Gnostiken (oder Ponimanzen?) und der mediale Mensch



[Dies ist die Fortsetzung von Unbehagen Philosophie]

III



24.09., nachmittag
Philosophie Philosophie Philosophie. Wenn ich ein Wort für eine Geistesdisziplin finden sollte, das noch zopfiger wirkt als dieses, dann fällt mir eigentlich nur „Theologie“ ein. Zufallsbekanntschaften im ICE-Grossraumwagen, denen man auf die Frage nach der eigenen Beschäftigung etwas mit „Philosophie“ antwortet, können ihre anteilnehmende Belustigung oft nur mit Mühe verbergen. Und wieso auch sollte es anders sein? Für das Publikum ist ein Philosoph entweder ein Mensch aus einer Zeit, die es nicht mehr gibt (daher kann es auch diesen Menschen nicht mehr geben) oder eine intellektuelle Plaudertasche, die zu allem etwas zu sagen hat, damit aber vor allem gutmütige ältere Damen um den Finger zu wickeln weiss.

Was hinter den verschlossenen Türen der Fakultäten getrieben wird, wo man sich über Dinge wie „Intentionalität“ Gedanken macht oder über „Erfüllungsbedingungen“, davon ahnt der Sitznachbar nichts. Und die Fakultätsnachbarn? Die Physik, die Biologie, die Soziologie, die Psychologie, die Geschichte, die Juristik – sie kommen alle gut ohne uns aus, auch wenn sie sich der Form halber in Kolloquien auch einmal mit Philosophen zusammensetzen, schliesslich muss man ein wenig Interdisziplinarität zelebrieren. Und ich, wo ich schon einmal vor der Philosophie geflohen bin, will ich denn überhaupt Philosoph sein?

Self-check.

Was will ich?

Denken. Plain thought nenne ich es manchmal, weil mir etwas an der Einfachheit gelegen ist. Denken ist wie gehen oder essen – es ist ein Prozess des In-der-Welt-Seins, und manche machen ihn sich eben zu ihrer Hauptaufgabe (bitte nicht das Essen). Aber warum sollte das „Philosophie“ heissen?

Ich versuche mitunter, es so zu sehen: Ich mache zwar nicht jene Philosophie (die akademische), dafür aber sone oder solche. Aber welche soll das sein? Es kommt doch immer wieder eine Bündelung von Philosophismen dabei heraus, deren Verhältnis zu „der“ Philosophie dann auch wieder alles andere als klar ist.

Und manchmal möchte ich einfach sagen: Guten Tag, ich bin Künstler! Konzeptkünstler.

So falsch wäre das nicht. Aber nicht weniger missverständlich.

Jetzt vorgestern Nacht schloss sich das Thema welche Philosophie wieder mit einem anderen kurz: dem Thema Wahrheit. Beziehungsweise, um den Aspekt einer gelingenden Erkenntnis erst einmal auszublenden, dem Thema der Verstehensweisen.

Verstehensweisen

Verstehensweisen – das ist für mich ein zentrales Konzept, wenn ich über Sprache nachdenke. Die Bedeutung eines Wortes ist in meiner Denkart seine Verstehensweise, die Art und Weise, wie es verstanden wird, seine Entendenz. Aber natürlich gibt es Verstehensweisen für alles Mögliche, nicht nur für Wörter.

Wenn man an die Politik denkt: Dort ist man ständig mit verschiedenen Verstehensweisen der Gesellschaft, der Weltlage usw. konfrontiert, oft mit solchen, die einander kategorisch ausschliessen (über die verschiedenen Verstehensweisen des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen habe ich mal begonnen, ein Buch zu schreiben). In Bezug auf die Pandemie, auf das Klima, auf die Migration – überall konkurrieren verschiedene Verstehensweisen miteinander (von denen mitunter die eine deutlich besser als die andere ist, dennoch wird die andere davon nicht verschwinden).

