Intellektuelle Konjunkturen


03.07.

Zu intellektuellen Konjunkturen. Ich habe gerade mal nachgeschaut – es ist genau (und nur) 17 Jahre her, dass ich in einem Berliner Café in einen mittleren Eklat verwickelt war. Zu dieser Zeit stand, zumindest in Deutschland, noch das Wort „evolutionär-“ vor den wichtigsten Moderichtungen der Menschen- und Gesellschaftskunde, an so ziemlich der gleichen Stelle, an der derzeit gerade „kritisch“ steht. Und dementsprechend galt damals alles als „geworden“, was heute als „gemacht“ gilt – von den Bedingtheiten der menschlichen Erkenntnisweisen bis zum, versteht sich, Geschlecht und seinen jeweiligen (angeblichen?) Spezifiken.

Eigentlich sollte es bei diesem Treffen um eine gemeinnützige Angelegenheit gehen, für die ich überlegte, etwas zu spenden – ein guter Freund aus der Philosophie hatte uns zusammengebracht, ungefähr mit den Worten: Ihr könnt sicher auch sonst etwas miteinander anfangen. Ha, und ob.

Wir sassen da, es könnte im „Il Pane e le Rose“ gewesen sein, am Nachmittag, drinnen, und relativ schnell wurde im Gespräch mit meinem neuen Bekannten klar, dass sein Spendenanliegen nicht meins war, also wechselten wir die Themen. Was ich nicht wusste: Mein Gegenüber war Psychologe, gerade promovierend oder gerade fertigpromoviert. Und nicht irgendein Psychologe, sondern Evolutionspsychologe.

All diesen intellektuellen Schulen mit den vorangestellten Attribut „evolutionär-“ ist ja bekanntlich eines gemeinsam: Sie leiten Phänomene, die beim Menschen oder in der menschlichen Gesellschaft beobachtbar sind, aus ihrer jeweiligen evolutionären Vorgeschichte her. Und zwar ausschliesslich aus dieser. Und das, wie ich feststellen durfte, oft mit grossem Engangement für die Sache.

Mein Gegenüber jedenfalls erklärte mir, dass alles, was der Mensch tut, empfindet, will, ja was er überhaupt ist, einzig und allein ein Produkt der Evolution sei und nichts anderes sonst, und dass er, der Mensch, folglich auch keinerlei eigene Gestaltungsmacht über dieses Tun, Empfinden und Sein besässe ausserhalb des von den evolutionären Kräften gesetzten Rahmens, deren Auswirkungen sich aber bekanntlich erst über Jahrhunderttausende bemerkbar machten und die zudem vom Menschen nur bedingt steuerbar seien.

Das heisst, er glaubte mir das alles zu erklären, denn neu war es für mich ja nicht. Ich hatte ein paar Jahre vorher meine sich anbahnende Unikarriere zugunsten Russlands und, wie soll man sagen: „des Lebens“ abrupt abgewendet, und angebahnt hatte sie sich mit eben just den Themen der Theorie der (allerdings: strikt biologischen) Evolution. Ich war auf dem Laufenden. Und alles andere als beeindruckt.

Ich weiss nicht mehr, wie ich im Detail argumentierte, jedenfalls hielt ich dem verabsolutierten Evolutions-Naturalismus meines Gesprächspartners – wir nippten da noch halbwegs entspannt unseren Cappuccino – entgehen, dass, sicher, ja, das eine oder andere in Anthropologie und Soziologie fraglos auch durch seine evolutionäre Vorgeschichte mitbedingt sei, dass aber andererseits der Mensch doch einen gewaltigen Spielraum des eigenen Gestaltens und Konstruierens (ob ich dieses letzte Wort damals ausdrücklich gebrauchte, weiss ich nicht) besässe, und ausserdem müsse man ja auch die Frage der Willensfreiheit bedenken, die alles andere als einfach zu knacken sei und jedenfalls nicht mit einer pauschalen „Negation qua Evolution“ auszuhebeln.

