3. (Tagebuch über den Krieg )
14.12.2022
Bereits Mitte März, nach nur drei Wochen Krieg, gab es russische Angriffe auf Krankenhäuser. Sehe, dass ich gepostet habe: „Die Russen begehen also einen Anschlag, um den Ukrainern zuschreiben zu können, diese haben einen Anschlag auf sich selbst getätigt, um ihn wiederum den Russen in die Schuhe zu schieben. Eine false false flag-Operation.“
Die uralte Frage, wie mit dem Bösen umzugehen ist. Kann man das Böse besiegen? Wann führt das besiegen-Wollen im Gegenteil zu einem Vermehrung des Bösen? Wie sonst lässt sich das Böse überwinden? In welchen Fällen ist es besser, darauf zu setzen (darauf zu warten?), dass das Böse sich selbst überlebt? – Man kann sagen, dafür ist es jetzt sowieso zu spät. Aber was dann stattdessen?
Verhindern oder bestrafen?
Bombardierte Krankenhäuser, Butscha, Massengräber, zerstörte Kraftwerke, Aushungern: Die russischen Kriegsgräuel und Kriegsverbrechen sind eine Konstante seit Beginn dieses Kriegs, nein, sogar seit den Tschetschenienkriegen (und man kann sie sicher noch weiter zurückverfolgen). Aber ich frage mich, was die richtige Reaktion ist auf sie – sie zu bestrafen? Juristisch gesehen: ja. Aber eine juristische Bestrafung kann, wenn überhaupt, erst nach dem Krieg geschehen, denn dafür ist ein Regierungswechsel in Moskau notwendig oder eine (totale) Niederlage Russlands oder Russlands Zerfall. Wird der stattfinden? Und ist er wünschenswert? Ilya Matveev hat gerade dazu getweeted: „You may consider [Russia's disintegration] justice. That's one thing, but don't pretend this has anything to do with making the lives of the peoples that inhabit Russia better. It's no use cloaking hate with "good intentions".“
Die Frage, die sich jetzt stellt, während der Krieg fortdauert, ist nicht die juristische, sondern: Sind die Kriegsgräuel ein Anlass für militärische Bestrafung? Sind sie ein Argument dafür, die militärische Unterstützung der Ukraine zu intensivieren? Die humanitäre Intuition sagt uneingeschränkt: ja. Aber man muss zwei Dinge auseinanderhalten: Das Verhindern neuer Verbrechen und das Bestrafen der bereits begangenen. Wenn zusätzliche Waffenhilfe neue Verbrechen verhindern kann, dann ist das ein Grund, sie zu leisten. Die Bestrafung bereits begangener solcher Verbrechen kann aber kein Grund sein, denn erstens müsste die Strafe die konkreten Täter treffen, also die Ausführenden und die Befehlshaber, und nicht unterschiedlos ein kollektives „Russland“ oder solche Teile der russischen Armee, die zwar das Verbrechen des Angriffskriegs ausführen, nicht aber die konkreten Kriegsgräuel und Kriegsverbrechen, und zweites müsste diese Strafe, wenn wir auf die Etablierung einer internationalen Rechtsordnung hinzielen, eben auch eine juristische sein, eine juristische begründete und durch internationale Organisationen legitimierte.
Obwohl es also derzeit um das Verhindern gehen müsste, scheint in Politik und Medien die Logik des Bestrafens zu überwiegen. Im Zusammenhang mit russischen Kriegsverbrechen findet sich fast immer eine Rhetorik des Jetzt-erst-recht. Selbst wenn die Massnahme, um die es geht, etwa die Lieferung konkreter Waffensysteme, dann tatsächlich zu einer Verhinderung weiterer Verbrechen führt – die Motivation ist die falsche. Oder an dieser Motivation ist etwas Falsches, nämlich die seltsame Begeisterung, die sich in ihr findet, die Begeisterung, nun gegen das Böse, das sich in den Verbrechen kundgetan hat, angehen zu können. Manchmal scheint es eine regelrechte Strafbegeisterung zu sein. Dabei müsste doch die Haltung eigentlich eine ganz andere sein. Keine der Begeisterung, sondern im Gegenteil eine des Entsetzens, eine, sozusagen, der ethischen Zerknirschung: „Wir müssen“ – so ungefähr hätte es dann zu klingen – „fürchterlicherweise zur Verhinderung weiterer derartiger Gräuel und Verbrechen selbst zunächst etwas Schreckliches tun, nämlich Maschinen zur Zerstörung von Technik und vor allem auch von Menschenleben liefern und diese müssen auch angewendet werden. Ja, es ist ein Abstieg in die archaischen Rohheiten des Menschseins, es ist eine Tragödie, dass wir dies tun müssen, wir tun es unter allergrösstem Widerstreben und sind uns dessen bewusst, dass wir selbst uns damit einer Praxis unterwerfen, die wir eigentlich aufs Schärfste verurteilen, nämlich der Praxis der zerstörerischen Gewalt, und dass wir sogar unsere eigene Menschlichkeit damit in eine Gefahr bringen könnten. Aber es muss sein, in diesem absoluten Ausnahmefall und unter schärfster Begrenzung der einzusetzenden Mittel, denn nur so kann hoffentlich die Wiederholung derartiger Gräuel verhindert werden.“ Eine solche Rhetorik wäre angemessen, nicht eine der Begeisterung.
Und selbst wenn die Massnahme – die Waffenlieferung – nachher die gleiche wäre: Dass getötete russische Soldaten ein „Erfolg“ sind und nur getötete ukrainische ein „Verlust“, will mir dennoch nicht in den Sinn. Beide sind zunächst einmal Opfer des Krieges, so unterschiedlich ihre Beweggründe sein mögen, an ihm teilzunehmen. ︎︎︎