Das gleiche ist es bei zeitloseren Belangen, solchen jenseits der Aktualität: idealistische Verstehensweisen existieren in Spannung und Gleichzeitigkeit mit materialistischen; individualistische mit kollektivistischen; psychologistische mit soziologistischen; atomistische mit holistischen, prozessualistische mit statizistischen ... – das alles sind philosophische Verstehensweisen. Und überhaupt ist die Philosophie in vielerlei Hinsicht eine Disziplin der Verstehensweisen, oder sie lässt sich als eine solche deuten („verstehen“).

Bei der Lektüre von philosophischen Texten haben mich die hinter ihnen stehenden, oft verborgenen, meist aber erahnbaren Verstehensweisen immer am meisten interessiert. Fremde, noch unbekannte Verstehensweisen wollte ich mir aneignen, die Unterschiede, vor allem: die Qualitätsunterschiede verschiedener, mit einander unvereinbarer Verstehensweisen haben mein Fragen und meine Neugierde angestachelt, und wo ich in der Literatur keine Verstehensweisen finden konnte, die mich überzeugten, habe ich mich daran gemacht, selber welche zu entwickeln (etwa bei der Frage nach dem Geist, für den ich eine klangliche Verstehensweise habe).

Wie gesagt muss man Verstehensweise und Wahrheit klar auseinanderhalten. Verstehensweisen können wahr sein, müssen es aber nicht (und sie können auch mehr oder weniger wahr sein usw.). Es gibt ganz offensichtlich auch unwahre, „schlechte“ Verstehensweisen, die davon nicht weniger Verstehensweisen sind. Wer glaubt, Bill Gates haben das SARS-CoV-2-Virus entwickelt, versteht etwas falsch, aber „versteht“ etwas.

Natürlich ist es schwierig, bei Wörtern aus der Umgangssprache Bedeutungsaspekte voneinander zu trennen. Man kann „verstehen“ auch so hören, dass es eben doch immer irgendwie ein Gelingen von Verstehen impliziert. Ich möchte diesen Aspekt aber so weit es geht ausblenden.

Tut man das, dann gerät das Verstehen oder vielmehr das Verstehens-Ergebnis in die Nähe dessen, was alltagssprachlich Meinung heisst. Dass eine Meinung falsch sein kann, räumen wir gerne ein, allerdings würden wir eine richtige Meinung dann gerne schon nicht mehr Meinung nennen, sondern, zum Beispiel, Wissen. Immer hat die Umgangssprache ihre Tücken.

Welcher Begriff?

Will man sich nicht in den Bedeutungsnetzen der Alltagssprache verheddern, so braucht man – ganz wie bei den Verstehensweisen für Wörtern – auch für solche globalen, übergeordneten Verstehensweisen einen technischen Term.

Die Verstehensweisen von Wörtern nenne ich Entendenzen, weil französisch entendre einerseits verstehen, andererseits hören bedeutet und dieser Doppelaspekt dem entspricht, was ich mit dem Begriff im Sinn habe. Noch dazu ist das Wort frisch und unverbraucht (und es lässt eine Prozessualität erahnen, an der mir ebenfalls viel gelegen ist).

Globale Verstehensweisen unterscheiden sich aber sehr von Verstehensweisen von Wörtern. Zunächst einmal darin, dass sie keine Verstehensweisen von etwas sind. Idealismus und Materialismus, Individualismus und Kollektivismus, Prozessualismus und Statizismus usw. sind zwar, wenn man so will, Verstehensweisen von „der Welt“, vielleicht von „der Gesellschaft“, aber Welt und Gesellschaft sind nicht „etwas“, und daher sind diese Verstehensweisen vor allem Verstehensweisen überhaupt. (Ein wenig anders ist es in Bezug auf politische Belange, Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus, oder auch in Bezug auf das Russland-Problem – in diesen Fällen hat das Verstehen schon eher ein „Objekt“ – dennoch niemals in einer ähnlichen Art, wie ein Wort eine Bedeutung hat bzw. die Bedeutung eines Wortes als seine Verstehensweise betrachtet werden kann.)