Wenn ihr nun einen showdown mit auf den Gegner zufliegenden halbvollen Kaffetassen und angekauten Kuchenstücken erwartet, muss ich euch zwar enttäuschen. Dennoch. Mein Psychologe verteidigte den evolutionären Zugriff zunächst leidenschaftlich, dann mit Zähnen und Klauen, dann war es keine Verteidigung mehr, sondern ein hochverärgertes, hochempörtes Beharren, und zwar in der Tat mit dem sprichwörtlichen hochroten Kopf: So, so, und nur so! Anders kann es nicht sein und anders ist es nicht! Und alles was ich, der (selbst evolutionär verankerte) Skeptiker des evolutionären Überschwangs, der Verallgemeinerung und Verabsolutierung des Evolutionären, hier an scheinbaren Argumenten gegen die totale evolutionäre Bestimmtheit von allem überhaupt vorbringe, liesse sich natürlich, etwas mehr Zeit und genauere Ausführungen vorausgesetzt, doch wieder auf evolutionäre Faktoren zurückführen. Evolutionär, evolutionär, evolutionär! Alles andere sei schlicht falsch, falsch, falsch! Und dass ich dieses Falsche überhaupt zu äussern wagte, schien für meinen Gesprächspartner nicht nur einen persönlichen Affront darzustellen, sondern einen Affront gegen die Wahrheit und die intellektuelle Redlichkeit selbst.

Wir haben es irgendwie geschafft, unsere Stimmen und uns selbst soweit im Zaum zu halten, dass wir das Café in entgegengesetzte Richtungen verlassen konnten, ohne von einem durch unsere Unterredung hervorgerufenen öffentlichen Aufruhr dazu gezwungen worden zu sein. Es war knapp.

Ich erzähle das, weil heute das „evolutionär-“ vor den Disziplinen der Menschen- und Gesellschaftskunde im gleichen Masse verpönt, ja ein Affront gegen die Wahrheit, die intellektuelle Redlichkeit und zugleich sogar die Grundlagen der menschlichen Moral ist, wie es damals ein Affront war, gegenüber diesem „evolutionär-“ skeptisch zu sein. Und zwar in genau den gleichen fortschrittlichen und tonangebenden Gruppen des intellektuellen Lebens.

Leute. Nicht nur gilt sic transit gloria mundi auch für jene Denkschulen, die sich (im Unterschied zu den physikalisch-empirischen) der ephemeren Gegenstände des Menschlichen und Gesellschaftlichen annehmen. Was heute der letzte Schrei ist, das wird morgen von gestern sein. Aber sowieso: Woher nur kommt dieser blinde Glauben an die totale Theoretisierbarkeit der Welt? Wie erfahrungsarm, wie vorstellungsblass, wie unbelesen muss man sein, um glauben zu können, dass mit einem einzigen Zugriff, einem einzigen Ansatz, zudem mit dessen hemmungsloser Verallgemeinerung und Absolutsetzung – „alles evolutionär!“ – „alles konstruiert!“ – den schwindelerregenden Erscheinungen des Menschlichen oder des Gesellschaftlichen irgendwie Genüge getan sein könnte? Eine haarsträubende Naivität. Und ein Affront gegenüber der Wirklichkeit.

Damit will ich nicht sagen, dass ich meine, man sollte dann doch besser das Denken überhaupt aufgeben. Ganz und gar nicht. Aber man kann doch bitteschön ein wenig raffinierter denken, und ein wenig vielfältiger.

Selbstverständlich ist nicht alles evolutionär und naturalistisch, aber ebenso selbstverständlich ist nicht alles konstruiert und performiert. Alles ist, zunächst einmal, kompliziert. Verwickelt, wie im Wortteil „-pliziert“ angedeutet. Und eine intellektuell redliche Disziplin von irgendetwas, was es auch sei, jedenfalls, wenn es aus dem Bereich des Menschlichen und Gesellschaftlichen stammt, sollte sich doch wohl die Aufgabe stellen, diese Pliziertheit zu entwirren und Modelle und Denkweisen zu erarbeiten, die das In- und Durch- und Miteinander all dieser grundverschiedensten beteiligten Faktoren durchsichtig und begreiflich machen.
Solche Denkweisen sind dann sicher nicht so stringent wie die der reinen unvermischten Lehren, die einer einzigen Leitidee nachlaufen und deren Wirken wittern, worauf immer ihr Blick auch fällt. Dafür werden sie der Wirklichkeit gerechter, können in sich ausgewogener sein, und vor allem werden sie wohl eine längere Halbwertszeit haben als diese knappen paar Jahrzehnte, die zwischen dem Top und dem Flop des Evolutions-Absolutismus lagen. Und auch der Konstruktions-Absolutismus, derzeit in seinen besten Jahren, im luftigsten Konjukturhoch, zumindest in der breiten intellektuellen Öffentlichkeit, wird es wohl kaum länger machen.

„Blended modelling“, verschränktes Modellieren, etwas in dieser Art wäre sicher ein nachhaltigeres Motto. Doch um in so eine Richtung zu denken, müsste man aus den heissgekochten Theorien, welche es auch jeweils seien, erst einmal ganz gehörig den Dampf rauslassen. ︎︎︎