragen, was gut ist

Die erste Formel, die Sollens-Formel, ist eine Variante dessen, was technisch voluntaristische Naturalisierung heisst: Zurückführung des moralischen Sollens (der Normativität) auf das psychologische Phänomen des Wollens (oder auf den Willen). Sie unterscheidet sich allerdings davon im Aspekt des „Simulierens“.

Genauer gesagt: Auch in den etablierten Theorien dieses Typs ist Sollen fremdes Wollen, sie gehen aber davon aus, dass das Wollen des Anderen ein an mich gerichtetes Wollen ist: Der andere will, dass ich ... – und ich kann diesem Wollen, das für mich als eine Forderung, ein Sollen in Erscheinung tritt, stattgegeben oder nicht.

In meiner Spielart der Formel wird das Wollen des Anderen allgemeiner verstanden: Hinter ihr steht ja die Idee, dass dieses „fremde Wollen“ eben nicht unbedingt an mich gerichtet sein muss (der Andere kann zum Beispiel Gesundheit wollen, aber nicht von mir, sondern generell), dass ich aber, wenn mein Handeln mit seinen Wollens-Zielen in Wechselwirkung tritt, sein Wollen mit in Betracht zu ziehen habe. Ich nehme also dieses Wollen des Anderen zur Kenntnis und mache es, insofern mein Handeln den anderen betreffen könnte, zu einem Teil meines eigenen Wollens, ich berücksichtige, „simuliere“ es. Zum Beispiel, indem ich Handlungen unterlasse, die dem Gesundheit-Wollen des Anderen hindernd entgegenstehen könnten. Das ist ja gerade ein sehr aktuelles Thema, wenn man an Diskussionen zu den Pandemie-Massnahmen denkt.

Es geht also in dieser Formel, in dieser Variante voluntaristischer Sollens-Formeln, um das Mit-Wollen des fremden Wollens in den Fällen, in denen mein Handeln es tangiert – unter einer Reihe von Bedingungen, über die man sich noch ausführlich Gedanken machen muss. „Simulation“ heisst dann: Mit einem Teil meines Wollens in das Wollen eines anderen hineinzusteigen – egal, auf wen oder was sich dieses Wollen bezieht.

Dieser kleine Unterschied, also nicht das an mich gerichtete Wollen des Anderen zu betrachten, sondern mein Mit-Wollen seines Wollens, ungeachtet von dessen Ziel und Adressaten, bringt, glaube ich, recht weitgehende Konsequenzen mit sich. Aber damit weiterzukommen erfordert viel technische Feinarbeit und vermutlich auch noch einige Lektüren (interessant z. B. in dem Zusammenhang: Hans Krämer, Integrative Ethik). Das deshalb erstmal noch zurückgestellt.

Prä-Ethik


Dann erst einmal von der anderen Formel her:

Gut ist, sich zu fragen, was gut ist

Das klingt zunächst wie eine Tautologie, wie eine Leerformel. Ist es aber nicht, jedenfalls nicht ganz. Tautologisch wäre: Gut ist, was gut ist. In der Formel hier kommt das sich fragen hinzu.

Und damit hat das Ganze einen Gehalt, wenn auch einen sehr offenen. Zum Beispiel: In Fällen, in denen mehrere Handlungsoptionen bereitstehen, ist es erst einmal gut, sich selbst daraufhin zu befragen, welche von diesen Optionen man für eine ethisch gute hält, die Optionen also nicht ausschliesslich in Hinblick auf, sagen wir, ihren unmittelbaren, praktischen Nutzen zu bewerten. Das Sich-Fragen entspricht also dem „überhaupt erst einmal in Gang Setzen“ der ethischen Erwägung (der ethischen Reflexion oder Introspektion oder vielleicht auch Meditation, je nach dem, was im konkreten Fall angemessen ist).

Das mag wenig erscheinen, aber ich bin überzeugt, dass dieser Schritt zur „ethischen Erwägung” in der Realität eben häufig gar nicht stattfindet. Oder er findet statt, bricht aber beim erstbesten Ergebnis bereits ab, während die Formel betont, dass gerade im Sich-Fragen, also auch im In-Frage-Stellen einer scheinbaren Gewissheit, der eigentliche ethische Wert besteht.

