Unbehagen Philosophie
23.09.
[update: zu all dem auch https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/ein-philosoph-muss-sehr-nah-bei-denjenigen-sein-die-denken-den-menschen-in-der-praxis/ ]
Jetzt habe ich alles, was ich bisher diese Woche geschrieben habe, weggeworfen. Und es war viel. Und es war mir ausserordentlich wichtig.
Es ging um Philosophie, es ging darum, was Philosophie – meiner Meinung nach – ist, oder sein sollte, oder es ging, das trifft es besser, um die Frage Was soll Philosophie – also in diesem saloppen Sinne, in dem man sich fragt: „Was soll das? Wozu das ganze?” (auf Russisch geht es besser: зачем всё это?).
I
Hoffnung und Enttäuschung
Ich hatte geschrieben davon (oder begonnen, davon zu schreiben), wie sich meine Hoffnung auf die Philosophie in eine Enttäuschung über die Philosophie verwandelt hat – während des Studiums, aber auch in all den Jahren danach. Ich hatte über den Zorn auf die Philosophie geschrieben, über die Wut auf sie, über die Sehnsucht nach einer anderen Philosophie – über die Gefühle, die in mir vibrieren, was die Philosophie angeht, die auch einen unmittelbaren Einfluss auf mein Leben haben –
Ich hatte über den Zorn geschrieben, den Zorn darüber, dass es keine Rahmen gibt, innerhalb derer man so denken kann, wie ich denken möchte oder wie ich es für nötig halte, zu denken – keine Rahmen, nicht nur die äusseren Institutionen betreffend (in der Universität ist ein solches Denken nicht machbar), sondern auch keine Rahmen in Bezug auf die Begriffe des Denkens selbst, die Wörter, auf die man das Gedachte bringen muss (es ist auch ein Zorn auf die Nicht-Artikulierbarkeit) – über die Sehnsucht, etwas, das gedacht werden will, dann auch tatsächlich denken zu können, aussprechen zu können, mitteilen zu können – über die Sehnsucht nach einem perspektivenreichen, nach vorne offenen Denken, einem nicht zerquälten, sondern beschwingten Denken, einem Denken, das, wenn man es denkt oder liest, dazu führt, dass man weiterwill –
„Es muss doch alles ganz anders gehen, als es derzeit gemacht wird”, hatte ich geschrieben, „es ging doch zu anderen Zeiten auch anders, es gibt doch weiter diese gewaltigen Möglichkeiten, heute umso mehr, ich spüre sie doch, wittere sie doch unmittelbar vor mir, wieso kommt man nicht heran an sie, wieso kommt man nicht heraus aus diesem Trott, wieso lässt man sich so einschränken, wieso schafft man nicht Luft, wieso reisst man das Fenster nicht auf?” – und „Es kann doch nicht sein, dass das, was so zu sagen notwendig ist, was auch so offensichtlich ist, sich so überhaupt nicht, so partout nicht sagen lässt!“ –
Und ich hatte – eben – geschrieben von dem, was Philosophie meiner Meinung nach ist oder was sie soll, und wie sich das unterscheidet von dem, wie sich Philosophie heute versteht, die universitäre Philosophie (aber gibt es überhaupt eine andere?), also darüber, wie sich Philosophie missversteht (meiner Meinung nach), und hatte begonnen, die Frage Was ist Philososophie, was soll Philosophie entlang der verschiedensten Stossrichtung durchzudeklinieren – für mich, aus meinen eigenen Erfahrungen, eigenen Gedanken, eigenen aufgehäuften Empfindungen heraus – Stossrichtungen, die, das war mir bereits klar, bevor ich zu schreiben begann, in die verschiedensten Richtungen gehen würden, die auseinanderlaufen würden, sich auch durchkreuzen, einander widersprechen würden ... inkonsistent, ging mir durch den Kopf dabei, inkonsistent, aber dennoch kohärent, auf einer tieferen Ebene, einer Ebene hinter den Wörtern, hinter den Absätzen ...
