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17.12.2022


Gestern hier zu Hause herumgealbert. Erinnerung: Wie die erste Zeit gar keine Freude oder Heiterkeit möglich war, und als sie dann doch irgendwann sich wieder Durchbruch verschaffte, war sie immer mit einem mächtigen Gefühl von Schuld verbunden. Inzwischen taucht dieses Gefühl nicht mehr auf. Auch hier: Gewöhnung, Anpassung. Die Unterträglichkeit des Krieges hat sich eingeschrieben in die Tausend anderen Unerträglichkeiten unserer Welt. Man arrangiert sich – fürchterlich.

Selektives Expertentum


Es gibt Parallelen zwischen dem Kriegs-Expertentum und dem Covid-Expertentum.

Bei Covid standen Vertreter einer der relevanten Wissenschaften, nämlich der Virologie, noch dazu solche mit einem der möglichen metawissenschaftlichen Programme in ihr, plötzlich als die alleinigen Experten da (exemplarisch: Drosten), obwohl zur Bewältigung der Krise eine Integration der verschiedensten Wissenschaften und Erkenntnisse nötig gewesen wäre. Ausser der Virologie wäre vor allem die Public Heath Science wichtig gewesen, aber auch die Epidemiologie, die Hygienewissenschaft, andere. Aber die sind nicht mehr zu Wort gekommen, und die Mechanismen dahinter sind vielfältig und in manchem rätselhaft.

Es gab einen Expertenkrieg, Drosten hat die, die nicht seiner Meinung waren, als Pseudoexperten diskreditiert, mit sozialmedialer Macht wurden die Heterodoxien diszipliniert, Streeck, als Drostens Gegenspieler, wurde regelrecht moralisch niedergemacht. Auch wenn jetzt in der Retrospektive die damalige Verzerrung klar wird und sogar der Ethikrat kritisch auf seine eigene Arbeit zurückblickt – man hätte auch früher diese Einsichten haben können. Bei der damaligen Verengung hat sicher mehreres eine Rolle gespielt: Dass Politik Entscheidungen erfordert und Entscheidungen ein Ausschliessen von Optionen und ein Kollabieren des Dissens, dass in der Krise die Angst regiert und die Angst Gewissheiten fordert, dass die Medien mit sich selbst rückgekoppelt sind und so Meinungsspiralen erzeugen. Und manches davon spielt auch jetzt beim Krieg wieder eine Rolle.

Auch derzeit liegt der politisch-epistemische Lead ja wieder bei einer spezifischen Gruppe von Experten. Diese Gruppe ist aber weniger klar erkennbar als das „Team Drosten“ es war. Sie konstituiert sich eher durch eine Schnittmenge von Fachrichtungen und Werten. Es sind die Historiker, Politologen, IB-ler, Thinktankler mit einer liberalen Wertekonstellation. Was bei den Thinktanklern bedeutet, dass fast durchgehend alle ihrer Vertreter dazugehören, denn Thinktanks sind in politische Systeme eingebunden. Bei den Vertretern der eigentlichen Wissenschaften sind die Leader aber tatsächlich eine Teilmenge ihrer jeweiligen Fächer. Man könnte könnte hier leicht Namen aufzählen für die Orthodoxen und die Heterodoxen, aber den Platz spare ich mir.

Bemerkenswert ist, dass diese Leader-Gruppe durch einen Erkenntnis- und durch einen Wertefaktor zusammenkommt, sie ist sozusagen value-epistemically oder valorepistemisch konstituiert. Oder, wenn man es neutraler ausdrücken will, geht es einerseits um Dogmen, andererseits um Fakten. Wobei aber die Auseinandersetzung selbst vollständig epistemisiert wird, man streitet sich – scheinbar – ausschliesslich um Wahrheiten, darum, „wer Recht hat“, und der dogmatische Co-Charakter dieses Streits wird weder für die Kontrahenten noch für das Publikum durchsichtig gemacht. Denn auch wenn eine Gruppe den Lead hat – einen Streit gibt es ja dennoch, einen antihegemonialen.