Wenn man dem Ganzen einen technischen Anstrich geben möchte, kann man sagen: Gut ist, sich zu fragen, was gut ist ist zum einen eine Initialformel (weil sie gewissermassen den Auftakt zum ethischen Erwägen gibt), sie ist zum anderen aber auch eine Persistenzformel, eine Formel des Fortsetzens und Beharrens, oder genauer eine Interrogations-Persistenzformel, eine Formel des Beharrens beim Fragen. Und das ist vielleicht sogar der wichtigere der beiden Aspekte. Denn er betont, dass ethische Entscheidungen häufig unter Bedingungen grosser Ungewissheit stattfinden, und dass man sich deshalb nicht mit der erstbesten Einschätzung, was denn nun „gut sein könnte“, zufriedengeben sollte. Die könnte, salopp gesagt, allzuleicht auch nach hinten losgehen.

Gerade wenn man sich viel mit ethischer Theorie beschäftigt, unterliegt man der Versuchung, sich der Illusion hinzugeben, dass jeder Mensch sich dieselben Fragen stellt, mit denen man sich selbst gerade befasst, und in ähnlicher Intensität. Das anzunehmen sehe ich aber keinen Anlass. Die meisten Menschen – oder nein, nehmen wir ein konkretes Beispiel, sagen wir: Ein Mensch in einer Machtposition, in einer bedrohten Machtposition, sagen wir: ein Diktator, dessen Handeln potenziell Auswirkungen auf viele andere Personen hat und damit ethisch relevant ist, stellt sich vermutlich ganz andere Fragen. Etwa: wie kann ich meine Macht gegen Bedrohungen absichern? Die Frage „was gut ist“ („gut“ immer in einem ethischen Sinne verstanden), wird für ihn eine geringere Rolle spielen. Und ich denke jetzt natürlich an die aktuelle Lage in Osteuropa.

Aber auch wir Nicht-Diktatoren stellen uns ja nicht stündlich und minütlich, bei jedweder Alltagshandlung oder Alltagsentscheidung, die Frage, „was gut ist“. Das ist auch sicher nicht immer erforderlich, man muss nicht stets mit der Lupe in der Hand die ethische Komponente in jeder Handlung suchen, und es ist wohl auch nicht anstrebenswert (oder auch nur möglich), ein „durch und durch guter Mensch” zu sein. Das ändert aber nichts daran, dass die Grundvoraussetzung für Ethischsein überhaupt erst einmal darin besteht, seine Handlungen oder sich selbst unter ethischen Gesichtspunkten zu betrachten und zu befragen. Darauf, dass das tatsächlich keine Selbstverständlichkeit ist, gibt vielleicht die derzeitige seltsame Verwendung des Ausdrucks „Gutmensch“ einen Hinweis. Oder ist er eher auf die gemünzt, die glauben, ganz und gar gut sein zu müssen?

So oder so – ich denke, die Formel Gut ist, sich zu fragen, was gut ist stellt in der Tat einen recht brauchbaren Ausgangspunkt dar, um sich über das Thema Ethik auf einer sehr basalen Ebene, einer Ebene unterhalb der technischen Details und der elaborierten Kasuistik ethischer Theorie, Gedanken zu machen. Die Formel selbst ist dabei vielleicht weniger eine eigentlich ethische als eine sub- oder prä-ethische. Aber als solche hat sie, denke ich, ihre Berechtigung. Denn das Basale, Einfache, das, was die Theorie vielleicht als selbstverständlich betrachtet, würde ich immer mit berücksichtigen wollen. Es geht der Theorie allzuhäufig durch die Lappen, ist im Leben und in der Praxis aber ja durchaus von Bedeutung.

„gut”


Natürlich steht und fällt die Formel mit dem Wörtchen „gut“. Aus der modernen ethischen Theorie ist es weitgehend verbannt. Man fragt stattdessen nach den Begründungen für ein Sollen (für eine Norm) oder nach den Geltungen von Werten, und das ist – vom jeweiligen Theorierahmen aus betrachtet – auch völlig korrekt und folgerichtig. Für ein pauschalisierendes „gut“, das immer irgendwie den Anspruch einer überzeitlichen, platonischen, metaphysischen Gültigkeit mit sich zu bringen scheint, ist da kein Platz.

