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26.02.2023

Der Diskurs der Linken


(Zum Interview mit Philosoph und Aktivist Raúl Sánchez Cedillo. Hier ein weiteres.)

Ich bin definitiv kein Linker (sondern am ehesten sozial-liberal), aber die Linken sind derzeit die einzigen, die mich zum Denken bringen, und hinter deren Diskurs, den ich einerseits für falsch halte (nicht der "Kapitalismus" ist schuld an der Misere, nicht die USA sind der eigentliche Täter), gelegentlich sogar etwas wie eine Hoffnung zu erahnen ist, eine Durchsicht auf eine mögliche Zukunft.

"Wir müssen die drei Krisen verstehen, die in der Ukraine ineinandergreifen. Es gibt einerseits eine Krise im Weltsystem um die Hegemonie zwischen China, den USA und einer gewissen Multipolarität. Dann gibt es einen innerimperialistischen Konflikt zwischen Russland und den westlichen Mächten, der eine Geschichte, aber auch eine Gegenwart aus oligarchischen Kämpfen um globale Märkte hat. Und natürlich einen Nationalstaat, der sich gegen eine Invasion wehrt."

Wie gesagt, vieles, was er sagt, ist in meinen Augen falsch. Aber diese drei Konstellationen (nicht unbedingt mit Akzent auf den Märkten), von denen in den herkömmlichen Argumentationen immer nur nach Wahl eine einzige herausgepickt und absolut gesetzt wird, müssen in der Tat zusammengedacht werden. Es gibt hinter diesem Krieg eine globale Konfliktkonstellation, eine des post cold war, und eine der Dekolonisierung bzw. des gewaltsamen russischen Versuchs ihrer Verhinderung – so würde ich sie jeweils nennen. Und man kommt zu nichts, wenn man sie isoliert angeht. Sie hängen untrennbar miteinander zusammen. "Wenn man sich nur auf die völkerrechtswidrige Invasion in der Ukraine beruft, landet man bei reiner Moral."

"Es gibt keine klar abgrenzbaren nationalen Kriege und Befreiungskonflikte mehr. Immer sind darin Imperien, militärische Systeme und Bündnisse involviert, die diese Konflikte benutzen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Man kann das nicht mehr voneinander trennen." – Auch dagegen gibt es wenig einzuwenden, ausser vielleicht den spezifischen Gebrauch von "Imperien", der unterschwellig auf die USA gemünzt ist. Man hört Antonio Negri durch.

"Die Idee, man könne die reaktionäre Elite in Russland durch einen chirurgischen Krieg loswerden, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Das alles bedient nur das historische Opfer-Narrativ in Russland, das auf die Tatsache mehrerer Invasionen zurückgreifen kann. Dagegen gab es immer eine große Opferbereitschaft in Russland. Wir müssen die Hegemonie des Nationalismus in Russland als Tatsache zur Kenntnis nehmen." – Auch das stimmt, bedauernswerter Weise. Wobei Sánchez Cedillo offenbar wenig Einblick in die innere Verfasstheit Russlands und des Apparats Putin hat. Denn natürlich wird dieser Nationalismus zur Zeit gerade propagandistisch hochgezüchtet, um die diktatorische Macht zu legitimieren: Er ist nicht nur historisch, sondern auch strategisch begründet.

Ja, die Linken sind borniert in ihrer anitkapitalistischen Ideologie. Aber man kann sie nicht einfach mit dem Vorwurf des "Antiamerikanismus" abservieren (wie ich selbst das noch vor ein paar Jahren gemacht hätte). Was soll das überhaupt sein – Antiamerikanismus? Ein rein polemischer Begriff, genauso wie "Russophobie". Man muss das schon genauer sezieren. Und dann sieht man, dass ausgerechnet die Linken, durch ihre – zweifelhafte – Matrix aus Klassen, Macht und Kapital, Denkmittel besitzen, die quer durch die national- und regionalpolitischen Strukturen hindurchschneiden, in denen wir normalerweise diesen Krieg denken.

In diesem Queren, Transversalen (und nicht im Antikapitalismus oder Anti-US-Imperialismus) liegt das, was das linke Denken zum Versprechen werden lässt. Die Matrix müsste, meiner Vorstellung nach, auf anderen Kategorien beruhen, ohne dass ich konkret sagen könnte, auf welchen. Aber die Transversalität ist das einzige, was langfristig analytische Potenz und praktischen Leverage verspricht, um die globalen Dynamiken der Gewalt zu durchbrechen.

Da kommt natürlich eine Dimension der Utopie ins Spiel, oder der ins Zukünftige weisenden longue durée. Und was diesen konkreten Krieg betrifft, ist man dann doch wieder auf die Hausmittel angewiesen: kämpfen, bewaffnen, verhandeln. Und eben auch wieder auf die Utopie: auf die Hoffnung, dass das zu etwas führt, zu – schrecklich teuer erkauften – Friedensgelegenheiten. ︎︎︎︎︎︎