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11.12.2022

Tsygankov, den man lesen muss, wenn man wissen will, wie der Kreml dächte, wäre er intelligenter, schrieb am 24. Februar lakonisch: „Ein schwerer Tag, Entscheidung zum Krieg. Die Falken haben die Oberhand behalten. Auf beiden, sogar auf allen drei Seiten. [...] Die Entscheidung zum Krieg war ein Resultat der Ambitionen und der in der Augen der beteiligten Seiten unerfüllbaren Forderungen. Hoffen wir auf eine baldige Beendigung der Kriegshandlungen und eine Rückkehr zur Diplomatie. Auf einen baldigen Frieden für alle Einwohner der Region.“ Eine seltsame Entscheidung ohne Entscheider. Ein reines Resultat? Kein Unterschied zwischen den beteiligten Seiten? Bei niemand Wahlmöglichkeiten, keine Verantwortung?

Grundsätzlich gibt es zwei Erklärungsmuster für die Entstehung des Krieges: aus dem russischen Imperialismus und aus dem internationalen System. Hier (im „Westen“) wird das zweite vollumfänglich als russische Propaganda abgetan, aber da wäre ich vorsichtig. In der Darstellung als alleinige Ursache ist es selbstverständlich Propaganda, aber als ein Faktor unter vielen verdient es sehr genaue Überlegung. Der grösste Fehler ist aber sowieso ein anderer: Zu meinen, dass diese beiden Ursächlichkeiten einander ausschliessen, also dass die Ursachen entweder im russischen Imperialismus oder in Dynamiken des internationalen Systems zu suchen sind. Es ist viel komplizierter. Es gibt zwischen beiden kein Entweder-oder, sondern ein – asymmetrisches – Sowohl-als-auch. Beide Faktoren spielen eine Rolle, allerdings der eine (russ. Imperialismus) mehr als der andere (int. System). Die Frage, die ich mir seit Monaten stelle, ohne sie wirklich zu greifen zu bekommen, ist: bedingen sie einander auch, in irgendeiner Form? Verstärken sie einander sogar?

Man kann nicht über den Krieg nachdenken, ohne über Medien nachzudenken. Medien propagieren (im Sinne von: vervielfältigen) Deutungsmuster. Insofern ist jede Medialität dem Risiko ausgesetzt, einzelnen Deutungsmustern zu unverdienter Hegemonialität zu verhelfen, und muss sich zu ihm in irgendeiner Weise verhalten.

Dabei muss man bewusste, gesteuerte, eigentliche Propaganda unterscheiden von einer medialen Konsonanz, die sich quasi von selbst ergibt, systemisch, ohne dass jemand aktiv dafür sorgen müsste. Die zweite ist nicht im eigentlichen Sinne manipulativ (und ich glaube auch nicht, dass, in Chomskys Sinne, vor allem corporate interests hinter ihr stehen). Dennoch schafft jede Medialität ein spezifisches informationales Ökosystem, und man muss sich fragen, wie unabhängig von ihm man selbst in seinem Urteilen eigentlich sein kann. (Vermutlich nicht sehr, daher ist es wichtig, für einen guten Zustand dieses Ökosystems zu sorgen.)

„Militärische Spezialoperation“ – das ist Propaganda und ein Begriffsschwindel. Mir scheint fast, das Wort steht inzwischen vor seiner Ablösung. Noch unglaublicher: „Militärische Spezialoperation zur Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine.“

Am 24. sollte I. mit der Bahn kommen und wir dann zusammen zurückfahren. Wir haben es dabei gelassen, aber die zwei Tage verbracht wie in einem Nebel. Der Holzofen in der Küche, die Seilbahn, die Menschen im Café: Unwirkliche Wirklichkeit, zu der man gar keine Verbindung herstellen konnte. Unauflösbare gedankliche und emotionale Dissonanz, Dissoziation der inneren Vorgänge von der Wahrnehmung. Innerlich, seelisch nur bei diesem Krieg. Nachrichten, Telefonate. Frage auch: Was bedeutet das für die Angehörigen? Familie sowohl in Russland wie in der Ukraine. Inzwischen sind aus beiden Ländern Verwandte geflohen aufgrund des gleichen Kriegs.  ︎︎︎︎︎︎