Ich glaube aber dennoch, dass das Wörtchen „gut“ weiterhin seine Berechtigung hat, nur nicht als ein Adjektiv, das abgeleitet ist von einem abstrakten Begriff „des Guten“, sondern als eine Art Chiffre.

Eine Chiffre hat nicht im landläufigen Sinne eine „Bedeutung“. Man versteht sie nicht, indem man fragt: Was ist das? Was ist gut, das Gute? Sondern man versteht sie, indem man sich auf sie einlässt, sie aushorcht. Eine Chiffre, das ist nicht ein Zeichen im herkömmlichen Sinne, sondern eher ein Wink. Etwas, unter dem man sich vieles vorstellen kann, das Anlass zu vielen Assoziationen gibt, das ein ganzes Bündel, oder eine Konstellation, sehr unterschiedlicher und doch miteinander verbundener und verwandte Gehalte aufrufen kann.

Ein Wink hat keine Definition, und deshalb ist, wie ihn jemand deutet, mit welchen Gehalten er ihn verbindet, sicherlich eine recht individuelle Sache. Wenn ich mich in das Wörtchen gut vertiefe, wenn ich es aushorche, auskultiere, dann erscheint in meinem Inneren vielleicht eine Folge von Gehalten, oder es entsteht ein Raum aus Gehalten, durch den ich mich hindurch-vorstellen kann, etwas in der Art wie: gut – was über mich selbst hinausreicht – wo ich nicht allein ausschlaggebend bin, vielleicht nichtmal vor allem – was Folgen hat, die auch andere wünschen können – was zu tun hat mit Gerechtigkeit – mit Gleichheit – mit Achtung, mit Respekt – mit dem Gemeinsam-Leben – von Menschen, auch von anderen Lebewesen – gut: eine Art von Wärme – von Zärte – Vermeiden von Schaden – Vermindern von Leid – Mehren von Wohl – Mehren von Hoffnung – vielleicht vor allem von Hoffnung –

Das wäre natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Wenn ich es anschaue: Es hat einen etwas störenden Hauch von Pathos, das geht aber vielleicht nicht anders, wenn man solche sehr innerlichen, fast intimen Vorstellungsgehalte in einen ansonsten möglichst neutralen Text hineinzubugsieren will.

Zu welchen konkreten Handlungen oder Urteilen solche gut-Gehalte dann jeweils Anlass geben können, hängt natürlich von unzähligen Faktoren und Begleitumständen ab. Wer gut sein will, handelt sich eine Menge an Fragen und Problemen ein. Aber darum geht es in der Formel ja auch.

Ungefähr in so einem Sinne denke ich mir also das „gut“ in der Formel. Nicht als Verweis auf ein „substanzielles“, ausserhalb unserer selbst existierenden Gutes, sondern als einen Anlass, einen Wink, eine Chiffre, beim Gebrauch des Wortes Gehalte aufzurufen, die aus den verschiedensten Bereichen des Umgangs mit dem Ethischen stammen, und die rationalistische Nützlichkeits-Kalküle im Sinne des Utilitarismus ebenso umfassen können wie Elemente einer Tugend-Ethik oder, was mir wirklich von besonderem Stellenwert erscheint, den Aspekt des Hoffens, der doch immer irgendwie mit dem Guten und dem Ethischen verbunden ist.

Die Frage, warum man überhaupt gut sein wollen sollte (um sich dann weiterhin zu fragen, was gut ist), ist mit all dem noch nicht einmal angeschnitten. Aber ich bin mir sowieso nicht sicher, ob in diesen Dingen ausgerechnet die Begründung immer die Hauptsache ist. Ich muss nicht immer wissen, warum, damit mich etwas überzeugt.

