März

Interfluenz und situierter Mensch


11.3.

(Skizze über Zusammenhänge)

Dass alles auf der Welt zusammenhängt und sich gegenseitig beeinflusst, zumindest hier auf diesem Planeten, ist inzwischen zu einer Art Gemeinplatz geworden. Geschichte und Wirtschaft, Bakterien und Klima, Armut und Bevölkerungswachstum, aber auch biologische Nische und biologische Art, Experiment und Beobachtung und sogar Raum und Zeit – nichts ist unverbunden miteinander.

Interdependenz ergänzt (ersetzt?) die Hierarchie, viele moderne Netzwerk- und Patchwork-Ontologien sprechen den Überschneidungen zwischen Prozessen und Objekten nicht weniger Sein zu als den isolierten Phänomenen selbst. Das betrifft allerdings vor allem "die Welt da draussen": Auf "die Welt in unseren Köpfen" wird das Modell der allseitigen Verknüpfung und Beeinflussung kaum jemals angewandt. Dabei läge es für das Geistige oder Zerebrale besonders nahe: Bereits die Architektur des Hirns ist die eines Netzwerks, und Psychologie wie Selbstbeobachtung zeigen, in welchem Masse Gedanken von Emotionen beeinflusst werden, Theorien von Präferenzen, Pläne von Hoffnungen usw. Ein isoliertes Denken gibt es nicht – weder von der Gemeinschaft noch von sich selbst.

Aber während wir die Interdependenz der äusseren Phänomene hinnehmen oder sogar begrüssen, scheinen wir der gegenseitigen Beeinflussung der Prozesse des Denkens eher skeptisch oder ablehnend gegenüberzustehen. Einerseits mit gutem Grund: "Wishful thinking" verzerrt die Realität; verabsolutierte Ideen trüben den Blick auf die Tatsachen – überall, wo Unterschiedenes einander zu nahe kommt, lauern Verzerrung und bias. Aber ist das Grund genug, das Ideal eines kompartimentierten Denkens zu kultivieren, in dem alles sauber voneinander getrennt gehalten wird und Physik nicht auf Musik einwirken soll, Dichtung nicht auf Theorie, Politik-Auffassungen nicht auf Wissenschafts-Deutung? Das ist doch sowieso eine Illusion.

Mag sein, es vertritt auch niemand ernsthaft einen derartigen strikten Separatismus der Sphären. Schon die neue Hinwendung zu persönlichen Identitäten lässt sich ja auch als eine Anerkenntnis von Interdependenz lesen – nämlich der Beeinflussung von Ansichten und Aussagen durch Herkunft und Individualität.
Dennoch, worauf ich hinauswill: Die zerebrale (mentale, psychische, kognitive) Interfluenz – Inter-Influenz, gegenseitige Beeinflussung – mag uns irgendwie suspekter sein als die Interdependenz in der "realen Aussenwelt", aber sie ist ein Sachverhalt, den man nicht wegwünschen kann. Und wohl auch nicht sollte, denn damit würden wir uns selbst entkernen. "Kern" schreibe ich in Ermangelung eines besseren Wortes.

Man kann sie nicht wegwünschen, man muss sie aber auch nicht einfach hinnehmen, sondern es gilt, sie zu managen.

Jeder, bin ich überzeugt, ausnahmslos jeder Mensch unterliegt einer solchen gegenseitigen Beeinflussung seiner unterschiedlichsten Geistesinhalte und -Prozesse. Auf einer bestimmten Ebene ist alles im Kopf ein Mischmasch. Und diese Ebene ist nicht "irgendeine" (vielleicht die der nächtlichen delirierenden Träume), sondern es ist diejenige, die jeden einzelnen als individuelle geistige Persönlichkeit konstituiert. (Vielleicht die Ebene jener vagen Gedanken-Gefühle, die man mit dem Wort "Ahnungen" bezeichnen könnte.) Und wenn man nun so tut, als dürfte A mit X nichts zu tun haben und W mit B, weil sie sachlich streng getrennt zu halten sind, dann negiert man die Persönlichkeit, dann höhlt man sie aus (daher wohl der "Kern"). Dann wird der Mensch tatsächlich zur entselbsteten Funktion seiner Umstände. Und er wird letztlich sprachlos.