Ich weiss nicht, ob ich jetzt alle diese Stossrichtungen wieder zusammenbekomme, ich weiss auch nicht, ob ich das will, schliesslich habe ich die Sachen von gestern und vorgestern nicht ohne Grund weggeworfen, sie entwickelten keine Struktur, sie führten zu nichts. Aber durch das Wegwerfen sind sie natürlich nicht verschwunden. Das können sie auch nicht, denn dieses Thema ist ja immer da, immer aktuell, ich schlage mich mit ihm herum, seitdem die Hoffnung auf die Philosophie in die Enttäuschung über die Philosophie hinübergekippt ist; nur enttäuscht zu sein reicht ja nicht, ich werde ja davon nicht aufhören zu denken, im Gegenteil, die Frage, die über allem schwebt, ist: Wie kann man die Philosophie selbst denken, umdenken, wie kann man das Denken anders denken, und zwar so, dass es wieder funktioniert (so wie ich mir vorstelle, oder so wie ich das Gefühl habe, dass es funktionieren müsste) –
Originell-normal
Eine der Stossrichtungen war, Philosophie sei die Professionalisierung, oder Intensivierung, oder Systematisierung, also die Fortführung des „sowieso Gedachten“, oder des „originellen Menschenverstandes“, oder des „Originell-Normalen“ ... die Begriffe lassen einen im Stich, hier schon. Man könnte versuchen, hier vom „gesunden Menschenverstand“ zu reden, aber das wäre ganz falsch, denn es geht nicht um das Gesunde (den здравый смысл), nicht um das „Normale“, sondern darum, was man als „normaler Mensch“, als Nicht-Philosoph, sowieso an Originellem, Ungewöhnlichem, die scheinbar selbstverständlichen Denkwege Verlassendem (und damit nicht-Normalen, und damit auch nicht common sense) beginnt zu denken, was weiterzudenken sich aber nur der Philosoph erlauben kann ... – immer muss man die Begriffe, die man braucht, um sich zu erklären, gleich schon wieder zurücknehmen, ummodeln, revidieren, das Gesagte um-sagen, so dass von einem Stoss (in eine Richtung, mit einem Impuls, einem Impetus) bald gar nicht mehr viel übrig bleibt –
Diese „Fortführung des Originell-Normalen“, diese Idee, Philosophen griffen das auf, was bei anderen eine ephemere Idee bleibt, beim Philosophen aber zur Zentralidee und zur idée fixe wird: Dahinter steht das Bedürfnis, die Philosophie bescheidener zu verstehen, weniger, wie man so sagt, „abgehoben“, sie „abzublasen“, also aus ihrem Aufgeblasensein die Luft herauszulassen ... Was mich nie verlassen hat: das Empfinden, dass die Philosophie sich künstlich kompliziert macht. Dass eigentlich hinter jeder noch so elaborierten Philosophie ein oder zwei recht einfache Gedanken stehen, nämlich ihre Philosopheme, ich finde besser: ihre Primitiva, in einem guten Sinne von Erstheiten, und dass sich diese Primitiva grundsätzlich auch im originell-normalen (nicht-normalen) Denken finden lassen, nur eben führt ihre (ja andererseits notwendige!) Artikulation fatalerweise in diese Kompliziertheiten ...
Werk, und nicht Wissenschaft
Diese Kompliziertheiten hängen natürlich zusammen mit dem Anspruch der Philosophie, sie sei eine Wissenschaft, ein Anspruch, den ich anzweifle, den ich ablehne. Philosophie ist gemacht. Philosophie ist gestaltet. Sie ist eine Komposition, ein Werk. Ich hatte notiert, wie mir das – ausgerechnet – bei der Lektüre Kants klargeworden ist, wie Kant herummauschelt mit dem, was er Vernunftbegriffe oder transzendentale Ideen nennt, wie er behauptet, diese transzendentalen Ideen seien abgeleitet aus jeweils einer Kette gleichartiger Vernunftschlüsse (Syllogismen), dass man also zu eben diesen Ideen oder Vernunftbegriffen käme, wenn man die jeweiligen Formen des Schliessens immer weiter denke, dass die Begriffe aus den Syllogismen zwangsläufig, natürlich, automatisch herfliessen – das behauptet er, aber so ist es nicht, wie die Entstehungsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft zeigt. Nichts fliesst dort natürlich oder zwangsläufig her, sondern Kant hat es so eingerichtet, er selbst, willentlich, mutwillig, er hat die Vernunftbegriffe selbst an die Enden dieser Syllogismen-Ketten gestellt, und zwar in früheren Entwürfen die Begriffe Welt, Gott, Seele (das sind die transzendentalen Idee) an die Enden anderer Ketten als dann in späteren Fassungen – er hat sie getauscht – er hat sie so angeordnet, wie es für ihn passte, nicht wie die Syllogismen selbst es vorgaben oder verlangten, er hat diese Anordnung erfunden, er hat sie sich ausgedacht – wie ein Künstler, der hin- und herversucht, schaut, wie es er haben will, und es dann so macht –
Die ganze Architektur der Kritik der reinen Vernunft und überhaupt der Kantschen Philosophie, die ja einen solchen Wert darauf legt, eine „Wissenschaft“ zu sein, ist gemacht, ist hergestellt, die Kantsche Philosophie ist eine Komposition, die sich als Forschungsergebnis tarnt, sie fliesst nicht aus der Struktur des Verstandes oder der Dinge her, der Abstand zu den Dingen ist in der Philosophie viel grösser, als die Philosophie selbst es glauben machen will, eine philosophische Theorie ist so weit weg von dem, wovon sie redet, dass sie genaugenommen ihren Gegenstand schon prinzipiell gar nicht „erklären“ oder „beschreiben“ kann, sie kann Erklärungen oder Beschreibungen nur inspirieren, sie ist kein Explikativ, sondern ein Inspirativ ...