Zwei Problem-Achsen


Ein solches Chiffre- oder Wink-artiges Verständnis von „gut“ bringt aber auch eine Reihe von Problemen mit sich, die man einmal systematisch und in Ruhe durchdenken muss (nicht jetzt). Vor allen Dingen sehe ich sie auf der Achse des Individuellen und des Kollektiven und auf derjenigen des Empfindens und des Urteilens.

Ein „gut“ im obigen Sinn, um das sich dann verschiedenartige, das Ethische orientierende Gehalte gruppieren oder das von diesen Gehalten angereichert wird, scheint in erster Linie etwas Individuelles zu sein. Das Aushorchen oder Auskultieren des Wortes findet schliesslich im eigenen Kopf statt, ebenso wie das ethische Abwägen eine individuelle Sache ist. Nun sind aber nicht alle ethisch relevanten Angelegenheiten auch individuelle Angelegenheiten – politische Entscheidungen von ethischer Bedeutung etwas werden kollektiv gefällt. Wieder anderes Sollen ergeht – ebenfalls nicht-individualistisch – aus der sozialen Praxis oder aus dem Diskurs heraus. Die Frage wäre also: Hat die Formel Gut ist, sich zu fragen, was gut ist auch einen Wert über das Individuelle hinaus, ist sie auch „kollektivistisch“ anwendbar?

Und auf der zweiten Problem-Achse: Eine solche Verwendung von „gut“ kann dazu verleiten, nicht die ethischen Probleme oder deren Bewältigung, sondern vor allem eine ethische Disposition im Sinn zu haben. In einer solchen Fokussierung auf das Ethisch-sein-Wollen (man könnte die Formel ja geradezu umformulieren zu: Ethisch ist, ethisch sein zu wollen) liegt aber eine beträchtliche Gefahr. Denn zum ethischen Urteilen braucht es mehr als nur die Bereitschaft, mit-menschlich, respektvoll, rücksichtsvoll usw. zu sein, und auch mehr als die, Kalküle der überpersönlichen Nützlichkeit, des Vermehrens von Wohl, der Verallgemeinerbarkeit usw. anstellen zu wollen. Man muss, damit die ethisch intendierte Handlung nicht verpufft oder sich gar in ihr Gegenteil verkehrt, auch hinreichend informiert sein über Begleitumstände und mögliche Konsequenzen, man muss überhaupt in vielerlei Hinsicht ein kompetentes Urteilsvermögen aufbringen, das seinerseits mit einem ethischen Impetus oder mit gut-sein-Wollen gar nichts zu tun hat, sondern seiner Natur nach eher kalt und berechnend ist.

Wie wir wissen, sind die Wege zur Hölle sind mit guten Vorsätzen gepflastert; davor, sie dennoch einzuschlagen, schützt die Formel vermutlich nur wenig. Aber das von einer präethischen, subtheoretischen Formel zu erwarten, wäre auch etwas zu viel verlangt. Es braucht eben, um über Ethik sinnvoll nachzudenken, auch noch einiges mehr.

Danebenschauen


Aber eigentlich wollte ich heute über etwas ganz anderes schreiben, das notiere ich jetzt noch kurz, bevor ich zuklappe. Was ich heute Nacht, in diesem Halbwach-Zustand, dachte: Die Ethik ist ein Spuk. Mit Spuk meine ich nicht „Phantom“. Ein Phantom wäre etwas, das nicht existiert, eine Illusion. Es gibt Autoren, und durchaus ernstzunehmende, die der Ansicht sind, dass es keine Ethik gibt oder sie keine Rolle spielt oder dass Ethik prinzipiell zu „nichts Gutem“ führen kann (die Antitheorie-Strömung, in ganz unterschiedlicher Weise John Caputo, Hans-Georg Moeller, natürlich Nietzsche, von Henning Ottmann gibt es diese „Negative Ethik“ ... ), aber darum ging es in dem „Traum“ (es war ja eigentlich keiner, es waren eher „plastische Gedanken“) nicht.

