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26.01.2023

Europa


Noch aus einem anderen Grund stört mich der Modus, in dem die Debatte über die Waffenlieferungen geführt wird: Ich bin kein Transatlantiker. Ich bin klar und eindeutig Europäer. Ich bin für ein eigenes, selbständiges Sicherheitsbündnis Europas. Und ich bin für ein politisch stärker integriertes Europa, im Sinne eines Staatenbunds eben mit einer gemeinsamen, modernen, selbstverantworteten Bereitstellung von Sicherheit. Der Hauptfaktor in dieser Sicherheitserzeugung muss die Diplomatie sein, mit einer minimalistischen, aber schlagfähigen militärischen Komponente.

Dieses Europäertum erscheint mir aus verschiedenen Gründen eine Selbstverständlichkeit. Wirtschaftspolitisch sowieso, aber auch geopolitisch: Europa bildet eine natürliche geopolitische Einheit. Auch historisch: Europa hat seine inneren Kriege durchgemacht und überwunden, sein Modus ist bereits die Koordination (wobei man natürlich kritisch fragen muss, inwieweit der europäische Frieden eine pax americana ist – dieser Einwand ist gewichtig). Politisch-kulturell: Europa bildet eine Vielheit in der Einheit, es hält in sich ständig Alternativszenarien für sich selbst bereit, seine Vielstimmigkeit äussert sich nicht nur in den europäischen Sprachen, sondern auch in intellektueller Diversität. Und natürlich ist Europa im Kontext globaler Politik ein naheliegendes Konzept: Sowohl die Zeit der Konfrontation zweier Systeme als auch der „unipolare Moment“ sind vorüber. Die Multipolarität ist bereits Realität, und das ist zu begrüssen, denn die entscheidenden Probleme sind längst die globalen, sei es im Bereich Klima und Energie, sei es im Bereich Migration und Gerechtigkeit, sei es im Bereich Gesundheit. Die Chancen, diese globalen Probleme friedlich und menschenwürdig zu bewältigen, steigen mit der Etablierung einer multipolaren Ordnung, in der eine Handvoll oder ein Dutzend „Hyperplayer“ vor der Aufgabe stehen, sich miteinander zu vergesellschaften. Die Weltgesellschaft wird entstehen, aber nicht, wie erträumt, als eine homogene, sondern als eine globale Meta-Gesellschaft unterschiedlicher, aber sich miteinander koordinierender politischer Einheiten, die jeweils geprägt sind vom Weg ihrer historischen Entstehung.

Ich bin aber auch deshalb Europäer, weil mir der amerikanische Exzeptionalismus und Interventionalismus suspekt sind. Gerade was den zweiten angeht, darf man ja auch nicht vergessen, dass er eher jüngeren Datums ist: Bis vor 100 Jahren stand an seiner Stelle der Isolationismus, die USA existierten nach ihrer Abnabelung von Grossbritannien wie eine überdimensionierte Insel zwischen zwei Ozeanen, die das Geschehen im Rest der Welt mehr betrachtete, als an ihm teilzunehmen. 

Hier schliessen sich natürlich grosse Fragen an: Haben die USA dann im ersten Weltkrieg Europa vor sich selbst gerettet? Welche Auswirkungen hatte das für die Zwischenkriegsphase, für den zweiten Weltkrieg? Wie steht es um die demokratisierende Wirkung des amerikanischen Interventionalismus? In den arabischen Ländern hat sie sich nicht gezeigt, in Deutschland hingegen doch. Und hier ist man wieder bei der Frage der pax americana.

Im Lichte der neuen Multipolarität ist die Nato in ihrer derzeitigen Form ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Sie ist ein Pakt aus der Zeit der Konfrontation der Systeme – aus der Zeit des kalten Kriegs. Es wird heute fast nie in Frage gestellt, dass die Nato zur Gewährleistung der Sicherheit der osteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch der UdSSR notwendig gewesen wäre. Und natürlich ist der Drang dieser Staaten selbst, von der Nato Sicherheitsleistunge zu erhalten, historisch gesehen verständlich. Aber ich neige eher der These zu, die sich allerdings, da es sich um kontrafaktische Geschichte handelt, nicht belegen lässt: Von Russland ging nach dem kalten Krieg für kein europäisches Land eine reale Bedrohung aus, mit Ausnahme der Ukraine und ggf. der orthodoxen Balkanländer je nach ihrer aktuellen politischen Ausrichtung. Noch nicht einmal Georgien oder die baltischen Ländern hatten vermutlich von Russland etwas zu befürchten. Wobei natürlich insbesondere im Falle der letzteren das Bedürfnis, Sicherheitsgaranten zu finden, überaus verständlich ist. Diese Sicherheit hätte aber auch von Europa bereitgestellt werden können.