*
Ich weiss nicht, immer noch nicht, ob ich jetzt alle meine gestrigen und vorgestrigen Verlust-Enttäuschungen und Neufindungs-Versuche noch einmal versuchen sollte zu notieren, denn nicht nur hat es ja schon zuvor zu nichts geführt, vor allem will ich ja heute auf etwas anderes hinaus, auf das, was eigentlich ganz am Schluss meiner versuchten Umdenkungen stehen sollte, auf die Frage, ob das Wort Philosophie überhaupt für das taugt, was ich im Sinn habe, ob es nicht überhaupt ein Wort ist, das so viele Probleme mit sich bringt, so viele Haken und Ösen hat inzwischen, dass man nach etwas anderem suchen sollte, etwas frischem, unter dessen Dach oder unter dessen Ägide sich dann auch wieder besserer und frischer denken lässt –
Ausserdem
Vielleicht wenigstens in aller Kürze, damit ich es eben doch hier irgendwie beisammen habe.
Anstatt vorgeblicher Wissenschaftlichkeit (-> Kant), aufgrund des Gemachten, Gestalteten, Werk-haften: die Philosophie als Wahrkunst. Also als Kunst, deren Ziel Wahrheit ist (was auch immer man – philosophisch! – unter Wahrheit verstehen will). Das heisst nicht, dass Forschen keine Rolle spielt. Aber Forschung ist nur ein Input, oder vielleicht sollte man sagen: nur ein Input. Das Werk, also die philosophische Artikulation, also das Philosophierte, ist immer auch ein Kunst-Werk, und ich denke sogar, vor allem ein Kunstwerk. (Sag’ das einmal jemand an der Universität, der zum Beispiel einen Antrag für ein Forschungsprojekt auszufüllen hat!)
Das Synoptische, das Integrierende, das Meta. Dass das kaum eine Rolle spielt in der derzeitigen Philosophie, war eine der grössten Enttäuschungen für mich. Als ich merkte, dass es keine Philosophie mehr gibt, die sich darum bemüht, die Dinge zusammenzudenken. Sicher, nun kann man sagen, vielleicht lassen sich die Dinge halt einfach nicht zusammendenken, vielleicht ist genau das, nämlich dass sie unverbunden sind, unsere moderne philosophische Einsicht. Aber damit gebe ich mich nicht zufrieden. Denn in meinem Kopf werden sie ja zusammen gedacht, und nicht nur in meinem, sondern in jedermanns Kopf, im Kopf jedes Menschen, der sich mit den verschiedensten Dingen (Biologie, Kosmologie, Psychologie, Geschichte, Literatur, Musik, Politik, der eigene körperliche Existenz, die Geschicke des Nächsten und des Fernsten, das Leben, der Tod, was auch immer) zugleich beschäftigt, und wer täte das nicht, auf die eine oder die andere Weise? Es kann keine Meta-Theorie geben, da bin ich einverstanden. Aber das heisst nicht, dass es kein Meta-Denken geben kann. Nur muss sich dieses dann anders äussern als durch Aussagen der Art So und so hängt das und das zusammen, nämlich eher dadurch, dass die Gedanken zum einen Thema, Gegenstand, Belang durch die zum anderen Thema, Gegenstand, Belang eingefärbt, beeinflusst werden – dass sich im Denken des Einen etwas manifestiert, das sich ohne gleichzeitiges Denken des Anderen nicht manifestiert hätte – eine gegenseitige Influenz, eine Interfluenz der Belange, für die sich doch Worte finden lassen müssen –
(Nachtrag: Ein Wort, das hier ausserdem noch weiterhelfen könnte, wäre Konzertanz. Die Belange sind zwar nicht „konzertiert“ im Sinn von aufeinander abgestimmt, aber sie „konzertieren“, indem sie alle zugleich erklingen und sich klanglich überlagern oder vermischen. Das kann auch eine kakophonische Konzertanz sein.)
Nötig-unmöglich
Das ist eine andere Bestimmung von Philosophie, die ich schon lange mit mir herumtrage: Philosophie ist, das zu denken, was zu denken nötig, aber unmöglich ist. Oder: was zu denken ebenso nötig wie unmöglich ist. Oder, kompakt: Philosophie ist das Denken des Nötig-Unmöglichen.
