Juni
Autohynonomien
Übrigens, wisst ihr, was Autohyponomien sind? Selbstunterbegrifflichkeiten. Ein dickes sprachliches und logisches Problem.
Zum Beispiel die Länge. Wie lang ist ein Bleistiftstummel? – He, ein Stummel ist nicht lang, der ist kurz! – Eben. Und trotzdem fragen wir nach der Länge. Das Verhältnis von Überbegriff (Hyperonym) und Unterbegriffen (Hyponyme) ist verschachtelt, und zwar derart, dass der Überbegriff einer seiner eigenen Unterbegriffe ist: Länge: lang <-> kurz. Auto-Hypo-Nomie.
Sowas kommt häufig vor: Länge, Alter, Grösse, Wärme ... immer ist der Oberbegriff auch einer der opponierenden Unterbegriffe. In anderen Fällen ist das nicht so: Rind: Kuh <-> Stier. Kind: Mädchen <-> Junge. Und da sind wir auch schon bei den dicken Problemen.
Denn bei verschiedengeschlechtlichen Unterbegriffen tauchen echte Hyponomien (solche, die sich nicht selbst enthalten) nur dort auf, wo der Oberbegriff im Neutrum steht. Das macht die sprachlichen Rollenbezeichnungen (≈ nomina agentis) so tricky. Im „klassischen“ Deutsch sind Rollenbezeichnungen fast immer autohyponym. Tischler: Tischler <-> Tischlerin. Kunde: Kunde <-> Kundin. Aber auch, genaugenommen: Witwe: Witwer <-> Witwe.
In all diesen Fällen hat der Oberbegriff eine der Genus-Optionen der beiden Unterbegriffe, und zwar jeweils die nicht-movierte (nicht abgeleitete) Option, also die „Grundform“. Bei „Tischler“ oder „Arzt“ kennt man das (und sträubt sich begreiflicherweise inzwischen häufig dagegen). Besonders deutlich wird es bei den etwas kuriosen Fällen, wie bei „Witwe“. Müsste das nicht der „Tischler“-Konstellation entsprechen, nur andersherum?
Nicht ganz. Zwar kann „Witwer“ als movierte Form keine Rollenbezeichnung sein, „Witwe“ aber (da empirisch ausschliesslich als Frau festgelegt) klassischerweise auch nicht – man würde ausweichen in „verwitwete Person“. Aber der Fall ist interessant, denn es könnte sich hier um einen Verstehens-Habitus handeln, der sich „umhören“ liesse. Denn warum sollte eigentlich „eine Witwe“ kein Mann sein, wenn doch auch „eine Führungskraft“ ein Mann sein kann? Hier hat das Rollengenus vermutlich noch einen Spielraum, der bislang nicht ausgeschöpft wird. Sicher, das ändert nichts daran, dass wir eine movierte (abgeleitete) Form nicht als Rollenbezeichnung akzeptieren würden: Eine Frau kann schlecht „Witwer“ sein und ein Mann schlecht „Professorin“. Dennoch verdient die weiblich dominierte, nicht movierte Autohyponomie („Witwe“, „Führungskraft“) mehr Aufmerksamkeit, als sie derzeit bekommt.
Bei den allermeisten Rollen-Autohyponmien ist aber der Oberbegriff maskulin, und daher sind sie für die Gendersprache ein rotes Tuch. Die Konstellation Tischler: Tischler <-> Tischlerin scheint, bei entsprechend geschärfter Geschlechtssensibilität, als geradezu hochdreister maskulinistischer Affront. Dahingegen wird Länge: lang <-> kurz üblicherweise nicht als eine Diskriminierung des Kurzen wahrgenommen. (Man beachte aber, der Fall Alter: alt <-> jung ist womöglich ageistisch!). Oder, wieder nach dem Tischler-Modell: Student: Student <-> Studentin. Hört man das geschlechtersensibel, so zeigt sich in der Tat eine krasse geschlechtliche Disbalance.
Die Gendersprache (ich benutze das Wort neutral, nicht abschätzig) sucht aus dieser Zwangslage verschiedenste Auswege, etwa lexikalische („Lehrpersonen“) oder grammatikalische („Studierende“). Und in der Tat, solange wir diese Ausdrücke im Plural verwenden, scheinen sie keine Autohyponomie mit sich zu bringen. Etwa der Fall: Studierende: Studenten <-> Studentinnen. Der Oberbegriff taucht in den opponierenden Unterbegriffen nicht auf.
Aber das klappt so richtig eben auch nur im Plural. Denn im Singular ergibt sich wieder: Studierender: Student <-> Studentin. Die Rollenbezeichnung "ein StudierendER" ist wieder "unneutral", sie ist wieder männlich. Bei "Lehrperson" kann sie dann weiblich sein, aber von einer grammatisch weiblichen "LeRNperson"(anstatt „Student“) mag man dann doch nicht reden. So oder so steckt man wieder in der Autohyponomie, und oben steht ungerechterweise immer nur eine der Genus-Optionen.