Für solche globalen Verstehensweisen existieren bereits die verschiedensten Begriffe, von denen jedoch keiner wirklich den Nagel auf den Kopf trifft. Eine zeitlang war es in Mode, von Paradigmen zu reden, etwas ähnliches meinen, wenn auch aus einer anderen Ecke kommend, Foucaults Epistemen, schaut man es historisch an, dann könnte man den Begriff Ideen wählen (wie in Ideengeschichte), mit Blick auf das Interpretatorische des Verstehensvorgangs wäre auch Hermeneutiken denkbar, darüberhinaus befinden sich in diesem Umfeld Begriffe wie mindset, vielleicht, wenn man es ganz global fassen will, auch noch Weltanschauung, sogar Ideologie, oder, eine zeitlang einer meiner Favoriten, geistige Matrize ... – aber keiner dieser Ausdrücke passt genau, und im feinen Unterschied liegt hier das Entscheidende.

Ich suche also ein anderes Wort. Ich bin nicht sicher, ob ich eines gefunden habe. Wozu ich derzeit immer wieder komme, wenn auch nicht ganz ohne Skrupel, das ist das Wort Gnostik. Aber ist das wirklich eine gute Wahl? Es gäbe ja auch noch andere Möglichkeiten. Etwa die, die es immer gibt, wenn man etwas bislang Unbenanntes benennen möchte, nämlich, sich einfach ein Wort auszudenken, ein vollkommenes Kunstwort zu schaffen. Aber ich schrecke davor zurück, obwohl ich es schon mehrfach versucht habe: Es erweckt immer den Anschein, man wolle ein neues Automodell oder Medikament auf den Markt bringen und brauche nun einen Markennamen dafür. Ausserdem kann ich mir Phantasiewörter selbst nicht merken.



IV



25.09.
Leider kann ich in diesem notepad keine Fussnoten machen, sonst würde ich hier eine einfügen zu meinem grössten terminologischen Wunschtraum.

1

Wir haben ja ein Problem, ein wirklich ernsthaftes Problem mit dem Reservoir an Wortstämmen und Wörtern, aus dem wir unsere technischen Begriffe bilden können. Als Quellsprache gibt es nicht viel anderes als Griechisch oder Latein. Gelegentlich gelingt es auch einmal dem Englischen, einen Begriff zu prägen, der dann zu uns herübergeschwemmt wird. Mit „Entendenz“ habe ich mich beim Französischen bedient. Aber im Regelfall ist die Herkunft von Fachbegriffen altsprachlich. Von Epistemologie bis deontologisch, von Denotation bis Phänomenologie, von konativ bis kognitiv (konativ = wollenshaft, wird oft neben affektiv und kognitiv gestellt) – Griechisch, Latein, Latein oder Griechisch.

Dieser Vorrat taugt für manches, aber nicht für alles, und für das, was gerade besonders nötig ist, taugt er oft nicht. Er bringt immer einen bestimmten gelehrten Unterton mit sich – aber was, wenn man ein Wort braucht, das zwar technisch und präzise, nicht aber gelehrt ist? Einen technischen Pop-Begriff? „Mindset“ könnte ein Beispiel dafür sein, auch wenn es sich nie in der gleichen Art technisch etabliert hat wie, sagen wir, „Mentalität“.

Ausserdem drängt das griechisch-lateinische Vokabular dem von ihm Bezeichneten bereits eine spezifische Grundkategorisierung auf. Der Vorteil dieser Wörter – nämlich, dass sie von vornherein einen, wenn auch durch den grossen zeitlichen Abstand teilweise „verwaschenen“, Sinn besitzen – entpuppt sich hier als ein Nachteil: Man kann sich zwar unter einer altsprachlichen Wurzel meist ungefähr etwas vorstellen, aber man muss sich eben auch etwas vorstellen, ob man möchte oder nicht. Der Tatsache, dass solche Wurzeln Kategorien „vorwählen“, kann man nicht entgehen. Wenn ich zum einen Begriff bilden möchte, der sowohl mit der Sphäre des Ästhetischen wie mit der des Ethischen zu tun haben soll, sich aber keiner von beiden eindeutig zuordnen lässt, dann bin ich mit griechisch-lateinischen Vokabeln schlecht beraten. Sie verhalten sich immer in irgendeiner Weise affirmativ zu den etablierten Kategorien der europäischen Antike, die man ja aber vielleicht gerne überwinden möchte.

