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23.12.2022
Sich arrangieren
Als 1999 / 2000 Putin an die Macht kam, war Russland für mich gelaufen. Ich hasste ihn, wie ein Oppositioneller by association ihn nur hassen konnte (und wir westlichen Wahl-Oppositionellen übertreffen unsere Vorbilder oft um Längen: Überidentifikation). Wenn damals jemand sagte, dass so ein starker Präsident für das Land doch vielleicht nur gut sei, bewies ich ihm, dass Putin Russland in einen Verbrecherstaat umbaute. Und dieser Beweis fiel mir nicht schwer, denn so war es ja in der Tat. Die Niedertracht war ebensosehr zum Merkmal des Putinschen Russland geworden wie es der Alkoholismus im Jelzinschen war.
Heute ist mir Putin nicht lieber, als der es damals war, aber mein Hass ist einer stillen Ablehnung gewichen, auch einer gewissen Gleichgültigkeit. Vor allem aber sage ich heute: Nichts wäre fataler, als Putins Russland zerstören zu wollen. Noch vor acht Jahren stand ich auf dem Bolotnaja-Platz und rief mit meinen Freunden zusammen: Russland ohne Putin! – Geht das zusammen?
Russland ohne Putin hiess damals: Putin solle die Präsidentschaft, die er durch gefälschte Wahlen gestohlen hatte, zurückgeben. Es hiess, Putin sollte durch demokratische Mittel entfernt werden, nicht durch militärische. Das ist der erste Unterschied zu heute. Ein Unterschied der Situation und der Bedingungen.
Es hat sich aber noch anderes geändert seitdem: Meine Weise des Urteilens hat es, und vor allem die Welt hat es.
Für mich war Putin damals ein Bruch, und ich sah nicht, dass er zugleich auch eine Kontinuität war. Er wurde Präsident, weil er Jelzins Korruption zu decken bereit war. Er nahm die Tschetschenien-Kriege wieder auf, die Jelzin begonnen hatte. Er war in vielem nicht Jelzins Gegenstück, sondern seine Fortführung, seine Verlängerung. Diese Doppelnatur – zugleich Bruch und Kontinuität – sah ich damals nicht, weil meine embeddedness in der russischen Opposition mir gar nicht erlaubte, sie zu sehen.
Dass die Welt sich verändert hat, ist aber ein viel folgenschwerer Gedanke. In seiner banalsten Form lautet er: Putin ist nunmal da, und es hat keinen Zweck, sich zu wünschen, dass er es nicht sei. Die Hoffnung, es möge ein anderes Russland geben, kann nun nur noch eine darauf sein, dass sich das Putinsche in ihm überlebt. Russland ohne Putin ist, so wie wir es damals verstanden, schon lange nicht mehr möglich, ja nicht einmal mehr denkbar. Das einzige, was es noch geben kann, ist Russland nach Putin.
Diese Feststellung macht mir Angst. Denn es scheint, es gibt gar keine andere Möglichkeit als sich mit der sich jeweils herausbildenden Realität, auch wenn man sie noch so ablehnt, zu arrangieren. Das scheint opportunistisch und willenlos. Man biegt sich unter die Realität, selbst wenn man „gegen sie ist“ – denn so zu tun, als gäbe es sie nicht, wäre Dummheit, Verleugnung der Wirklichkei, utopischer Trotz.
Die faktische Gewalt des Faktischen. Oder die faktische Gewalt des Kontingenten. Denn es hätte ja immer, an jeder Stelle der Geschichte dieser letzten 20, 25 Jahren, ganz anders kommen können.
Und das ist eigentlich das Beängstigende daran. Dass bereits das Auftauchen Putins kontingent war (von der Vorgeschichte gar nicht zu reden). Und selbst kontingent ist hier nicht das richtige Wort, und ich verwende es nur, weil ich kein besseres finden kann.
Kontingent hiesse ja, dass etwas abhängig ist von unverfügbaren, unbeeinflussbaren Bedingungen, aber so funktioniert Geschichte nicht, sie ist nicht ein Experiment unter Bedingungen, die wir nicht kennen. Sondern Geschichte entsteht, indem ständig Möglichkeiten, die extrem weit und meist konträr aufgefächert sind, in Aktualitäten kollabieren, und augenblicklich an diesen Aktualitäten neue Fächer von Möglichkeiten entstehen, die ihrerseits in eine Aktualität kollabieren und so weiter. Was wir letztlich haben, das, was unsere Realität wird, ist ein Entstandenes (ein Generat) durch rekursive Selektion der Selektion in einer x hoch n-ten Iteration, wobei die Selektion keinerlei verallgemeinerbaren Kriterien folgt (sie geht ganz sicher nicht nach „fitness“).
Das heisst, das, woran wir uns „gewöhnen“ (weil die Rebellion dagegen eine Wirklichkeitsverleugnung wäre), womit wir uns arrangieren, ist dieses Selektions-Generat, das zu unserer Welt geworden ist, obwohl es astronomisch (brontal) viele andere mögliche Verzweigungen gegeben hätte, die auf jedem Schritt ihre eigenen Realitäten generiert hätten. Man kann noch nicht einmal sagen, dass das Aktuelle eine „Auswahl aus den Möglichkeiten“ ist, weil selbst die Möglichkeiten noch wenige Schritte zuvor gar nicht existierten, nicht einmal als Potenzialitäten.
Putin hat es tatsächlich „geschafft“, eine unabweisbare Faktizität oder Faktualität zu generieren, oder „es ist mit ihm dazu gekommen“, dass sich ein solches ausserordentlich massives historisches Generat herausgebildet hat. Und da liegt eben der grosse Unterschied: Damals, als wir noch hoffen konnte, Putin demokratisch loszuwerden, waren wir in der Situation prä-faktum eines Faktes, das wir nicht kennen konnten, das aber heute schlicht die Welt ist, das allem zugrundliegt, was wir an Handlungen in diesen Krieg tun an an Gedanken in diesem Krieg denken können.
Und das Erschreckende daran ist, dass diese Unabweisbarkeit des historischen Generats nicht nur im Falle Russlands über die vergangenen Jahrzehnte gegeben ist, sondern auch, zum Beispiel, im Falle der Nato über die vergangenen Monate. Ich kann noch so sehr dagegen sein, dass Europa sich der Nato unterordnet, ich kann so sehr für eine europäische Selbstständigkeit sein (was ich ganz entschieden bin!) – die „Selbstaffirmation des Westens“, die derzeit so bejubelt wird, generiert gerade ihre neue, eigene Realität, gegen die wiederum keine wirkungsvolle Auflehnung möglich sein wird.
Das ist überhaupt das Hauptproblem: Gegen Putin zu sein, ohne davon Transatlantiker zu werden. ︎︎︎︎︎︎<