Man kann aber auch nicht sagen, dass es nur um Hegemonie geht, so wie es von der Heterodoxie greframed wird. Dann würde man wiederum den epistemischen Charakter der Auseinandersetzung ausblenden.

All das ist hochgradig kompliziert und voller Stolperfallen. Die erste Komplikation besteht darin, mit der Wertigkeit von Werten umzugehen. Können die Liberalen für sich in Anspruch nehmen, die „besseren Werte“ zu haben? Und selbst wenn – was hiesse das für den Umgang mit denen, die die „schlechteren Werte“ haben? Muss man sie missionieren? Oder im Gegenteil tolerieren (und auf ihre Selbstverbesserung hoffen)?

Ähnlich gelagert ist die metasprachliche Komplikation. Wenn man den Wertediskurs vermeiden will (um die erste Komplikation zu vermeiden), muss man mit Begriffen wie Dogma oder Ideologie umgehen. Hier hat man das Gegenproblem: Diese Begriffe erscheinen nun zu wertfrei, zu beliebig. Während Werte zwangsläufig besser oder schlechter sind, sind Dogmen und Ideologie zwangsläufig „irgendwie gleichwertig“. Und meist versteht man: „irgendwie gleichschlecht“. Keiner will eine Ideologie haben, aber jeder die richtigen Werte.

Die dritte Komplikation ist aber noch viel komplizierter als die ersten beiden, denn sie hat mit Kontrafaktischem zu tun. Nehmen wir an, dass die meinungsführenden Spezialisten tatsächlich in einem übergeordneten Sinne „mehr Recht haben“ als ihre heterodoxen Gegner. Bedeutet das, dass sie dann „einfach Recht haben“, dass sie „tatsächlich, wirklich Recht haben“ und Punkt? – Natürlich nicht. Es könnte immer noch sein, dass sie sehr falsch liegen, und dass andere (auch andere Spezialisten) sehr viel rechter haben, nur dass es diese aus irgendeinem Grund nicht gibt oder dass sie nicht in Erscheinung treten. Man könnte das das Problem der Schattenepistemologie nennen (oder der Schatten-Dogmepistemologie). Und es ist nicht einfach ein spekulatives Problem, sondern ein ganz handfestes. Denn die Expertogenese, um es einmal so zu nennen, ist abhängig von den politisch-wissenschaftlichen Institutionen, sie ist ein situierter Prozess. Und das heisst, dass andere Institutionen andere Experten hervorbringen und dass nicht wissbar ist, welche alternativen Expertisen es ausserdem gäbe und ob die den bestehenden Expertisen überlegen sind.

Zunächst bedeutet das, dass auch die beste aktuelle Expertise niemals einen Anspruch auf Apodiktizität erheben darf. Es bedeutet aber auch, dass die aktuellen Leader womöglich nicht die besten Politiken (Handlungsrezepte) propagieren und dass die von ihnen propagierten Politiken sogar schlecht sein können, obwohl sie die besten verfügbaren sind.

Und ich glaube, dass genau das aktuell der Fall ist. Ich vermute – und mehr als eine Vermutung kann das erstmal nicht sein –, dass aufgrund der Präselektion selbst diejenigen Expertisen, die allen anwendbaren Kriterien nach (Testbarkeit, Kompetenz, Plausibilität etc.) derzeit mit Rceht als die besten gelten dürfen, weit davon entfernt sind, die tauglichsten Politiken vorschlagen zu können oder diejenigen Diskurse zu induzieren, die zu den nachhaltigsten, belastbarsten Einschätzung den Lage führen könnten. Was sie am meisten daran hindert, ist, denke ich – und hier würde sich wieder eine Ähnlichkeit zur Covid-Problematik zeigen – der Mangel an Integration der verschiedenen Wissensgebiete, Denk- und Politikansätze. Ein besonders grosses Manko scheint mit die Vernachlässigung der grossen Zeitspannen (in der Rekonstruktion der Vorgeschichte und in der Prognose der Konsequenzen) und die Vernachlässigung der Aufgabe, dritte Perspektiven zu suchen, die weder mit der des Angegriffenen noch mit der des Angreifenden zusammenfallen. ︎︎︎