7. 


22.01.2023

Circular feedback


Es ist zu spät. Diese Dynamik wird nicht aufzuhalten sein. Es gibt nur einen winzigen Hoffnungsschimmer: Das wäre, dass nach Putin die gemässigten Pragmatiker die Macht im Kreml übernehmen. Zum heutigen Zeitpunkt unwahrscheinlich.

Die Westwendung der Ukraine ist für Putin eine existenzielle Bedrohung Russlands. Damit mag er falsch liegen, aber das ist egal, denn niemand wird ihn vom Gegenteil überzeugen.

Für die Westwendung der Ukraine (ihr Aufgeben einer ost-westlichen Zwischen-Rolle) gibt es drei Gründe: Ein Zunehmen der pro-westlichen Präferenzen innerhalb der Ukraine selbst (siehe Maidan); eine reaktive Westorientierung infolge der russischen Interventionen 2014-2015 (Krim-Annexion, schüren des Donbass-Konflikts) und eine aktiv betriebene westliche Assoziationsbereitschaft.

„Halb zog sie ihn, halb sank er hin“ – hier ist es gedrittelt: Teils wollte die Ukraine nach Westen, teils rettete sie sich vor den gewalttätigen russischen Avancen, teils zog der Westen sie zu sich.

Diese drei Faktoren verstärken einander gegenseitig: intrinsische West-Hinwendung verstärkt russische Intervention verstärkt westliche „Annahmebereitschaft“ (accueillance) – und das im Kreis. An verschiedenen Stellen in der Geschichte hätte diese Mechanik unterbrochen werden können, nun ist die Dynamik irreversibel.

Für Putin ist die Bedingung für Frieden, dass die Ukraine nicht westlich sein darf. Diese Bedingung ist inzwischen unerfüllbar – wofür sein eigener Krieg massgeblich mit verantwortlich ist. Es kann also keinen Frieden mit Putin geben, sondern nur weiteren Krieg mit Putin. Der wird sich solange hinziehen, bis Putin die Macht verliert – entweder an die Hardliner oder an die Pragmatiker.

Die Hardliner werden den Krieg eskalieren, und zwar in umso rücksichtsloserer Weise, je knapper ihre Ressourcen werden. Dieses Szenario ist der Tanz auf dem Vulkan – es ist zu 100% unkalkulierbar. Derzeit scheint es das wahrscheinlichere.

Verliert Putin hingegen die Macht an die Pragmatiker, kann der Krieg enden und es stellt sich die Frage der Neuaufstellung Russlands, innen- wie aussenpolitisch. Damit das Kriegsende nicht als Niederlage weiterwirkt, die nach Revision schreit, müsste Russland eine radikale politische und kulturelle Wende vollziehen: Es müsste seine Identität neu definieren als ein Land, das die Ukraine zurecht verloren hat und das sie auch nicht braucht, um zu bestehen und zu florieren. Dass das geschieht, ist nicht unmöglich, aber es ist schwer vorstellbar. Damit ist selbst das beste Szenario langfristig noch ein schlechtes.

Um wirklich zu einem guten Ergebnis zu kommen, hätte die dreifache, zirkuläre Selbstverstärkung zwischen ukrainischer West-Tendenz, westlicher accueillance („Annahmebereitschaft“) und russischer Intervention früher unterbrochen werden müssen.

Nun kann dies nur noch durch einen selbstschädlichen Full Stop geschehen: Dadurch, dass die Ukraine selbstschädlich auf ihre Westeinbindung verzichtet und sich noch nicht einmal „finnlandisiert“ (was vor dem Krieg ggf. noch möglich gewesen wäre), sondern „belarussisiert“ (ausgeschlossen); dadurch, dass Putin-Russland selbstschädlich die Westeinbindung der Ukraine akzeptiert (ausgeschlossen) oder dadurch, dass der Westen seine accueillance zurücknimmt und die Verteidigungs-Hilfe für die Ukraine unter die (paradoxe) Bedingung stellt, dass die Ukraine zugleich ihr Projekt der West-Orientierung aufgibt und auf einen Ost-West-Zwischenstatus hinstrebt, der von Russland UND der Nato gemeinsam garantiert werden müsste – ebenfalls so gut wie ausgeschlossen.

Ich sehe wirklich keine anderen realistischen Szenarien als eine langdauernde Kaskade mehr oder weniger grosser politischer, militärischer und humanitärer Katastrophen. ︎︎︎