Das, scheint mir, ist am ehesten, womit man der Philosophie auf die Spur kommt, aus diesem Selbstwiderspruch entspringt überhaupt das, was man Philosophieren nennt. Ich hatte das gestern durchdekliniert an Wittgensteins Diktum Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen und Adornos Konter, Philosophie sei im Gegenteil gerade die Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann.
Was für eine Art von Philosophie ist das, die versucht, zu sagen, was sich nicht sagen lässt? – Adorno denkt dabei (die hegelsche Nichtidentität später im Zitat verrät es) an die prinzipielle Schwierigkeit des Artikulierens, die darin besteht, dass der Sinn vor dem Wort ebenso flieht, wie er von ihm eingefangen wird. Durch das Benennen verfehle ich immer das Benannte, indem ich es treffe. Das ist ungefähr, was Derrida mit der différance im Sinn hatte, oder es ist ein Teilaspekt dieser différance.
Aber wenn man es so sieht, dann ist eigentlich alles Reden Philosophie, denn dann kann nichts so gesagt werden, wie man es würde sagen wollen oder wie das Wort nahezulegen scheint, dass es gesagt werden kann.
Oder man nimmt an, es gibt gewisse Dinge oder Inhalte, die sich in besonderer Weise gegen das Artikuliertwerden sträuben, die man aber dennoch offenbar irgendwie denken oder irgendwie mental präsent haben kann (denn sonst käme man gar nicht in die Versuchung, sie sagen zu wollen) – nach Wittgenstein muss man dann von diesen Dingen eben schweigen (das wäre eine Art beredtes Schweigen, wie im Zen), nach Adorno aber, gerade deshalb, weil es so schwer ist, von ihnen versuchen, zu sprechen –
Wenn man es so liest – würde man sagen wollen, das ist dann die Philosophie, Philosophie überhaupt, alle Philosophie? Sicher nicht. Dadurch, dass man dann um Ausdrucksmittel für das Unsagbare ringen muss, sie gegebenenfalls überhaupt erst einmal finden, erfinden muss, nähert sich solche Philosophie dann der Poesie an (Heidegger kann da etwas Ähnliches im Sinn gehabt haben) –
[update: hierzu auch: „Anything that can simply be reduced to the principle of identity is not a problem for philosophy. For a problem to belong to philosophy there must be something inconceivable in it.” Tanabe Hajime, Philosophy as Metanoetics, trans. Takeuchi Yoshinori (Berkeley: University of California Press, 1986), p. 13., in: The Logic of Soku in the Kyoto School , Nicholaos Jones
Und nun?
Originell-(un-)„normal“, ausgearbeitete idée fixe, Metadenken als Wechselbeeinflussung der Belange, Philosophie als Werk, als Wahrkunst, Artikulation, Versuch der Artikulation des Nötig-Unmöglichen ... All das ist nicht erschöpfend, nicht vollständig, vor allem führt es nicht zu einem Programm, und das ist es aber doch, wo ich hinwill, hinmuss: sagen zu können, was ich anders machen will, was ich sowieso schon anders mache, warum ich es anders mache – die Konsequenzen zu ziehen aus dieser fundamentalen, eigentlich entsetzlichen Enttäuschung, aus dieser Enttäuschung, von der ich aus irgendeinem Grund überzeugt bin, dass ich nicht der einzige bin, der sie empfindet, und dass sie unserer gesamten kulturell-geistigen Verfasstheit eine Note der Hoffnungslosigkeit mitgibt, oder aus einer Hoffnungslosigkeit entspringt, die aber überwunden werden muss, was auch möglich ist –
Philosophie Philosophie Philosophie. Ich habe mir dieses Wort gestern sogar auf einen shortcut gelegt, weil es wieder und wieder in diesem Text vorkommt, eigentlich in fast jedem Satz, und weil ich leid war, es immer wieder von neuem zu tippen – leid bin ich es sowieso irgendwie, dieses Wort. Philosophie, das ist mir zu sperrig, Philosophie, das ist mir zu beladen, das ist mir zu sehr begrenzt von Institutionen, von der konkreten wie der Universität, aber auch von den impliziten, die in das Reden selbst eingeschrieben sind, in die Begriffe, die Wörter, in den Diskurs – man kann reden, ja, man kann auch „sagen was man will“, aber man kann nicht das sagen, was nötig wäre, das Dringende, das Drängende kann man nicht sagen –
Heute Nacht von irgendeinem Geräusch aufgewacht und konnte dann nicht mehr richtig schlafen und habe im Halbgschlaf all das Revuew passieren lassen, all diese verschiedenen Stossrichtungen oder Unzufriedenheiten oder Umdenkungen oder Bestimmungsversuche, und schob sich wieder dieser Gedanke, der sich so oft ankündigt und den ich nicht zu denken wage (weil überhoben, weil unrealistisch), in Zentrum: Man muss ganz neu ansetzen. Man muss wirklich einmal alles über Bord werfen irgendwie neu beginnen. Irgendwie. Und zwar nicht, um das Alte loszuwerden oder es dem spurlosen Vergessen zu übergeben, sondern im Gegenteil, um dieses Alte, die Tradition, das Material wieder verfügbar zu machen, eben als Material, als Etwas, mit dem man arbeitet, das man gestaltet, und nicht als etwas, dem man sich anschliesst als Adept oder von dem man sich abstösst als Kritiker (oder das man, was natürlich philologisch legitim und auch notwendig ist, allein als Gegenstand der Forschung betrachtet, der historischen ...) –
Aber wenn man tatsächlich so einen Punkt finden will, von dem aus man neu, anders, „frisch“ beginnen kann, dann muss man sehr, sehr weit weggehen von dem, was ist. Wenn es ihn überhaupt geben kann.