Kein Phantom also, sondern ein Spuk. Und mit Spuk meine ich – oder dachte ich mir heute Nacht – dass die Ethik zu diesen Dingen gehört, deren Anwesenheit man deutlich spürt, aber wenn hinschaut, sind sie nicht da. Also dass die Ethik – oder das Ethische, das wäre vielleicht der richtigere Ausdruck hier – einem sozusagen ein Kribbeln im Rücken macht, dass man ihren Atem im Nacken spürt, aber wenn man sich dann umdreht, dann ist dort nichts. Oder scheint nichts zu sein.

Oder – vielleicht ist das sogar das bessere Bild – die Ethik ist ein Spuk, weil man sie nur aus dem Augenwinkel sehen kann. Also am Rande des Gesichtsfelds ist sie da, aber sowie man den Blick hinwendet, nicht mehr. Sie lässt sich nicht fixieren, fokussieren. Man sieht sie sozusagen immer nur, wenn man danebenschaut.

Bewegung nimmt man ja zum Beispiel auch am Rande des Blickfelds wahr, und wenn sich dann herausstellt, dass dort eigentlich gar nichts war, das sich bewegen konnte, dann ist das sehr irritierend.

So oder so – was macht man, wenn die Ethik ein Spuk ist? Heisst das dann, dass man sich ihr überhaupt nicht kognitiv nähern kann? Dann wäre man wieder bei den Anti-Theoretikern, die Ethik entweder als nichtexistent ansehen oder als „in-intelligibel“, und die sind, denke ich, nicht auf der richtigen Spur. Aber wie nähert man sich kognitiv einem Spuk? ︎︎︎



Was man wollen soll


09.10.
Ich hatte diese Woche spontan diesen Post auf facebook geschrieben  mit dem Titel DAS WOLLEN BESTIMMT DAS VERSTEHEN. Manche würden zu dieser „Überformung durch das Wollen“ bias sagen, das ist mir aber zu technizistisch. Es macht nicht die Gewalt des Wollens deutlich, die sich hier auswirkt. Und manche würden auch von „Erkenntnis“ reden, ich bleibe aber bei Verstehen, denn man kann nicht eine falsche Erkenntnis haben, wohl aber ein falsches Verstehen, und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend.

Etwas so-hinwollen


Der Post zeichnete ein Bild, eine Art Schattenriss davon, dass man die Dinge versteht, wie man sie will. Wie entscheidend gerade dieser Ausdruck ist – dass man etwas so und so will – wurde im Post nicht klar, und es war kein Platz dafür, das zu erläutern. Ich sage ja bewusst nicht, man will, dass etwas so und so sei, obwohl das die übliche Ausdrucksweise wäre. Ich sage man will etwas so und so, und darin liegt ein sprachlich kleiner, inhaltlich aber grosser Unterschied. 

Wollen, dass etwas so und so sei, ist ein wünschendes Wollen. Der Wunsch besteht darin, dass man wünscht, etwas möge sich als so und so herausstellen. Der Wünschende (oder Wollende) ist dabei also eher passiv gedacht: Die Welt wirft ihr Los, und wenn alles gut geht, bin ich der Gewinner. Die Idee der bias bringt dann etwas mehr Aktivität des Subjekts ins Spiel, nämlich zumindest die einer aktiven (und parteiischen, verzerrten) Selektion der „Angebote der Welt“, aber diese Aktivität wird nur halbherzig dem wünschenden Wollen aufgepropft.

Anders ist das beim etwas so Wollen. Dieses Wollen ist von vornherein ein gestaltendes Wollen. Ich will etwas so – das Modell dafür findet sich nicht im passiven Hoffen auf den Ausgang eines stochastischen Prozesses, sondern in der aktiven Tätigkeit, am deutlichsten in der künstlerischen. Wenn ich mich zum Beispiel als Musiker an mein Instrument setze und etwas spiele und ich bin unzufrieden damit, was heisst das? Es heisst, dass das, was ich spiele, nicht ist, wie ich es will. Denn ich will es so und so – es kommt so aber nicht heraus. Bis ich es dann, nach mehrfachen Probieren, Experimentieren usw., mehr und mehr so hinbekomme. Der Vorgang, der auf dem Weg vom Misserfolg zum Erfolg stattfindet, besteht also gewissermassen darin, dass ich es so hinwill. Das Wollen hat, dadurch, dass ich will und gemäss diesem Wollen tue, einen unmittelbar gestaltenden Effekt.