Und deshalb – und das wäre nun endlich die Fussnote, die ich gerne machen würde – träume ich immer wieder davon, eine andere, unverbrauchte Sprache für die Bildung technischer Begriffe nutzbar zu machen, eine, die selbst genug Distanz zu den Traditionen der europäischen Antike mitbringt, aber andererseits wieder nicht so fremd ist, dass sie als etwas semantisch Antipodisches wahrgenommen würde.

Chinesisch scheidet also mehr oder weniger aus – wobei, generell sind ostasiatische Sprachen natürlich schon ein Kandidat, und manche Term-Anwärter haben es ja auch tatsächlich bis in die letzte Auswahlrunde geschafft, wie zum Beispiel Karma.

Karma, könnte man sagen, ist ein Beispiel für einen „fast-terminus-technicus“, der aus einem fernöstlichen Vorrat zu uns herübergekommen ist, nämlich aus dem Sanskrit (und dem modernen Hindi). Aber er hat es eben auch nur fast ins technische Vokabular geschafft – er ist, vom Inhalt wie von der Anmutung her, dann doch zu „esoterisch“, um sich in der europäischen Reflexion in einer Schlüsselrolle zu etablieren. Dennoch gibt er ein Beispiel dafür, was geht – oder was gehen könnte.

Eine gute Zwischenposition, in mehrfacher Hinsicht, in geographischer wie linguistischer, und damit beste Voraussetzungen als Quelle neu zu bildender Begriff scheint mir eine andere, von der Philosophie wenig beachtete Sprache zu haben: das Georgische. Kaum jemand hier beherrscht es (mich selbst leider eingeschlossen)– Vorkategorisierungen sind nicht zu erwarten. Andererseits sind die Wörter nicht semantisch leer, wie es Kunstbegriffe wären. Und was dazukommt: Die Georgier sind ein melomanes Volk, das akustische Vokabular ihrer Sprache ist reich entwickelt (was den Eskimos Schnee ist, das ist den Georgiern die Musik), und von daher besteht Hoffnung, Wurzeln ausgraben und importieren zu können, die die fatale Festlegung des griechisch-lateinischen Westens auf das Visuelle wenn nicht korrigieren, so doch ein wenig konterkarieren können.

Ich hatte man so einen Versuch gemacht, als ich noch glaubte, dem Thema des akustisch verstandenen Geistes mit einem philosophischen Roman bekommen zu können: Dort gab es Dzalvebi – Disziplinen des Bemühens um etwas, die sowohl wissenschaftliche wie künstlerische Untersparten umfassten (wie gern würde ich die Philosophie als eine Dzalva (ძალვა) betrachten!), es gab die Mosmena ( მოსმენა), den Akt des hineinlauschenden Verstehens, es gab ein kombiniertes Pronomen, mechven, zusammengesetzt aus ich und wir, ein ichwir, das in der Kultur des Romans verwendet wurde, um die Berücksichtigung des Anderes, des Nächsten auszudrücken, die Inkorporation des fremden Wollens ins eigene Wollen ... – Warum nicht so etwas statt in Romanen auch in Theorien verwenden? 

2

Humor. Warum habe ich darüber gestern nichts geschrieben. Was der akademischen Philosophie fehlt, ist Humor. Klar, es gibt Texte mit gelehrten Witzeleien. Aber das ist nicht das gleiche. Humor bringt einen Text zu Schweben. Nicht zum Fliegen – zum Schweben. Wie übrigens auch innere Widersprüche, Paradoxien, einen Text zu Schweben bringen können. Aber beides meiden die Philosophen wie die Pest. Humor scheint ihnen die Ernsthaftigkeit ihrer Unternehmen zu beschädigen, und innere Widersprüche – über innere Widersprüche muss ich kein Wort verlieren. Sie gelten als das Gift, nein, als der Schimmel des konsistenten Denkens. Was widersprüchlich ist, das kann man wegwerfen. Was natürlich Blödsinn ist, aber das ist ein anderes Thema. So oder so, Philosophen haben gemeinhin kein Interesse daran, ihre Texte zum Schweben zu bringen. Was ich für falsch halte. Denn viele Gegenstände der Philosophie, vermutlich sogar die meisten, erfordern gerade das Schweben, ein Text, der ihnen angemessen sein will, muss schweben.