Heuristikvergessenheit
Andere Stossrichtung meiner Unzufriedenheit und vielleicht der grösste Vorwurf, den ich der akademischen Philosophie heute machen würde: ihre Heuristik-Vergessenheit.
Jeder Mensch denkt. Egal mit wem du sprichst, egal ob Akademiker, Handwerker, Sportler, Händler, Schauspieler, egal ob aus der sozialen, der politischen, der künstlerischen, der industriellen Sphäre, egal ob Rentner, Schüler, Greis oder Kind: Jeder Mensch denkt. Jeder Mensch macht sich einen Reim auf das, was ihn betrifft (und heute, im medialen Zeitalter, betrifft immer mehr von uns tendenziell alles), jeder Mensch hat eine Meinung zu den Dingen, die ihn angehen.
Aber niemand denkt seine eigenen Gedanken. Na gut, ein wenig denkt man natürlich schon seine eigenen Gedanken, aber auch die kommen nicht aus dem Nichts, sondern irgendwo her, und das Eigene besteht eher darin, wie man mit dem Irgendwoher-Kommenden umgeht, was von ihm man verstärkt und was abschwächt, worauf man den Akzent setzt und was man ausblendet, was man weiterdenkt und was brachliegen lässt, und vor allem darin, wie man das alles tut. Das wie ist viel mehr das Eigene als das was.
Man kann nicht einfach so denken, von Null, aus dem hohlen Bauch, man braucht zum Denken Mittel, Instrumente. Jeder braucht sie. Auch der, der nicht weiss, dass er sich solcher Mittel bedient. Und die Mittel müssen gut sein, das heisst, sie müssen ihrem Zweck angemessen sein. Wer mit einem falschen Mittel nachdenkt über irgendeinen Belang, der verdirbt diesen Belang oder er wird selbst von seinem Handwerkszeug fortgeschleudert ins Abseits.
Jeder braucht Denkmittel. Auch der Nicht-Fachmann, der „normale Mensch“ (der eben nicht „normal“ ist, siehe oben). Denn er denkt ja sowieso. Unter anderem über all das oder vieles von dem, was ihm die Medien antragen. In der medialen Welt kann man sich vor den Herausforderungen, zu denken, nicht verstecken. Und jeder von uns ist in fast allem Nicht-Fachmann. Wir brauchen Denkmittel, gute Denkmittel, nicht solche, die bereits beschädigt, halb zerbrochen, korrumpiert aus dem „Diskurs“ zu uns herüberschwappen, auch nicht solche, die nur für Spezialaufgaben taugen, wie die in einem Labor oder einer Uhrenwerkstatt, die für Aufgaben verwendet werden, mit denen wir es nie zu tun bekommen werden, sondern solche, die dem jeweiligen Belang angemessen sind. Und wer soll diese Denkmittel herstellen, wenn nicht die Philosophen?
Aber sie tun es nicht. Sie verschliessen die Augen vor dem schreienden Defizit an allgemeinen Denkmitteln, sie schauen schlicht nicht hin. Sie widmen sich ihren hervorragenden Ziselierungen (woran sie hindern zu wollen ich der allerletzte wäre), ihren hochpräzisen, zuweilen auch hochkuriosen Feinarbeiten, aber das grobe Zeug? Das verachten sie. Zu unrecht! Die Daumenregeln, die globalen Denkfiguren, derer wir uns doch alle bedienen, um in der Wirklichkeit irgendwie zurechtzukommen, die Heuristiken, man lässt sie herumliegen, verrotten, man überlässt sie sich selbst. Dabei wäre nirgendwo sorgfältige, kompetente, professionelle Arbeit so wichtig wie hier. Bei den Dingen, derer sich alle täglich bedienen. Die Teil des geistigen Arsenals sind, die sich einnisten in der Imagination. Diese Instrumente müssen bestens gestaltet sein, und das kann nur der, der solchem Gestalten sein Leben widmet.