Oder, vielleicht ist das das bessere Beispiel: Ein Maler, sagen wir, ein abstrakter Maler, bringt die Farbe auf seine Leinwand. Er hat natürlich eine Konzeption seines Bildes (oder jedenfalls seiner Methode) und auch gewisse Gründe für diese Konzeption, aber der Akt des Malens besteht im So-Hinwollen der Farbe. Man wünscht nicht, dass der Farbauftrag so und so sei und wartet dann, bis aus heiterem Himmel etwas mit der Farbe geschieht, damit man aus verschiedenen Versionen diejenige auswählen kann, die dem Wollen entspricht. Man wählt auch nicht, jedenfalls in den meisten Fällen nicht, aus einem Arsenal von künstlerischen Mitteln dasjenige aus, das man für angemessen hält, um ein Darstellungsziel zu erreichen, wie man in einem Baumarkt aus dem Regal entweder einen Hammer oder eine Bohrmaschine mitnimmt, je nach dem, was es im Haus zu werkeln gibt. Der Weg vom Wollen zum Tun ist ein direkterer. Man tut wollend, und damit stellt sich das Ergebnis ein. Das Wollen ist bereits das Tun oder es ist jedenfalls fast bereits das Tun.

Und so ist es auch beim Einfluss, den was Wollen auf das Verstehen hat. Das Verstehen wird vom Wollen unmittelbar so-hingewollt, etwas wird so-verstanden kraft des Wollens.

Kein Konstruktivismus


Das als erstes. Als zweites: Wer den Post oberflächlich liest, kann meinen, ich vertrete einfach einen Konstruktivismus, also eine Position, die, vereinfacht, sagt: die Wahrheit wird gemacht (und folgerichtig gibt es dann nicht „die“ Wahrheit, sondern ihrer mehrere).

So ist es aber nicht. Natürlich tragen Realismus („die Welt ist, wie sie ist“) und Konstruktivismus („die Welt ist für uns, wie wir sie uns machen“) seit jeher einen heftigen Konflikt miteinander aus, aber ich schlage mich in diesen Konflikt nicht auf die eine oder auf die andere Seite. Denn beide Seiten haben Recht – je nach Anwendungsgebiet. Und deshalb mache ich die Frage Realismus oder Konstruktivismus abhängig vom Material, mit dem das Verstehen (das vom Wollen beeinflusste, modulierte, dirigierte, bestimmte Verstehen) es zu tun hat.

Ich hatte da im Post geschrieben: „Die Frage ist, was das Material hergibt“, und:  „Wer Sars-CoV-2 als eine Schöpfung von Bill Gates versteht, weil er es so will, der »versteht« zwar etwas, aber dieses Verstehen ist ein Fahrrad aus Ton“ (vorher ging es darum, was sich aus Ton formen lässt und was halt nicht – das, was sich nicht formen lässt, wird dem Material nicht gerecht, es überdehnt, sprengt dessen Möglichkeiten). Dieser Verweis aufs Material ist es, was meine Position abgrenzt gegen den üblichen Konstruktivismus. Die Kunst liegt darin, die Grenzen des Materials auszuloten (auch das ist aus dem Post).

Manches Material zieht enge Grenzen – dann kann es auch nicht viele verschiedene Möglichkeiten des Verstehens geben, im Extremfall nur eine einzige. Wenn das Material, sagen wir, unser Planet ist, oder genauer: die Frage nach dessen Form, dann kann es nur ein einziges sinnvolles (richtiges, wahres, gutes, taugliches ...) Verstehen geben, nämlich das, dass diese Form eine runde ist. Wenn aber das Material heisst: „die Auswirkungen der Klimakrise“, dann ist das Spektrum der möglichen (sinnvollen, richtigen, guten, tauglichen, „wahren“ ...) Verstehensweisen gross. Dann gibt es tatsächlich mehrere „Wahrheiten“, die nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, und dann ist das Verstehen tatsächlich in ausserordentlichem Masse dem Wollen unterworfen.

