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19.12.2022


Alles Denken ist motiviertes Denken. Man könnte auch sagen: Alles Denken ist wishful thinking.  Es ist nicht möglich, in der Diagnose, wie etwas ist, abzusehen davon, wie man will, dass es sein sollte. Das Wollen mischt sich unausweichlich immer ein. Und zwar umso mehr, auf je wackeligeren empirischen Beinen etwas steht. Wenn das gilt, dann gilt es auch für mich.

wishful thinking


Und in der Tat beobachte ich mich dabei, wie ich Dinge ausblende. Genauer: nicht beim Akt des Ausblendens selbst, denn der geschieht, und darin liegt ja das Gefährliche, unbemerkt. Was ich aber bemerke, das ist, wenn ich mit etwas konfrontiert werden, von dem ich zwar weiss, dass ich es eigentlich weiss, das aber in meinen Überlegungen keine oder nur eine geringe Rolle spielt, obwohl es in denen anderer Menschen, und zwar solcher, die mindestens ebenso kompetent sind wie ich, eine grosse spielt.

Das Beispiel, an dem mir das kürzlich wieder aufgefallen ist, ist das Budapester Memorandum. Natürlich bin ich mit ihm vertraut – nicht mit dem Wortlaut, aber mit seinem Inhalt und Sinn. Natürlich weiss ich auch, dass das Budapester Memorandum – mit Ausnahme einer wenig ernstzunehmenden Episode wegen US-Sanktionen gegen Belarus – von Russland gebrochen wurde und von niemand sonst, und zwar sicher 2014, erst recht 2022, und auch in den Jahren dazwischen.

Ich habe jetzt „gebrochen“ geschrieben, aber man hätte auch „verletzt“ schreiben können, und dass nicht klar ist, welches Verb das richtige ist, ist bezeichnend und für die Beurteilung der Situation äusserst wichtig: Bei diesem Schriftstück bleibt in der Schwebe, ob es sich um eine politische Wissenserklärung handelt, die die damaligen Intentionen widerspiegelt, oder um ein völkerrechtlich bindendes Abkommen. Die Mehrheitsmeinung scheint zwar in Richtung des ersten zu tendieren, aber eindeutig ist es nicht. Ein Dokument mit einem vagen, ambivalenten Status.

Dass ich die Tendenz habe, ausgerechnet das Budapester Memorandum (1994) auszublenden, ist von daher besonders vielsagend, dass es mit dem Versprechen der Nicht-Ausdehnung der Nato von 1989 in einer Art Symmetrieverhältnis steht. Beides sind Abkommen, von denen nicht klar festzustellen ist, wie bindend sie sind, beide sind jeweils mit ziemlicher Eindeutigkeit von einer der grossen Konfliktparteien (USA / Russland) gebrochen oder verletzt worden, und vor allem: Beide nehmen antagonistische Schlüsselpositionen in den Argumentation zur Verantwortlichkeit für den Krieg ein, und zwar einander ausschliessende Schlüsselpositionen.

Wer von der Nato-Osterweiterung aus argumentiert, leitet eine besondere Verantwortung der USA für den Weg in den Krieg daraus ab, dass die USA (bzw. die Nato) „ihr Wort gebrochen“ haben. Ebenso leiten stellen die, die die Verantwortung Russland in der Entwicklung hin zum Krieg betonen wollen, dies vom Bruch des Budapester Memorandums ab. Die Tatsache, dass ein Akteur Regeln oder ein Abkommen gebrochen hat, stattet ihn mit grösserer Verantwortung aus. Natürlich ist alles komplizierter, denn bei der Nato-Osterweiterung geht es nicht nur um ein Abkommen, sondern auch um Strategie und Klugheit; beim Budapester Memorandum geht es nicht um die Genese des Kriegs, sondern um den Krieg selbst. Dazu steht das Budapester Memorandum kontrafaktisch im Zusammenhang mit der Wehrhaftigkeit der Ukraine – und damit sogar indirekt wieder mit der Frage der Nato-Mitgliedschaft. Aber dem motivierten Denken sind derartige Feinheiten egal. Es operiert nur mit den belastenden Momenten, die aus dem jeweiligen Abkommens-Bruch resultieren, und mit ihrer Kontamination der Verantwortlichkeiten.

Nun kann es so ausschauen, als wollte ich Russland „entschuldigen“ dadurch, dass ich das Budapester Memorandum eher tendiere auszublenden, aber das wäre auch eine schiefe Darstellung. Eher ist es so, dass mich die Frage der frühen Genese des Kriegs umtreibt, seiner Vorgeschichte, und für die spielt der Bruch des Memorandums bereits keine Rolle mehr (das Memorandum selbst allerdings schon). Das ist einer der Faktoren, weshalb mein Denken das Memorandum ausblendet. Aber ein zweiter ist auch, und das ist der, der mich hier interessiert, dass ich die Tiefenverantwortung für diesen Krieg tatsächlich mehr beim Westen sehe (sie muss unterschieden werden von den unmittelbaren Verantwortung und der direkten Schuld, die beide bei Russland liegen), und dass daher Faktoren, die in einer anderen Betrachtung zentral sind und die den Westen zu ent-verantworten scheinen, von meinem Kognitionsapparat depriorisiert werden.

Das ist erst einmal eine Einsicht, die ein wenig schmerzhaft, vielleicht auch ein wenig beschämend ist, und mit der ich mich auseinandersetzen muss. Ich stelle mir aber auch eine andere Frage, und dieser Frage wegen schreibe ich dies alles überhaupt auf. Sie lautet: Sind sich auch diejenigen, die umgekehrt die Nato-Osterweiterung (bzw. das Versprechen der Nicht-Erweiterung und die strategischen und Klugheits-Überlegungen) als irrevelant verwerfen, sich dessen bewusst, dass eben auch sie, nur eben symmetrisch-andersherum, etwas ausblenden? Ich sehe dafür wenig Anzeichen. Wie könnte man dieses Bewusstsein hervorrufen oder erwecken? Denn es ist ja offensichtlich, dass man ohne die Berücksichtigung der Nato-Osterweiterungs-Frage genausowenig diesem Krieg gerecht werden kann wie ohne Berücksichtigung des Budapester Memorandums.

Wenn man im eigenen Auge wenigstens den Splitter sehen würde. ︎︎︎