Und übrigens, hier geht es nicht um eine Popularisierung, nicht um das, was die Franzosen vulgarisation nennen. Wenn man popularisiert, dann vereinfacht man etwas Kompliziertes, und dabei verzerrt man es – und macht es in den meisten Fällen unbrauchbar. Eine gute Heuristik ist nicht die Vereinfachung einer guten Theorie. Eine gute Heuristik ist eine gute Heuristik. Sie muss als solche gemacht werden, und sie wird immer anders, vollkommen anders aussehen als eine Theorie, die einem verwandten, aber viel spezielleren Zwecke dient. Es kommt etwas unterschiedliches dabei heraus, je nach dem, ob ich als Denker ein Werkzeug designe, das von vornherein darauf angelegt ist, dass jeder es mit Gewinn benutzen kann, eine Daumenregel, eine Heuristik, ein Primitiv, oder ob ich versuche, einen komplizierten Spezialmechanismus, der nur in ganz spezifischen Situationen überhaupt bestimmungsgemäss funktionieren kann, für ein breiteres Einsatzgebiet zurechtzustutzen.
(Auch nichts gegen Popularisierungen, natürlich. Ja, es ist sinnvoll, dass auch Fachfremde über fachliche Entwicklungen informiert werden. Aber dadurch werden keine neuen Denkwerkzeuge geschaffen.)
II
24.09.
Es gibt natürlich nicht die eine Philosophie. Philosophie ist ein Bündel von Disziplinen, das zusammengehalten wird durch miteinander verwobene Herkünfte, miteinander verwandte Fragen, institutionelle Hüllstrukturen und einen Hang zu Spekulativen, den man teilt, auch wenn man ihn gern verschleiert und verbirgt, auch vor sich selbst. Von diesem Bündel rede ich, wenn ich von der Philosophie rede.
*
Philosophismen
Ich habe auch früher schon immer wieder versucht, einen Katalog zusammenstellen davon, was „die Philosophie“ meiner Ansicht nach leisten sollte (was Philosophie soll). Die Elemente in diesem Katalog sind äusserst heterogen. Zum Beispiel hatte ich als zugehörig zum philosophischen Bündel notiert:
– neue Ansätze finden, auch und gerade spekulativer Art. Dinge anders denken, als sie gemeinhin gedacht werden. Neue Ansätze haben ihren Wert in sich, auch wenn sie nicht zu regelrechten Theorien ausgearbeitet werden oder dies nicht werden können. Im Gegenteil: Die Über-Ausarbeitung ist häufig ein Fehler. Ein Ansatz wird, um ihn zu legitimieren, abzustützen, zu „beweisen“ oder auch einfach, um fachlichen Ansprüchen zu genügen, so detailliert durchdacht, so pedantisch an die Philosophiegeschichte angeknüpft, so penibel durchargumentiert, dass er geradezu zergrübelt wird und all seinen Impact verliert. Der eigentlich gute Gedanke verschwindet hinter dem Aufwand, der zu seiner Rechtfertigung betrieben wird. Jüngstes eigenes Lektürebeispiel: Vogel, Medien der Vernunft, aber oft auch Charles Taylor.
– Metareflexion praktizieren (siehe oben), unterschiedlichste Themen und Belange integrieren, sie zusammenschauen (Synopse), besser: zusammenlauschen. Ich komme immer wieder darauf zurück, der Punkt scheint noch lange nicht ausgeschöpft zu sein. Philosophie bezieht sich derzeit zu 95% vor allem auf andere Philosophie, das ist schlecht! Philosophisches Denken wird dann fruchtbar, wenn es sich von aussen nährt: aus Wissenschaften (und zwar sowohl Natur- wie Geistes- oder Sozialwissenschaften, so unterschiedlich die ihrem Charakter nach sein mögen), aus Künsten und Literatur, aus dem Alltag und der konkreten Erfahrung, aus dem Medialen. Philosophie darf keine Verstoffwechselung ihrer selbst sein! Sie stellt Register bereit, in denen das Nachdenken über andere Disziplinen (und konkrete Phänomene) möglich ist, in denen sich aber auch Bezüge zwischen anderen Disziplinen (und konkreten Phänomenen) manifestieren können, und diese Register müssen genutzt werden, wenn Philosophie fruchtbar sein soll und wenn sie dem Menschen, der sich in der Welt orientieren will, nützlich sein soll!