Aber ist nicht durch das Gendern trotzdem etwas gewonnen? „Ein Studierender“ scheint doch irgendwie neutraler als „ein Student“. Dafür gibt es einen einfachen Grund: das Respektsignal. Denn dadurch, dass ich die Gerundivform verwende, das Partizip, signalisiere ich, dass ich eben nicht die klassische maskulinistische Form verwenden will. Ich mache metasprachlich eine neue Opposition auf. Auch wenn die grammatisch gesehen gar keine ist. Denn sowohl „Student“ wie „Studierender“ sind grammatisch maskulin. Aber „Studierender“ trägt ein neues metasprachliches, illokutives Merkmal – nennen wir es: [Respekt]. Dieses Merkmal trug „Student“ nicht.
Nun gut. Was bringt das? Ist das wirklich geschlechtergerechter? Oder ist das nicht eher ein Etikettenschwindel? Kann man womöglich so sehen. Denn das Merkmal [Respekt] ist schliesslich nicht kongruent mit dem Merkmal [Neutralität], um das es ja eigentlich (oder angeblich?) geht. Das merkt man zum Beispiel daran, dass Terroristen nicht gegendert werden und auch nicht in „Terrorisierende“ umgeformt. Sie verdienen eben keinen Respekt, auch dann nicht, wenn sie weiblich sind.
Andererseits ist natürlich am sprachlichen Respekt, gerade wenn es ein gleichgewichteter Geschlechter-Respekt ist, nichts Schlechtes. Insofern ist „Etikettenschwindel“ dann doch wieder zu hart. Man muss halt nur wissen, was man tut und was für Konsequenzen das hat. Die Vermischung von [Neutralität] und [Respekt] geht auf Kosten der [Neutralität]. Und, möglicherweise, auf Kosten von Sprachökonomie und von Flow und Rhythmus. Aber die Sprache ist sowieso voll von trade-offs. Kann man also machen. Frage ist, ob man das will – und welche Alternativen es gäbe.
Und die Moral von der Geschicht? Keine der Strategien hat wirklich Erfolg. Nicht die „klassische“ (ich habe extra nicht von „generischem Maskulinum“ geredet, denn dieser Begriff schmeisst zu viele Funktionalitäten in einen Topf), nicht die gendersprachliche. Immer lauert hinter der nächsten Ecke bereits die Autohyponomie, und sie macht (jedenfalls in ihrer „semantischen“ Lesart) die angestrebte Neutralität zunichte.
Deshalb versucht die Gendersprache auch, wo es geht die Rollenbezeichnung überhaupt zu vermeiden und statt dessen den Plural zu setzen: „die Lehrenden“, „die Studierenden“ usw. Aber auch diese Vermeidungsstrategie, so sinnig sie zunächst scheint, ist nicht nachhaltig. Denn was machen wir, wenn ein Student die Strasse überquert? Oder ein Radfahrender? Oder ein Kind? – Natürlich hätte das in Anführungsstriche gehört: „Wenn ein X die Strasse überquert“ – ein Student / ein Studierender; ein Radfahrer / ein Rad Fahrender usw. Man schreibt das, und zack ist die maskulinistische Autohyponomie wieder da. Einmal mit Respektsignal, einmal ohne. Aber wie wichtig ist dieses Signal? Ist es wichtiger, als sich nicht am "Rad Fahrenden" zu verschlucken, der das grammatische Problem auch nicht löst? Das löst sich gänzlich nur beim Kind. Doch das hilft bei unseren erwachsenen Problemen auch nicht weiter.
Man kommt ohne die Rollenbezeichnungen schlicht nicht aus. Allein schon juristisch nicht. Die Situation ist eine andere, wenn EIN Student / Studierender / Radfahrer / Kind die Strasse überquert, als wenn dies VIELE Studierende / Radfahrende / Kinder tun. Man braucht diesen Personen-Platzhalter schon um der Logik willen. Und man braucht ihn vor allem auch in der literarischen Sprache – ich wollte da schon lange mal Beispiele zusammensuchen.
Was tun? Wenn man das Ziel der sprachlichen Geschlechtergerechtigkeit ernst nimmt (und ich finde, das sollte man tun), dann muss man die Autohyponomie entweder loswerden oder sie irgendwie neutralisieren. Beides nicht so einfach. Und beides nicht mehr Thema für diesen Post. (Aber vielleicht für einen nächsten – mein Nachbar Ebbi hat nämlich etwas ganz interessantes gesagt neulich ...)
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