Wenn ich in dieser Art und Weise an die Interfluenz der Gedanken denke, also ohne sie ausmerzen oder, im Gegenteil, passiv hinnehmen zu wollen, wenn ich also also an eine "gemanagte Interfluenz" denke, eine, mit der man bewusst umgeht und um deren Gestaltung man sich bemüht, dann möchte ich ein Plaidoyer für ein neues, kritisches Generalistentum beginnen.

Der Generalist scheint mit dem Ende der Renaissance, sicher mit dem Anbruch der Moderne ausgestorben – es gibt schlicht keinen Platz mehr für ihn, weil es keine Anhöhe des Geistes mehr gibt, von der aus man sich der Illusion hingeben könnte, "alles" überblicken zu können. Andererseits kann ich mir keinen Menschen vorstellen, der nicht Generalist wäre. Jeder Einzelne ist ja in seiner Lebenswelt konfrontiert mit den unterschiedlichsten Themen, Disziplinen, Problemen, und er muss sich zu ihnen verhalten, ob er das wünscht oder nicht, und dies immer mehr so, je weiter die Medialisierung um sich greift. Ohne Generalistentum scheint es also genausowenig zu gehen wie mit ihm.

Und da kommt das Kritische ins Spiel. Oder man könnte auch sagen, ich möchte mich – da die Interfluenz des Gedanklichen sowieso stattfindet – für ein "aufgeklärtes" Generalistentum aussprechen, für eines, das weiss, dass es die Totale nicht gibt, dass aber auch nichts für sich allein existiert oder stattfindet, auch nicht (und gerade nicht) im Kopf. Eines, das die Dinge zwar zusammenbringt, aber nicht im neutralen Nirgendwo, sondern am konkreten, individuellen Ort.
In einem solchen kritisch-generalistischen Entwurf wird der Denker gewissermassen zur Sonde, Englisch zur "probe", die in eine monströs heterogene, unbändig turbulente Welt an konkreter Stelle eingebracht ist und versucht, die Einflussnahmen des Inkommensurablen für sich zueinander in Beziehung zu setzen. Nicht unbedingt durch explizites Aussagen, aber doch so, dass sie durch seine Äusserungen hindurchscheinen, er sich ihrer bewusst ist und sie transparent macht für andere. Solch ein Probe-Denker wäre dann sozusagen "repräsentativ _als Individuum_" – repräsentativ darin, nicht repräsentativ sein zu können und dennoch lokale Vollständigkeit anzustreben.

Aber vielleicht braucht man solche verwickelten Paradoxa auch nicht. Vielleicht kann man es auch so sagen: Der generalistische Impetus kann sich in einer dehierarchisierten, epistemisch wie ontologisch explodierten Welt nicht mehr als Bestreben des Allwissens entfalten, nicht mehr faustisch, wohl aber als eine bewusste Bewältigung und Bearbeitung aller lokalen kognitiven Vektoren und Vektor-Kreuzungen. Er synthetisiert nicht das Ganze, sondern er balanciert das Inkommensurable.

Und eine solche transparente, bewusste, kritische, grossenteils implizite Balancierung aller interfluierenden kognitiven (geistigen, zerebralen, mentalen ...) Prozesse ist nichts, das irgendwie "besonders" wäre oder gar "neu". Es ist die normalste Sache der Welt – das, was sowieso jeder tut. Es setzt – ohne der Illusion der Autonomie zu verfallen – die eigene, in sich innerlich kreuz-und quer-beeinflusste Persönlichkeit in die Umstände hinein, die sie tragen und bedingen, und zugleich diesen Umständen entgegen, die damit drohen, sie sich als Funktion unterzuordnen.

Situierung, in diesem Sinne, setzt das Umgehen mit Interfluenz voraus. Und Situierung ist ihrerseits wieder die Voraussetzung von Artikulation: Der Mensch als Funktion wird sprachlos, der Mensch als Träumer der Totale bringt leere Worte hervor. Reden, hören, Eigenes vertreten, Fremdes anerkennen, in Dialog treten kann nur der situierte Mensch.

(Ich lese das und denke: Ja, in diese Richtung sollte es gehen, der Gedanke selbst ist sowieso beharrlich, aber es braucht Auffaltung.)

„subjektive Objektivität“? – nicht technisch sauber, aber ganz illustrativ.


︎︎︎