Die Rolle des Wollens wird also umso geringer, je enger die Grenzen sind, die das Material vorgibt. Diese Grenzen sind aber nie definitiv zu bestimmen, deshalb müssen sie ausgelotet werden und deshalb wird auch immer über sie gestritten werden.
 

Das fremde Wollen überhaupt


Jetzt aber zu dem Thema, um das ich mich heute hier kümmern wollte. Ich hatte in meinem Post, mit einem vielleicht etwas kryptischen ethischen Pathos, am Ende geschrieben:

Was man nun aber sinnvollerweise wollen sollte, das ist die grosse Frage. Vielleicht gilt ihrer Beantwortung die eigentliche Sehnsucht.

Was man nun aber sinnvollerweise wollen sollte – allerdings, das ist eine Frage, und was für eine! Es ist eine der Varianten, in denen man die ethischen Kernfragen formulieren kann, die Fragen danach, was gut ist, wie man gut und richtig lebt oder wie auch immer man sie in Worte fassen will.

Es taucht übrigens auch hier wieder dieses Wort sinnvollerweise auch, das sich in letzter Zeit häufiger in meine Notizen einschleicht, nicht ohne Grund. Aber setzen wir es erstmal in Klammern. Man kann statt dessen auch sagen: Was man überhaupt wollen sollte, das ist die Frage.

Und meine Frage ist jetzt, wie weit man der Frage, was man überhaupt wollen sollte, mit der Formel beikommen kann: Sollen ist simuliertes fremdes Wollen.

Simuliertes fremdes Wollen


Ich hatte letzten Monat begonnen, mich mit dieser Formel auseinanderzusetzen (anderes Material dazu wartet noch darauf, in eine Form gebracht zu werden).

Wenn man einmal von der – bisher sehr kursorischen – Bestimmung ausgeht, dass moralisches Sollen (mein moralisches Sollen, die Tatsache, dass ich etwas soll) durch das Berücksichtigen, Inkorporieren, „Einpreisen“ des Wollens anderer Menschen zustandekommt (und zwar des „respektablen“ Wollen, aber diesen Punkt muss ich ebenfalls noch entwickeln), dann fragt sich: Ist das nur in konkreten Fällen so – wenn etwa das Wollen eines Verunglückten, dass ihm geholfen werde, zu meinem Sollen wird, ihm zu helfen? Oder hilft einem diese Formel auch bei der generellen Sollens-Frage weiter, bei der, was ich überhaupt soll, mehr noch, was ich überhaupt wollen soll?

Ich stelle mir das derzeit ungefähr so vor. Was ich wollen soll (überhaupt wollen soll), fliesst tatsächlich daraus her, was andere wollen (und zwar aus dem, was sie respektabel wollen, und um respektabel zu sein, muss ein individuelles Wollen wiederum andere, fremde Wollen in Betracht ziehen und inkorporieren). Es gibt keine andere Grundlegung des Sollens. Kein göttliches Gesetz sagt uns, was wir wollen sollen, auch kein Natur- und kein Verstandesgesetz. (Dass die Formel Wollen ist simuliertes fremdes Wollen dennoch einiges mit goldener Regel, kategorischem Imperativ und allgemein mit Reziprozität zu tun hat, liegt auf der Hand.) Das eigene Sollen ist immer irgendwie (!) ein Integral fremden Wollens.

Ein unmögliches Integral


Im „Integral“ – wie auch im „irgendwie“ – liegt natürlich der Haken bei der Sache. Um zu einer Einschätzung des Sollens überhaupt zu gelangen, müsste ich alle fremden Wollen in Betracht ziehen. Und zwar alle überhaupt. Und das heisst nicht nur, die aller derzeit existierenden Menschen (was bereits unmöglich genug ist), sondern auch die aller zukünftig existierenden, ausserdem die quasi-Wollen zumindest einiger mit höheren Strebensfähigkeiten ausgerüsteter nicht-menschlicher Lebewesen.