(Wittgenstein hat glaube ich irgendwo einmal gesagt, man könnte ein ganzes philosophisches Werk nur aus Witzen – hat er wirklich dieses Wort benutzt? – nur aus Unernst aufbauen. Hätte er es nur versucht! Gerade ihm hätte es gelingen können!)

3

Und noch etwas habe ich vergessen! Seltsam. Denn das ist es ja eigentlich, was ich am häufigsten sage, wenn man mich fragt, was mich an der Philosophie, an der etablierten, der akademischen Philosophie so stört. Sie ist mir zu nerdig! Aber es ist auch böse. Aber es ist auch wahr.

Die Philosophie, wie sie in den Universitäten betrieben wird, glänzt durch eine seltsame Verbindung von Versponnenheit und Pedanterie. Selbst die Revoluzzer in der Philosophie sind Nerd-Revoluzzer. Es fehlt das ... – was soll ich jetzt sagen. Es fehlt die Unverschämtheit? Es fehlt das Leben? Es fehlt das pochende Blut? Das kann sehr falsch verstanden werden, gerade in der Philosophie! Die Originalität, der Wagemut, die Lust ... Vielleicht habe ich nur nicht die richtigen Philosophen getroffen. Aber ihre Bücher müsste ich doch wenigstens in den Händen gehabt haben?

Gnostik

Gnostik also, als Kandidat für einen technischen Begriff für globale Verstehensweisen. Aus dem ewig gleichen Vokabelvorrat der Antike, aber was bleibt einem anderes übrig. Das heisst ... – eine zeitlang hatte ich noch etwas anderes in Betracht gezogen: Ponimanz. Von russisch ponimat’ (понимать), verstehen.

Ponimanz, ein Verstehen, eine Verstehung, eine Verstehensweise, mit dieser Endung -anz, die das Prozessuale anzeigt und die ich so liebe – für mich persönlich funktioniert das gut. Aber wer Russisch nicht beherrscht, der denkt womöglich eher an Pomeranzen ...

Vielleicht ist in diesem Fall wirklich Gnostiken das Wort der Wahl. Es ist semantisch recht offen – gignōskein kann bedeuten erfahren, wahrnehmen, unterscheiden, beobachten, urteilen. Es bringt aber andererseits – über kognitiv, Prognose, Diagnose etc. – eine gut wahrnehmbare Verbindung zum Bedeutungsfeld der „mentalen Verarbeitung“ mit sich, und es ist über historische Erscheinungen wie die religiöse Gnosis mit Anklängen an etwas aufgeladen, das über das rein Rationale hinausgeht. Vor allem aber ist Gnostik, im Gegensatz zu Episteme, nicht von vornherein auf die Bedeutung einer gelingenden Erkenntnis festgelegt. Während es verwirrend wäre, von einer falschen Episteme zu reden, wirft die falsche Gnostik kaum grössere Probleme auf.

Natürlich ist es schon eine gewisse Begriffsmanipulation, „Gnostik“ im Sinne von „Verstehensweise“ zu verwenden. Aber letztlich ist jede Wiederverwendung eines antiken Terminus eine Um-Verwendung und damit eine Manipulation.

Gnostiken sollen also Verstehensweisen in einem globalen Sinne sein – die Arten und Weisen, wie unterschiedliche Menschen etwa die Klimaproblematik verstehen oder die Pandemieproblematik, oder die philosophische Frage nach dem, was ist oder nicht ist (zum Beispiel mit einer idealistischen oder materialistischen Gnostik), oder die Fragen von Mensch und Gesellschaft (mit einer individualistischen oder kollektivistischen Gnostik) und so weiter.