– Sensibilisieren. Das ist eine stille, sanfte, zurückhaltende Funktion von Philosophie. Ich denke an Texte – und auch an Praktiken, Handlungen, „Interventionen“ –, denen es gelingt, Menschen aufmerksam zu machen auf etwas oder aufmerksam für etwas, dem sie vorher keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Das können soziale Fragen sein (als Beispiel: die Diskussion um geschlechtergerechte Sprache, so ermüdend und oft irreführend sie ist), aber auch Fragen (um ein ganz anderes Beispiel zu wählen) der Metaphysik, des Negativen, des „Transzendenten“. Sensibilisieren kann Philosophie vor allem für das Feine, das Leise, das, was sonst im Getöse der Aktualität und des Positiven untergeht – daher denke ich mir auch die Sensibilisierung akustisch, als eine Sensibilisierung für das Lauschen, eine Verfeinerung des Gehörs. Diese Aufgabe des Sensibilisierens teilt sich die Philosophie mit der Literatur, aber sie geht sie auf eine andere Weise an. Beim philosophischen Sensibilisieren spielt das Staunen eine grosse Rolle. Vielleicht kann man überhaupt sagen, dass das philosophische Sensibilisieren (jedenfalls das „metaphysisch-philosophische“) in einem Offenhalten des Staunens besteht. Das Staunen will sich ja immer wieder schliessen, wenn man es sich selbst überlässt, jedenfalls, solange sich der Mensch im Getriebe seiner Geschäftigkeiten befindet. Es muss dann aktiv wieder geöffnet werden, und diese Aktivität geht von denen aus, die sich das Staunen zur Aufgabe machen, von Philosophen oder von einem bestimmten Schlag von Philosophen.
– Korrigieren, Kritisieren. Mit diesen Begriffen habe ich aus allem von dieser Liste hier die grössten Probleme (zu „Kritik“ siehe gleich unten), weil sie sich ein wenig verselbständigt haben und weil diese Philosophismen (auch siehe unten) zu einem querulantisches Nörgeln oder negativen Rosinenpicken (bug picking) degenerieren können. Aber „Kritik“ gehört ohne Zweifel zu den Aufgaben der Philosophie, nicht nur im Kantschen, sondern auch im alltagssprachlichen (oder Frankfurter) Sinne.
Ich begebe mich auf dünnes Eis, aber ich habe neulich mal neben den Begriffen „Kritik“ und „Korrektur“ den Begriff „Weisheit“ hinzunotiert (also ihn neben diese Begriffe geschrieben). Kritisieren tut man ja nicht „einfach so“, sondern aus einer Position heraus, von Voraussetzungen ausgehend (man denke zum Beispiel an die Kritik der Aufklärung von Adorno, Horkheimer einerseits und von Jünger, Heidegger andererseits). Und mir sind die Voraussetzungen, von denen aus philosophische Kritik geübt wird, oft zu eng, zu einseitig (abgesehen davon, dass sie als Voraussetzungen nicht transparent gemacht werden).
Ausserdem macht es mich misstrauisch, wenn Kritik allzu apodiktisch, allzu wissend vorgebracht wird, wenn sie glaubt, den kritischen Stein der Weisen gefunden zu haben. Wer meint, den Stein der Weisen in der Tasche zu haben, der ist ja gerade nicht weise. Weisheit hat zu tun mit Bescheidenheit, mit Akzeptanz von Ambivalenz, mit einem Zurücknehmen von sich selbst und seinen Überzeugungen.
Von daher denke ich mir, oder dachte mir neulich, das philosophische Kritisieren als ein Kritisieren aus Weisheit, was kein auftrumpfendes oder besserwisserisches Kritisieren sein kann, oder zumindest aus einer auf Weisheit zielenden Haltung heraus. Und viel lieber als der Begriff „Kritik“ ist mir sowieso der Begriff „Skepsis“, aber darin kommen auch meine persönlichen philosophischen Vorlieben zum Ausdruck (wie man philosophiert, ist ja in vielem eine Geschmacks- und auch Temperamentssache).
– Praktizieren, Exerzieren. Philosophie ist nicht zwangsläufig ein Text, noch nicht einmal zwangsläufig eine Aussage. Philosophie kann sich zum Beispiel auch als taktvolles Verhalten äussern. Oder als Schweigen im richtigen Moment. Oder als Helfen im richtigen Moment. Oder als das Beginnen einer Aktivität, eines Projekts, von dem man hofft oder erwarten kann, dass es einen „philosophischen“ Effekt hat. Und damit meine ich einen Effekt, hinter dem eine Reflexion steht, die selbst wiederum in den Katalog des Philosophischen hineingehört. Also nicht jedes Schweigen ist philosophisch, nicht jedes Helfen und auch nicht jedes taktvoll-Sein. Sondern nur dann sind sie es, wenn man aus philosophischen Gründen so handelt, wobei diese Gründe nicht explizit sein müssen.