Dieses Integral zu bilden ist zwar notwendig für die Bestimmung oder auch nur Einschätzung des Sollens überhaupt (dessen, was ich überhaupt wollen soll), aber es ist auch ganz offensichtlich zu bilden unmöglich. Nicht nur kann es nicht gelingen, Daten über diese ins Unendliche strebende Anzahl von Wollen (im Plural) zu erheben. Es müssten auch noch dazu unabsehbar viele Wollen hypothetisiert oder prognostiziert werden (die der kommenden Generationen, der nicht-menschlichen Strebens-Akteure usw.), was keinerlei Aussicht auf Erfolg mit sich bringt. Beides zusammen macht das Integrieren über diesen Daten zu einer vollkommen aussichtlosen Angelegenheit.

Wertvolle Nebenwirkungen der Unmöglichkeit


Bedeutet das jetzt, dass die Formel Sollen ist simuliertes fremdes Wollen uns in Hinblick auf das Sollen überhaupt (die Frage, was man überhaupt wollen soll) in ganz und gar nichts weiterhilft? Das würde ich nicht sagen. Die Formel zeigt zwar, dass das überhaupt-Sollen sich nicht positiv bestimmen lässt. Das aber macht sie nicht wertlos. Im Gegenteil. Die Anwendung der Formel führt einen nämlich nicht nur zu der Einsicht, dass sich das überhaupt-Sollen nicht bestimmen lässt, sie zeigt darüberhinaus auch, warum es sich nicht bestimmen lässt und wie es sich denn bestimmen liesse – liesse es sich denn bestimmen. Und in beidem – in der Begründung der Unmöglichkeit des Bestimmens (der Zertrümmerung einer Bestimmbarkeits-Illusion) wie in der Skizzierung einer unerfüllbaren Bestimmbarkeits-Utopie – liegt ein substanzieller Wert.

Das, was man gewissermassen eine Nebenwirkung der Formel nennen könnte – nämlich, uns erst vorzuführen, dass und warum es nicht geht, zugleich aber auch, wie es aber würde gehen müssen, würde es denn gehen – stattet uns mit verschiedenen Sensibilitäten aus (oder es unterfüttert diese Sensibilitäten, sofern sie sowieso schon bestehen, was vermutlich bei jedem ethisch bewussten Menschen auf die ein oder andere Art und Weise der Fall ist). Und zwar zum einen mit der Sensibilität für das utopische Wollens-Integral selbst, zum anderen mit der Sensibilität für oder genauer gegen falsche, positivistische Sollens-Versprechungen.

Da gibt es noch mehr zu durchdenken, das ist noch mehr durchzuarbeiten. Aber die Richtung ist klar, die Richtung stimmt.

Der Versuch, die Formel anzuwenden – und die Einsicht, warum diese Anwendung zwar richtig wäre, aber auch undurchführbar ist – hat sozusagen eine Schutz- und eine Sendibilisierungsfunktion. Wer die Formel vom Sollen als simuliertem (berücksichtigem, inkorporiertem) fremdem Wollen an ihr Ende gebracht hat, der fällt auf keinen Aufruf, so oder so sei zu wollen, mehr herein; der spürt aber andererseits auch, wie das unerfüllbare Integral an ihm zieht und reisst, und wird sich ihm gegenüber daher niemals ganz verschliessen können. 

So scheint es jetzt sogar, dass sich die Unmöglichkeits-Formel vom „Sollen überhaupt“ mit der prä-ethischen Formel Gut ist, sich zu fragen, was gut ist im Verborgenen, sozusagen hinter ihrem Rücken, die Hand reicht. Oder sie einander zumindest mit den Fingerspitzen berühren.

[Wenn ich das Thema des Sollens (als simuliertes fremdes Wollen) demnächst noch einmal systematischer angehe, stellt sich auch wieder die terminologische Frage. Ich habe da weiterhin diesen Kandidaten Mandanz. Etwas, das etwas fordert. Der Begriff könnte hilfreich sein, um aus den etablierten Koordinaten des Moralischen herauszukommen – was ein Vorteil wäre bei dem Versuch, die Sache frisch zu denken. Das „Sollen überhaupt“ wäre dann so etwas wie die „Mandanz an sich“ oder die „Generalmandanz“. Schauen, ob das irgendwo hin führt.︎︎︎