Und dabei heisst, dass es zu irgendetwas irgendeine spezifische Gnostik gibt, erst einmal nicht mehr, als dass es möglich ist, diese Thematik oder Problematik (diesen Belang) auf eine spezifische Art und Weise zu verstehen, unabhängig davon, ob das nun ein richtiges oder falsches Verstehen (ein Missverstehen) ist, ein gutes oder schlechtes, ein angemessenes oder unangemessenes, ein gelungenes oder nicht gelungenes oder jeweils irgendetwas dazwischen oder etwas, in dem sich das eine mit dem anderen vermischt und verschränkt.

Diese, wie man sagen könnte, epistemische oder veridische Neutralität von Gnostik eröffnet die Möglichkeit, den Begriff durch Hinzufügen von Adjektiven in den verschiedensten Weisen zu modifizieren, etwa: adäquate Gnostik, inadäquate Gnostik, subtile Gnostik, grobe Gnostik, schlichte Gnostik, paradoxe Gnostik, modale Gnostik, etablierte Gnostik, experimentelle Gnostik usw. usf.

Von dieser semantischen Flexibilität erhoffe ich mir sehr viel. Auch – wenn auch nicht nur –, was die grossen aktuellen Kontroversen betrifft, bis hin zu einer Anwendung auf die Frage der „Verschwörungstheorien“. Die natürlich auch Gnostiken sind. Aber was für welche?

Medial

Nun ein Sprung, und danach einige Fäden (vorläufig) zusammenfügen.

Der Sprung geht zum Normalen, Originellen, Normal-Originellen und so weiter.

Oben hatte ich mir zweimal über das Verhältnis der Philosophie zum „normalen Menschen“, den ich nicht so nennen möchte, Gedanken gemacht.

Der eine Gedanke war, dass man Philosophie – einen Teil des Disziplinenbündels dieses Namens – als Fortführung, Intensivierung, Professionalisierung, Systematisierung eines „normalen“ Denkens ansehen könnte, das dann so „normal“ doch wieder nicht ist (es gibt hier eine Nähe und eine Ferne zu G. E. Moores „common sense“), als eine Fortführung und Intensivierung dessen, was sowieso gedacht wird oder an-gedacht wird, und zwar von „jedermann“, wobei es sich bei diesem „jedermann“ eben an der Peripherie seines Denkens abspielt und er es, weil nicht-Philosoph, kaum weiterdenken wird.

Der zweite Gedanke drehte sich nicht darum, was Philosophie sein könnte (oder ein Teil von ihr, ein Strang von ihr), sondern darum, worin die etablierte akademische Philosophie versagt oder worin sie doch wenigstens meiner Ansicht nach grosse Defizite hat.

Und das ist, dass sie kaum zum „normalen Menschen“ durchdringt (noch einmal: dieses „normal“ ist kein normal und wir werden es gleich eliminieren), obwohl sie für ihn nützlich und sogar unabdingbar wäre. Dieses Nicht-Durchdringen liegt, wie gestern notiert, weniger an einer mangelnden „popularisierenden Vermittlung“ der akademischen Philosophie als vielmehr daran, dass die Philosophen keine Denkwerkzeuge für den „normalen-nicht-normalen“ Menschen herstellen, keine Heuristiken oder Daumenregeln, mit denen sich die Welt dann auch tatsächlich navigieren lässt. (Hier könnte man eine gewisse Nähe zum Vorwurf des „Rückzugs in den Elfenbeintrum“ sehen, der der akademischen Philosophie gelegentlich gemacht wird. Ich würde mich diesem Vorwurf aber so nicht anschliessen, denn es gibt durchaus Disziplinen, die in den Elfenbeinturm hineingehören, und andererseits sitzt ja beileibe nicht die ganze Philosophie in ihm.)