Das Russland Jelzins und auch das Russland Putins waren keine imperialistischen Kräfte. Sie waren bellizistisch – das durchaus, wie die Tschetschenienkriege zeigen. Doch dies waren Kriege innerhalb der Russischen Föderation, die kein Modell für Aggressionen gegen europäische Länder darstellten. 

Man kann es tatsächlich so sehen (mit einem caveat), dass die Nato uns selbst und Osteuropa gegen den Schatten eines ehemaligen Feindes geschützt hat, und dieses relikthafte Schützen hat einen guten Teil dazu beigetragen, dass der Schatten wieder mehr und mehr zu einem realen Feind geworden ist. Die Nato, die hier derzeit als einzige Lösung gehandelt wird, hat dann beträchtlichen Anteil am Problem. – Das caveat besteht darin, dass man diesen Schutz auch als einen vorsorglichen betrachten kann. Als solcher wurde er gerade von den Osteuropäern sicher auch oft verstanden, und es hätte wenig Rechtfertigung gegeben, ihn ihnen dann vorzuenthalten. In diesem Fall hat man es dann aber mit einer tragischen Situation zu tun, in der die nichtintendierten Folgen das Projekt sozusagen gegen sich selbst wenden.

Das eigentliche Problem mit Russland war seit 1991 – und natürlich, wenn auch in anderer Weise, weit zuvor – ein innenpolitisches. Jelzins Innenpolitik war chaotisch bis inexistent, Putins war von Anfang an autoritär. Sie mag zunächst ein gewisses Gegenmittel gegen die unter Jelzin florierenden mafia-oligarchischen Strukturen gewesen sein, allerdings war Putins Aufräumen ein „Order without Law“, von daher nicht nachhaltig, und es installierte neue Seilschaften anstelle der alten.

Diese desolaten Innenpolitiken, gemeinsam mit den Gefahren der Rohstofffalle als Modernisierungsbremse, haben es verhindert, dass Russland auf einen Entwicklungsweg kam, der zu einem Florieren des Landes hätte führen können. Sicher äussert sich diese politische Misswirtschaft auch nach aussen hin, in der internationalen Politik. Bei der Krim-Annexion etwa ist schwer auseinanderzuhalten, ob der innenpolitische Gewinn für Putin eher ein Nebeneffekt war oder eine mehr oder weniger entscheidende motivierende Rolle spielte. Dennoch übersetzt sich die Innenpolitik nur indirekt in Aussenpolitik, und es gab nie Anlass anzunehmen, dass Russland sich für einen militärischen Angriff auf europäische Länder bereitmachte oder dazu auch nur einen Anlass sähe.

Aus dieser Konstellation: der desolaten Innenpolitik Putins, die auch aus humanitären Gründen, aus solchen der Medienfreiheit, aus solchen der Wissenschaft und vielen anderen mehr förmlich danach schreit, dass sich etwas ändert und die Ära Putin zuende geht; der Antiquiertheit oder zumindest Fehl-Formatiertheit der Nato und der Wünschenswertheit eines selbständig organisierten Europas ergibt sich die Frage, die mich, als vielfach in die russische Lebenswelt Involvierten, seit Beginn dieses Krieges pausenlos umtreibt: Wie kann man gegen Putin sein, ohne Transatlantiker zu werden? Genau das aber ist gefordert.

Und auch daher bin ich mit den derzeitigen Entwicklungen so unzufrieden. Denn anstatt zu mehr Europa zu führen, führen sie zu mehr Nato. Sie untergraben das europäische Projekt – das zudem auch ein Projekt für die Ukraine wäre, und zwar eines, das der Ukraine eine bessere Zukunft in Aussicht stellen könnte als die Nato-Einbindung, die die Ukraine ausausweichlich auf lange Zeit zu einem Frontstaat machen wird, der nur mit höchster Militarisierung existieren kann. ︎︎︎