Vielleicht klingt das alles wie ein Rekurs auf einen philosophischen „Ethos“, und das ist vielleicht auch nicht ganz falsch, aber ich denke noch ein wenig an etwas anderes. Daran, dass das Ergebnis der philosophischen Reflexion nicht ein Wort sein muss, sondern auch eine Tat sein kann. Aber jetzt beginnt es sich im Kreis zu drehen – man müsste das genauer machen.
All das sind Strategien der Philosophie (der Philosophie-en), „Strategie“ dabei nicht im Sinne von Kalkül und Berechnung, sondern in dem, dass es Vorgehensweisen, Methoden sind, die je in verschiedene Richtungen und zu verschiedenen Zielen führen, die aber alle philosophisch sind. Ich hatte das neulich mal Philosophismen genannt, und ich glaube, das ist kein schlechter Ausdruck. Es gibt Philosopheme, das sind philosophische Denkfiguren, aber es gibt auch Philosophismen, nämlich philosophische Methoden oder Vorgehensweisen. Und „Philosophie“ ist dann das Bündel von Disziplinen (Aktivitäten, Bemühungen, „Befassungen mit ...“, „Traktanzen“), die verschiedenen Philosophismen verpflichtet sind oder sie praktizieren.
Natürlich ist mein Katalog nicht vollständig. Sofort fällt mir bei den „Praktiken“ noch der Dialog ein, und zwar nicht der Fachdialog (Fachdiskurs, Debatte etc.), sondern der Alltagsdialog. Gerade vor ein paar Tagen habe ich hier mit meinem Nachbarn im Arbeitsgebäude (H., von unten) so einen philosophischen Alltagsdialog geführt. Mit etwas Glück kann man es auch manchmal auf facebook oder in anderen sozialen Medien zu solchen Dialogen kommen, aber der reale Dialog ist doch noch etwas anderes als der virtuelle, und er ist insofern philosophischer, als er auch mehr unterschiedliche Philosophismen integrieren kann, etwa auch die praktischen (das Schweigen, das Zögern, das provisorische Sprechen und so weiter).
Mir scheint, wir unterschätzen diese Dialoge massiv. Ich lerne nicht nur aus ihnen fast immer sehr viel – wie andere Leute denken, wie diejenigen ausserhalb der intellektuellen Sphäre die Aktualität beurteilen usw. – ich habe auch das Gefühl, dass man in solchen Situationen sein eigenes, langfristig und kontinuierlich praktiziertes Reflektieren viel unmittelbarer nutzbar machen kann als durchs Schreiben langer Aufsätzen, dass man als Philosoph tatsächlich überhaupt einmal von Nutzen ist. Denn man kann in diesen Gesprächen dazu beitragen, dass sie Wendungen vollziehen, die sie ohne bewusstes Philosophieren nicht vollziehen würden.
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Plus, was hinzukommen müsste in einem solchen Bündel oder einer solchen „Systematik“ (und der Plusse ist hier vermutlich kein Ende), dann eben doch wieder vieles von dem, was in den Fakultäten tatsächlich betrieben wird: die Bearbeitung der philosophischen Detailprobleme. Ich bin auf Distanz dazu, ich glaube, die akademische Philosophie versteht sich viel zu eng, verspielt viel ihrer möglichen Relevanz und auch ihrer möglichen Faszination, ich bin damals aus ihr geflohen, aber ich profitiere ja auch dennoch von ihr täglich, ich verfolge, rezipiere, übernehme Denkfiguren, bilde mich – mein Verhältnis zur akademischen Philosophie ist extrem ambivalent.
Doppelbett
Mal heftig zugespitzt: Die akademische Philosophie steckt in einem doppelten Prokrustesbett. Dem der Kritik einerseits, dem der Korrektheit (oder des Begründens? oder der Deduktion? oder der Wissenschaftlichkeit?) andererseits.
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Philosophia ancilla theologiae – die Philosophie sei die Magd der Theologie, hiess es im Mittelalter. Und jetzt? Die Magd der Wissenschaft? Warum? Gibt es auch nur einen stichhaltigen Grund, warum das so sein sollte?
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Es gibt heute genau zwei Motivationen – legitime Motivationen, offiziell legitime Motivationen –, Philosophie zu machen. Die eine ist, zu kritisieren, die andere, zu forschen. Was für eine trauriges, dröges Doppel! Was für ein Verzicht auf Produktivität, auf Fruchtbarkeit, auf Fortschritt, Perspektive, Begeisterung, Hoffnung!
(Muss ich jetzt ausführen, was mit „Kritik“ gemeint ist? Und muss ich ausführen, was mit Korrektheit, Begründen, Deduktion, Wissenschaftlichkeit gemeint ist? Zum „Deduktionismus“ hatte ich neulich schon einmal im Zusammenhang mit Charles Taylor etwas notiert.)
[Es geht weiter mit Gnostiken (oder Ponimanzen?) und der mediale Mensch]
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