Das Problemwort „normal“ also. Dieser Mensch, den ich mir vorstelle, der Mensch, für den die philosophischen Heuristiken gemacht sein müssten, dieser nicht fachlich gebundene, aber gebildete Mensch, dieser Mensch, der gewissermassen der gesellschaftlich aktive Durchschnittsmensch unserer westlichen, aufgeklärten, industriellen, sich globalisierenden Zivilisationen ist, wie soll man ihn nennen? „Normal“ scheidet schon deshalb aus, weil es eine Norm aufzustellen scheint, um die es aber nicht geht; nicht normativ, sondern deskriptiv wollen wir an diesen Menschen herangehen. Wer ist er? Was charakterisiert ihn? Was charakterisiert ihn just heute und hier, als ein Differenzkriterium, das ihn vom „normal-nicht-normalen“ Menschen anderer Epochen, anderer Zivilisationen unterscheidet?

Es liessen sich sicher viele Kandidaten für ein solches charakterisierendes Kriterium finden, aber dasjenige, das ich auswähle, ist das Kriterium der Medialität. Der heutige Mensch ist, insofern er in einer medialen Welt lebt, aus der er sich nicht zurückziehen, aus der er nicht aussteigen kann, einer Welt aus pausenlos fliessender Information, die ihn beständig dazu zwingt, Meinungen zu haben oder zumindest doch zu bewerten und einzuordnen, die ihn beständig in die Lage bringt, in Antwort auf Medien denken zu müssen, ein medialer Mensch... – das dann weiter entwickeln.

Statt Philosophie?

Weiter Fäden verknüpfen, Zusammenfügen. Das Thema der Philosophie (und des Unbehagens in oder mit ihr) ist mit der Frage des „Normalen“ (und das heisst eben nicht Normalen) und des Medialen schon in einen ersten Kraftschluss gebracht worden. Was noch fehlt, ist die Gnostik.

Als ich vorgestern nachts aufwachte und mir zunehmend deutlich wurde, dass ich meine Unzufriedenheit mit der etablierten Philosophie sowieso nicht ausreichend vollständig und differenziert werde in Worte fassen können, und dass ebenso alle Meta-Ideen darüber, was Philosophie denn meiner Ansicht nach sein sollte und vor allem: wie ich mein eigenes „Programm“ formulieren will, immer am eigentlichen Kern dessen, was mir vorschwebt, vorbeigehen müssen, drehten sich die Gedanken mehr und mehr um diesen Gnostik-Begriff. Oder um das, was hinter ihm steht.

Ich glaube sicher nicht, dass der Umgang mit Gnostiken (ihre Erkundung, Analyse, Diskussion, Hervorbringen ...) die ganze Philosophie ist. Dazu gibt es zu viele Philosophismen, die nichts oder nur sehr wenig mit Gnostiken zu tun haben (etwa Sensibilisieren. Kritisieren. Praktizieren). Ich glaube noch nicht einmal, dass ich mein eigenes Philosophieren mit „Gnostikologie“ („Gnostizismus“, „Gnoseologie“, wie auch immer) treffend würde benennen können. Und dennoch hat, von Gnostiken auszugehen, gegenüber all den Versuchen, die Missstände der Philosophie zu begreifen und sich Programme für eine bessere Philosophie vorzustellen, einen gewaltigen Vorteil: Man kann etwas tun, anstatt nur zu jammern.

Und von daher ist der Zusammenhang zwischen meinen Versuchen, Licht in meine Philosophie-Verwirrung zu bringen, und dem Nachdenken über „Gnostiken“ dann doch wieder ein recht unmittelbarer: Das zweite ist die Rückseite des ersten. Oder es lässt sich als diese Rückseite gestalten.

*

Was fehlt nun noch? Vor allem, scheint mir, ein Nachdenken – im Kontext des Medialen einerseits, in dem der Gnostiken andererseits – über das Mem, als ebenfalls epistemisch oder veridisch zunächst neutraler Sinn- oder Bedeutungseinheit. Hier muss es also – abgesehen vom Thema der Gnostiken, das sowieso entwickelt werden muss – demnächst weitergehen. ︎︎︎